Vom Nahen Osten nach Europa

Die Ausbreitung des Islamischen Staates in der Darstellung Wilfried Buchtas

Von Julia GesthuysenRSS-Newsfeed neuer Artikel von Julia Gesthuysen und Christian FrankeRSS-Newsfeed neuer Artikel von Christian Franke

Besprochene Bücher / Literaturhinweise

Der Islamische Staat vertritt nicht mehrheitlich Ziel und Gesinnung aller muslimischen Mitbürger – ein Fazit, zu dem jeder interessierte Leser nach der Lektüre von Buchtas historisch-politischer Überblicksdarstellung gelangen sollte. Für den neutralen Betrachter bleibt der IS trotz der derzeitigen Medienpräsenz ein großes Geheimnis, denn das Konstrukt des Islamischen Staates scheint kompliziert, verschlungen und schwer fassbar.

Wilfried Buchtas Verdienst besteht nun darin, ein sensibles und emotional aufgeladenes Thema für ein interessiertes Lesepublikum sachlich aufzubereiten. Indem er versucht, die Strukturen des Islamischen Staates transparent zu machen und auf verständliche Weise zu erklären, liefert er einer breiten Leserschaft Material und Argumente, Vorurteilen und pauschalisierenden Erklärungsversuchen entgegen zu treten. Der promovierte Islamwissenschaftler arbeitete von 2005 bis 2011 als politischer Analyst in Bagdad für die UNO-Mission und vermag es, trotz persönlicher Nähe zur Thematik, dem Leser mittels einer objektiven Darstellungsweise einen Gegenpol zu den herkömmlichen medialen Berichten zu bieten. An der Zielgruppe orientiert und auf eine ausführliche Einleitung verzichtend, geht Buchta in neun Kapiteln auf die Ursachen ein, die dazu führten, dass der Islamische Staat zur stärksten Terrormiliz der Gegenwart werden und damit den Terror von Al Quaida noch übertreffen konnte. Ferner erklärt er, in welcher Hinsicht die westliche Welt an dem Aufstieg der Terrormiliz beteiligt war.

Mit einer Darstellung zur aktuellen politischen Lage im Nahen Osten führt Buchta in die komplexe Thematik ein. Hierbei bezeichnet er den erfolgreichen Angriff des IS auf Mossul im Juni 2014 als Wendepunkt der blutigen Konflikte. Der Erfolg der Terrormiliz sei sowohl auf den Staatszerfall im Irak als auch auf den Konflikt innerhalb der unterschiedlichen Konfessionsausrichtungen im Islam zurückzuführen, weshalb sich Buchta im folgenden Kapitel mit der Entstehung des Islam im 7. Jahrhundert auseinander setzt, um die bis heute andauernde Verfeindung zwischen den Sunniten und Schiiten in ihrer Bedeutung für den Konflikt zu erklären. Anschließend beschreibt er chronologisch und anschaulich die einzelnen Faktoren, die zum Erstarken des Islamischen Staats führten. Hierzu zählt er insbesondere den Zerfall des Osmanischen Reiches, den Aufstieg und Fall Saddam Husseins sowie die daraus resultierende neue Ordnung im Irak, die mit der Coalition Provisional Authority (CPA) ins Leben gerufen wurde. Die CPA kontrollierte von da an die staatlichen Strukturen und war für den finanziellen Haushalt im Irak zuständig. Ein rasanter Anstieg der Arbeitslosigkeit – zweifellos ein guter Nährboden für rechtsextreme Gruppierungen – war die Folge. Obwohl das Ziel der US-Administration in einer Zusammenführung von Sunniten und Schiiten bestand, trugen – so der Autor – sowohl Bush als auch Obama zur Annäherung beider Konfessionen wenig bei. Durch die Ernennung Malikis zum neuen Ministerpräsidenten des Irak erhofften sich die USA eine gleichberechtigte Beteiligung von Schiiten und Sunniten an der politischen Gestaltung des Landes. Diese Hoffnung war jedoch trügerisch, da auch Maliki eine äußerst homogene Regierungsgruppe um sich versammelte. Der schwache Rückhalt Malikis innerhalb der irakischen Bevölkerung und die offensichtliche Benachteiligung der sunnitischen/schiitischen Interessen führten dann zu erneuten Unruhen und letztendlich zum Bürgerkrieg. Hinzu kam die Kleptokratie und Korruption im Irak, die den IS ebenfalls – politisch wie militärisch – reüssieren ließ. Im Gegensatz zu anderen Terrormilizen gelang es dem IS, staatliche Strukturen in Teilen des Iraks zu errichten, wie ein Staat zu fungieren und sich mit der Besetzung irakischer Ölfelder wirtschaftlich zu stabilisieren. Im weiteren Verlauf der Darstellung reflektiert Buchta seine Erkenntnisse im Hinblick auf die heutige Situation. Er wirft einen Blick auf die Zukunft des IS und die Optionen, die den westlichen Staaten noch blieben, der Situation wieder Herr zu werden.

Buchtas recht politiklastiger Überblick stützt sich größtenteils auf internationale Literatur. Zur Veranschaulichung der Thematik bedient er sich einer geringen, dafür aber aussagekräftigen Anzahl von Abbildungen und Skizzen, die dem Leser an den entsprechenden Stellen einen komplizierten Sachverhalt näher bringen beziehungsweise bereits gemachte Aussagen prägnant zusammenfassen. Darüber hinaus verwendet er eine Vielzahl arabischer Vokabeln mit beigefügter deutscher Übersetzung, wodurch der Leserschaft die Möglichkeit geboten wird, ihr Vokabular fachspezifisch zu erweitern. Jedes Kapitel ist in mehrere Unterkapitel unterteilt – dies und seine verständliche Sprache schaffen einen lebendigen und zugleich differenzierten Einblick in die komplexen Vorgänge hinter den ‚Kulissen‘ der medialen Vielstimmigkeit, was wiederum Anreiz zu einer intensiveren Auseinandersetzung mit dem Thema bietet.

Ein Beitrag aus der Redaktion Gegenwartskulturen der Universität Duisburg-Essen

Titelbild

Wilfried Buchta: Terror vor Europas Toren. Der Islamische Staat, Iraks Zerfall und Amerikas Ohnmacht.
Campus Verlag, Frankfurt a. M.
413 Seiten, 0,00 EUR.
ISBN-10: 3593502909
ISBN-13: 9783593502908

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