Symbiose von Text und Musik

Zu Bob Dylans „The Times They Are A-Changin’“

Von Matthias BergertRSS-Newsfeed neuer Artikel von Matthias Bergert

Bob Dylan – der Wandlungsfähige

Folk, Blues, Rock’n’Roll, Country, Gospelrock und sogar Mainstream-Pop – im Laufe seiner mehr als 50-jährigen Karriere deckte Bob Dylan eine äußerst breite Palette musikalischer Stilistiken ab. Trotz seiner Wandlungsfähigkeit war er jedoch nie ein Künstler, der sich aus kommerziellen Gründen irgendwelchen kurzlebigen Trends unterwarf – stattdessen trat er seinem Publikum zunehmend unnahbar entgegen und erwies sich in der Konzertsituation mit radikalen Neuarrangements als unberechenbarer Querdenker.

Dylans Bedeutung als „most important American rock’n’roller since Presley“ (Tim Riley) lässt sich nicht nur an über 30 Hitsingles, sondern auch an einer schier unüberschaubaren Zahl von Interpreten ablesen, die seine Songs über die Jahrzehnte hinweg gecovert haben. Solch unterschiedliche Künstler wie Jimi Hendrix, die Byrds, Guns N’ Roses und sogar Rage Against The Machine übernahmen seine Lieder und unterstrichen damit deren generationenübergreifende Relevanz.

Speziell wegen seiner Textinhalte wurde Dylan von US-amerikanischen Musikkritikern wie Greil Marcus und Robert Christgau in den höchsten Tönen gelobt, wodurch aber die Betrachtung seiner musikalischen Qualitäten tendenziell ins Hintertreffen geriet. Denn obwohl Dylan niemals ein virtuoser Gitarrist war, wollte er mit seinen Songs eigentlich immer eine Symbiose aus Musik und Text erschaffen. Hierbei kann man eine Kontinuitätslinie erkennen, die von den kargen Akustik-Arrangements der frühen Alben über seine eher rockigen Album-Klassiker Highway 61 Revisited (1965) und Blonde On Blonde (1966) bis hin zu späten Meisterwerken wie Oh Mercy (1989) und Time Out Of Mind (1997) reicht. Auch das bisher letzte Album mit Eigenkompositionen, Tempest (2012), fügt sich nahtlos in diese Riege ein, und selbst bei der Coverplatte Fallen Angels, die pünktlich zu Dylans 75. Geburtstag im Mai 2016 erschien, ist das Bemühen um eine Einheit aus Wort und Klang spürbar (v.a. beim spitzbübischen Song „That Old Black Magic“).

Puristen werden vermutlich trotzdem behaupten, dass sich die Verschmelzung von Text und Musik am besten in Dylans Frühwerk beobachten lässt. Ein Paradebeispiel für die Symbiose dieser beiden Bereiche liefert der Titelsong des 1964er Albums The Times They Are A-Changin’, in dem Dylan einen fundamentalen Wandel der Gesellschaft thematisierte, den er mit musikalischen Mitteln unterstrich.

Die textliche Vorgabe

Der Song „The Times They Are A-Changin‘“ ist ein gutes Beispiel dafür, wie man ein großes Publikum für anspruchsvolle Inhalte begeistern kann.  Formal gesehen wirkt der Text mit seinen fünf Strophen simpel, allerdings reimen sich in jeder Strophe immer nur die Verspaare 1, 2, 3 und 5, während sich das vierte Verspaar auf die abschließende Refrainzeile reimt.  

Inhaltlich ist eine klare Gliederung erkennbar: Die erste und letzte Strophe dient als Rahmen, während  in den übrigen Strophen die eigentliche Handlung beschrieben wird. Zunächst appelliert der Erzähler an alle Menschen, weil ihnen eine Sintflut bevorsteht, gegen die sie ankämpfen sollen. Danach werden die betroffenen Zielgruppen konkret angesprochen: Strophe 2 ist ein Appell an die „writers and critics“, die ihre Leser über gesellschaftliche Neuentwicklungen informieren, wobei ihr Urteil eventuell von Zeitgeist-Erscheinungen getrübt wird. Strophe 3 wendet sich dagegen an die Senatoren und Kongressabgeordneten, die sich einem Strukturwandel nicht entgegenstellen sollen, da dieser für sie verheerende Folgen haben könnte. In Strophe 4 wird der Text weiter verdichtet: Nun rücken die Normalbürger, die „mothers and fathers / Throughout the land“, in den Mittelpunkt. Ihnen wirft der Erzähler vor, ihre Kinder nicht zu verstehen, sie aber dennoch zu kritisieren.

