Aus dem Leben des besten Auktionators der Welt

Eine dentale Biografie von Valeria Luiselli

Von Anja BeisiegelRSS-Newsfeed neuer Artikel von Anja Beisiegel

Besprochene Bücher / Literaturhinweise

Hässlichkeit stärkt den Charakter. Der Ich-Erzähler Gustavo Sánchez Sánchez in Valeria Luisellis zweitem Roman Die Geschichte meiner Zähne hat die besten Voraussetzungen, um seinen Charakter zu ertüchtigen: Seine Zähne sind „breit wie Paddel“ und zeigen in alle Himmelsrichtungen. Man nennt ihn – etwas verstörend – „Carretera“ (auf Deutsch „Landstraße“), was er als liebevollen Spitznamen zu seinen Gunsten verbucht.

Aus seiner angeborenen Hässlichkeit und seiner prekären sozialen Herkunft (ein einfaches Viertel in der Millionenstadt Ecatepec, Mexiko) macht Carretera das Beste. Er arbeitet 18 Jahre lang als Wachmann in einer Saftfabrik. Eines Tages jedoch wendet die Panikattacke eines Vorarbeiters aus der Pasteurisation Carreteras Schicksal: Sein beherzter Einsatz beschert ihm eine Beförderung, mit eigenem Stuhl und eigenem Schreibtisch.

Der so hässliche wie sympathische Protagonist macht seinem Beinamen alle Ehre; Carretera beginnt zu reisen: „Aus mir wurde ein Mann von Welt.“ Er besucht ein buntes Durcheinander von Kursen wie NLP oder Sexuelle Diversität und lernt bei einem Tanz-Impro-Workshop Flaca kennen (nicht hübsch, nicht hässlich). Er heiratet sie und notiert dazu lakonisch: „Undsoweiter, undsoweiter, und dann war sie schwanger.“ Dem „Undsoweiter“ entspringt ein Sohn namens Ratzinger. Ebenfalls nicht hübsch, nicht hässlich.

Carretera strebt nach höherem, nicht zuletzt, um Geld für eine umfassende Zahnsanierung zu verdienen und sich von Flaca „absetzen zu können“. Er ergreift seine Chance, besucht Versteigerungs-Kurse bei einem japanischen Meister und tatsächlich: Nach einem Crash-Kurs in den Staaten beginnt sein beruflicher Aufstieg als Auktionator. Scheidung von Flaca, neue Ehe, neue Scheidung. Er treibt internationalen Handel mit Antiquitäten und Grundstücken und arbeitet mit den renommiertesten Auktionshäusern zusammen. Schließlich baut er sich ein Haus sowie eine Lagerhalle und plant die Eröffnung eines eigenen großen Auktionshauses.

Bei einer Versteigerung in Miami ergattert Carretera das Gebiss Marilyn Monroes und lässt sich deren Zähne in Mexico-City implantieren. Carreteras Glück ist „unvergleichlich“. Er rechnet fest damit, dass irgendwann irgendwer seine „Dentale Autobiografie“ schreiben wird. „Ende der Geschichte“ und Ende des ersten von sechs Büchern, aus denen sich der Roman zusammensetzt.

In Buch II (Parabolisches) nimmt die Geschichte Fahrt auf: Bei einer skurrilen Versteigerung von Gebissen erster Provenienz kommen die Zähne prominenter Vertreter der abendländischen Geistesgeschichte unter den Hammer, darunter Platon, Augustinus, Petrarca, Rousseau, Virginia Woolf. Carretera verkauft zu den Dental-Reliquien Parabeln (oder besser: zu der Parabel die passende Reliquie). Nach dem zehnten Gebiss (dem Backenzahn Enrique Vila-Matas) gerät er in Rage und kommt auf den „Höhepunkt rauschhafter Benommenheit“. „Ich bin der unvergleichliche Carretera. Und ich bin meine Zähne“. Keine Parabolik. Er ruft Marylins Zähne auf. Den Zuschlag erhält Ratzinger Sánchez Tostado. Für 100 Pesos kauft der Sohn den Vater.

Auf das Parabolische folgt – unvermeidlich – das Hyperbolische (Buch III): Nach einem gespenstischen Aufenthalt in einem ebenso gespenstischen Raum findet sich Carretera ohne Marylins Zähne auf der Straße wieder. Der zahnlose Alte trifft in einem Lokal auf den mittellosen jungen Schriftsteller Beto. Bei Nescafé und Glückskeksen werden sich die beiden über einen Schreibauftrag handelseinig.

Doch schon im nächsten Kapitel holt Luiselli den Leser auf den harten Boden der innerfiktionalen Realität zurück: Der authentische Ich-Erzähler Gustavo Sánchez Sánchez, genannt Carrretera, implodiert mit einem radikalen Wechsel von Erzählstandpunkt und Perspektive. Beto outet sich – nach Carreteras Tod – als Ghostwriter der „dentalen Autobiografie des größten Helden unseres Viertels“. Mit Betos Bekenntnis kommt nicht allein der Leserglaube an das authentische Erzähler-Ich ins Schwanken. Stück für Stück demontiert Beto die Größe Carreteras, wovon am Ende nicht mehr als eine prekäre Existenz bleibt. Carreteras Immobilienbesitz entpuppt sich als kleines Grundstück mit „kaum bewohnbaren Haus“; das benachbarte Auktionshaus schrumpft auf eine „prekäre Hütte“. Der Held des Buches scheint unter dem „Diogenssyndrom“ gelitten zu haben, wie sein Autobiografiker Beto sorgfältig im Gesundheitszentrum von Ecatepec recherchiert. Der größte Auktionator aller Zeiten ist ein Messie.