Am Ende des Textes fasst Dylan Aussagen der vorhergehenden Strophen zusammen und wagt eine hoffnungsvolle Zukunftsprognose: Da aus Verlierern bald Gewinner werden können, besteht kein Grund zur Verzweiflung, solange man die Zeichen der Zeit rechtzeitig erkennt.

Neben Aufbau und Inhalt spielen in „The Times They Are A-Changin’“ auch die Sprache und die Wortwahl eine wichtige Rolle. Dabei bedient sich Dylan einer einfachen Ausdrucksweise, um die Dringlichkeit seiner Botschaft zu untermauern. Dementsprechend werden bestimmte Floskeln oder Sinnabschnitte öfters wiederholt, und auch Bitten tauchen öfters auf: Die Politiker werden mit „Please heed the call“ beschworen, die Eltern mit „Please get out of the [new road]“.

Von Bedeutung sind auch die Antithesen, die in variierter Form erscheinen, aber prinzipiell dasselbe aussagen („For the loser now / Will be later to win“, „The slow one now / Will later be fast“ und „And the first one now / Will later be last“). Es besteht somit kein Zweifel,  dass sich die bestehenden Machtverhältnisse schon bald umkehren werden. Dylan gelingt es sogar, zwei Wörter einzubringen, die eher neologistischen Charakter haben: zum ersten das Verb „prophesize“ in Strophe 2 (gut möglich, dass Dylan das gängige „prophesy“ durch eine modernere Variante ersetzen wollte), zum zweiten die Erweiterung des Verbs „change“ zu „a-change“, wodurch der Text in rhythmischer Hinsicht überzeugender wirkt.

Bei aller Einfachheit der Sprache fällt noch ein weiteres Charakteristikum bei der Wortwahl auf: die Verwendung von sprachlichen Bildern (Flut, Schicksalsrad, versperrte Tür, Sturm vor der Schlacht, alter und neuer Weg), die auf biblische Geschichten anspielen, u.a auf die Verkündigung des Propheten Jesaja, die große Sintflut aus dem Buch Genesis oder den kleingläubigen Petrus, der von Jesus aufgefordert wird, auf dem Wasser zu gehen, aber wegen seines fehlenden Vertrauens zu sinken droht. Sogar für die „writers and critics“ gibt es eine biblische Vorlage, nämlich die Pharisäer und Sadduzäer, die blind für die Zeichen der Zeit waren. Dagegen ist das Bild des Szenarios, bei dem die Grundfeste der Häuser zerstört werden, der Bergpredigt entnommen. Dylans Variationen der Matthäus-Passage aus Kapitel 19,30 („Aber viele, die jetzt vorn sind, werden dann am Schluss stehen, und viele, die jetzt die letzten sind, werden schließlich die ersten sein“) verdeutlichen nochmals, dass es in „The Times They Are A-Changin’“ unbestreitbar um einen radikalen Veränderungsprozess geht.

Die musikalische Umsetzung

Betrachtet man die textlichen Feinheiten von „The Times They Are A-Changin’“, vergisst man leicht, dass Dylan dieses Stück nicht als Gedicht, sondern als Song konzipiert hat. Daher ist ein Blick auf die verwendeten musikalischen Mittel sinnvoll, wobei sich Dylan als Meister der Einfachheit erweist: Die Grundtonart ist G-Dur (unter Gitarristen sehr beliebt), und die Harmonik ist sehr überschaubar, da kompliziertere Akkorde vom Text ablenken würden. Folglich beschränkt sich Dylan auf fünf Akkorde (G, C, D, e, a), die von einem e7-Akkord ergänzt werden, der zustande kommt, weil beim Spielen eines G-Dur-Akkordes die tiefe E-Saite mitklingt.

Auch in Sachen Melodik hält sich Dylan bewusst zurück: Der Tonumfang umfasst lediglich eine Quinte, was mit dem eingeschränkten Stimmumfang des Interpreten zusammenhängt. Die Randtöne (g1 und d2) tauchen am häufigsten auf, wobei der höchste Ton bei besonders eindringlichen Textstellen verwendet wird. Insgesamt klingt die Melodie aufgrund der Dur-Tonart ziemlich heiter, was in Verbindung mit dem apokalyptischen Szenario etwas paradox wirkt – dies lässt sich aber damit erklären, dass der Text kämpferisch gemeint ist, weswegen eine traurige Melodie fehl am Platz wäre. 

Als letztes wichtiges musikalisches Mittel bleibt noch das Tempo. Trotz einiger Abweichungen lässt sich für die Achtelnote ein Näherungswert von 172 bpm bestimmen, ein sehr beschwingtes Tempo, mit dem Dylan die Dringlichkeit seiner Botschaft unterstreicht. Insgesamt verfügt Dylan zwar nur über ein limitiertes Repertoire an musikalischen Mitteln, doch setzt er diese so gekonnt ein, dass sie nicht mit dem Text in Konflikt geraten, sondern diesen optimal unterstützen. 

Erst die Hinzufügung von Gitarre, Mundharmonika und Gesang macht „The Times They Are A-Changin’“ zu einem kleinen Gesamtkunstwerk. Die Gitarre hat dabei lediglich eine begleitende Funktion, wobei der stoisch durchgeschlagene Rhythmus auffällt. Diese Spielweise wirkt zwar hemdsärmelig, doch passt sie perfekt zur eher umgangssprachlichen Textvorlage.

Neben der Gitarre erfüllt auch die Mundharmonika einen wichtigen Zweck, da Dylan auf ihr die Überleitung zwischen den Strophen spielt. Wäre in dieser Zeit nur die Rhythmusgitarre zu hören, so wäre das Arrangement deutlich eintöniger, und der Song würde viel von seiner Aufbruchsstimmung verlieren. Zu beachten ist jedoch, dass Dylans Mundharmonikaspiel nicht mit der eleganten Spielweise von Larry Adler oder Stevie Wonder zu vergleichen ist. Vielmehr bläst Dylan seine Harp recht ruppig, wobei scheinbar wahllos Einzeltöne, Zweiklänge und Dreiklänge ertönen. Doch wie für sein Gitarrespiel gilt: Eine wohlklingendere, perfektere Interpretation würde mit Sicherheit nicht so gut zum Text passen. Außerdem werden in Dylans Mundharmonikasoli Fragmente der Gesangsmelodie aufgegriffen – zwischen den Instrumentalpassagen und dem Gesang besteht also durchaus ein Zusammenhang.

Von einer lustlosen Vortragsweise, die Dylan in späteren Jahren oft vorgeworfen wurde, ist bei „The Times They Are A-Changin’“ übrigens noch nichts zu spüren. „Rau, aber engagiert“ wäre wohl die passende Beschreibung für das, was er stimmlich abliefert. Eine Limitierung der Ausdrucksmöglichkeiten durch seinen geringen Stimmumfang liegt dabei übrigens nicht vor. Die oftmalige Wiederholung bestimmter Töne erzeugt keine Monotonie, sondern wirkt vielmehr intensiv und beschwörend. Dylans fließende Phrasierung erinnert an Jazzsänger und offenbart eine Nähe zur gesprochenen Sprache.

Zwei Beispiele aus dem Lied zeigen, dass Dylan zwar einem melodischen Schema folgt, je nach Textinhalt aber Platz für Variationen lässt (vor allem in der letzten Strophe) und zur Untermalung des Textes das Tempo variiert: Die Zeile über die Journalisten und Kritiker „[w]ho prophesize with [their] pen“ wird ironischerweise „laid back“, also „hinter“ dem Beat gesungen. Die wohl schönste Tempovariation enthält Dylan seinen Hörern bis zur fünften Strophe vor: „The slow one now“ wird sinngemäß langsamer und „laid back“ gesungen, während bei „Will later be fast“ das Tempo konsequenterweise angezogen wird. Gerade diese Freiheit bei der gesanglichen Interpretation ist es, die den trotz aller apokalyptischen Bilder hoffnungsvollen Tenor des Liedes noch betont.