Zu seinem Lebensende hin werden Carreteras Versteigerungen zunehmend allegorisch, die Gegenstände sind nicht länger die Achse, um die die „Auktion kreist“. Die Geschichte des Gegenstands und seiner Menschen wird immer wichtiger, der Gegenstand selbst gerät in den Hintergrund, ist physisch als Los oft gar nicht verfügbar. Nach seiner großen Versteigerung „Allegorisches zu den Personen und Orten meines Viertels“ stirbt Carretera an einem Herzschlag in einem Motel. Anwesend sind drei schöne Frauen und Marylins Gebiss in einem Wasserglas auf seinem Nachttisch.

Valeria Luiselli inszeniert Beto wie Carretera als Ich-Erzähler. Dabei lässt sie Beto dokumentarisch berichten: Er verweist akribisch auf Interviews und Gespräche, die er zu Recherchezwecken geführt habe. Adressangaben sowie ein Anhang mit Fotos der Schauplätze vermitteln die Faktizität des Erzählten. Je abstruser das Geschehen sich entfaltet, umso akribischer wird betont, dass sich tatsächlich alles so und nicht anders zugetragen habe.

Am Ende der wunderbaren Räuberpistole wiegt sich der Leser in der Sicherheit, dass er das Spiel durchschaut hat. Er weiß, dass die Handlung frei erfunden und die ewigwährende Vereinbarung zwischen Autorin und Leser wieder einmal erfüllt ist: Man hat sich gerne täuschen lassen.

In just diesem Lektüremoment holt Luiselli zu ihrem letzten Überraschungsangriff auf konventionelle Lesekonventionen aus: Sie fügt einen zweiseitigen Epilog an, aus dem hervorgeht, dass der Roman auf einem Kooperationsprojekt der Autorin mit Jumex, einer mexikanischen Saftfabrik und der Jumex-Galerie (einem Ausstellungshaus der Jumex-Stiftung), beides mit Standort Ecatepec, basiert: Luiselli entwarf Die Geschichte meiner Zähne als dialogischen Fortsetzungsroman für die Saftfabrik-Arbeiter. Die Arbeiter lasen aus den Romanfolgen, erzählten ihre Anekdoten und die Autorin baute diese Anekdoten in ihren Roman ein.

Man ahnt nun, weshalb Ratzinger ausgerechnet als Kurator einer Kunstgalerie tätig ist und Carretera  in einer albtraumartigen Video-Installation gefangen hält. Dies und viele weitere Details der Erzählung erschließen sich erst vom Ende her. Die Geschichte meiner Zähne ist Fiktion, basiert aber auf einem realen Setting. Doch ist nicht nur das real, sondern auch das Spannungsfeld zwischen Saft und Kunstwerk, Künstler und Realität. Die von Carretera gesammelten und versteigerten Objekte erhalten ihren Wert und ihre Bedeutung erst durch seine Interpretationen und Geschichten.

Wie auf Carreteras parabolischen und allegorischen Auktionen gibt es auch auf dem Kunstmarkt kaum einen Wert an sich. Der Wert muss dem Kunstwerk erst zugesprochen werden, der Diskurs bestimmt den Preis. Echtheit und Authentizität sind zweit- und drittrangig. Dies gilt nicht nur für den Kunstmarkt, sondern auch für Erzählhaltung und Lektüreverhalten. Valeria Luiselli beherrscht es meisterhaft, den Leser das Spannungsfeld von Kunst und Leben, Fiktion und Realität spüren zu lassen. Carreteras schillernde Versteigerungs-Objekte entziehen sich den Kategorien von Echtheit und Fälschung, der große Auktionator ist nicht einfach Lügner und Fälscher, er verkauft auch Wahrheit. Im erzählerischen Aufbau der Geschichte spiegelt sich das Spannungsfeld im immerwährenden Changieren: Das Berichten – innerfiktionaler – Wahrheit trifft auf die bloße Freude am Fabulieren. Das Spiel von Fiktion und Realität rieselt hinab bis in die kleinsten Details, bis zu den Eigennamen: Onkel James Sánchez Joyce, Onkel Marcel Sánchez-Proust, Sohn Ratzinger Sánchez und all die anderen: Valeria Luiselli „recycelt“ echte, große Namen für ihre Helden. Nichts scheint frei erfunden zu sein, aber auch nichts wirklich real.

Titelbild

Valeria Luiselli: Die Geschichte meiner Zähne.
Übersetzt aus dem Spanischen von Dagmar Ploetz.
Verlag Antje Kunstmann, München 2016.
192 Seiten, 16,00 EUR.
ISBN-13: 9783956140921

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