Strukturelle Besonderheiten

Die Idee eines fundamentalen Wandels zieht sich wie ein roter Faden durch „The Times They Are A-Changin’“. In Dylans Song ist der Umbruch jedoch nicht nur auf den Text beschränkt. Vielmehr wird – für den Zuhörer kaum merklich – die Veränderung der Strukturen durch subtile Abweichungen im Songaufbau zum Ausdruck gebracht.

Grundsätzlich ließe sich zwar jede Strophe auf ein zwölftaktiges Schema im 6/8-Takt reduzieren, doch damit würde man Dylans Intention nicht gerecht. Führt man sich den Songablauf vor Augen, so fällt auf, dass Dylan am Ende des ersten und dritten Verspaares jeder Strophe einen Zwischentakt in 3/8 ergänzt (im dritten Verspaar der ersten Strophe wird dieser zu einem 6/8-Takt erweitert). Diese intuitiven Einschübe dienen zum einen als Atempause, zum anderen zeigen sie, dass Dylan keinen Wert auf einen strengen Ablauf legt, da dieser ein festgefahrenes Denken symbolisieren würde.

Der Aspekt des Wandels taucht zudem (weniger offensichtlich) in der Akkordfolge der Titelzeile auf. Diese wird in der ersten und vierten Strophe mit den Akkorden G-G-D-G unterlegt, während in den übrigen Strophen ein C-Dur-Akkord dazukommt (G-C-D-G).

Das Verschieben von Strukturen und Harmonien wird auch in den Mundharmonikapassagen deutlich. Diese unterscheiden sich hinsichtlich der Länge und Akkordstruktur teilweise stark voneinander (vor allem die Soli nach der zweiten und vierten Strophe) und werden noch zusätzlich fragmentiert, indem Ausschnitte aus der Gesangsmelodie auftauchen oder variiert werden – womit erneut sichtbar wird, dass der in Dylans Text beschriebene Wandel sogar die musikalische Struktur von „The Times They Are A-Changin’“ durchdringt.

„The Times They Are A-Changin’“ im Wandel der Zeit

Von seiner Bedeutung steht „The Times They Are A-Changin’“ heute auf einer Stufe mit anderen „politischen“ Dylan-Klassikern wie „Blowin’ In The Wind“ oder „Masters Of War“. Aufgrund der bildhaften Sprache und den biblischen Anspielungen, die auch durch die umgangssprachlichen Elemente nicht überdeckt werden, besitzt der Song immer noch eine starke Ausstrahlung.

Besonders bemerkenswert ist jedoch, wie gut der Text, die Musik und der Gesang miteinander harmonieren: Die verwendeten musikalischen Mittel erfüllen nämlich keinen Selbstzweck, sondern unterstützen jederzeit die textliche Vorlage. Und auch wenn Dylans instrumentale und gesangliche Interpretation nicht perfekt klingt, zeigen sich darin viele Feinheiten, die die Botschaft des Liedes zusätzlich unterstreichen. Interessant ist außerdem, dass Dylan den strukturellen Umbruch nicht nur besingt, sondern dass ein solcher Umbruch sogar innerhalb der Lied- und Akkordstruktur stattfindet.

Schließlich wäre da auch noch die Sache mit dem Wandel. Der Medienwissenschaftler Werner Faulstich bemerkte einmal, dass sich „The Times They Are A-Changin’“ allein aufgrund des Songtitels immer wieder wandeln müsste, um keinen Widerspruch in sich selber darzustellen. Die 1978er Live-Version erschien tatsächlich in einem moderneren Arrangement, klang jedoch verglichen mit der ursprünglichen Version skeptischer, vielleicht auch resignierter.

Wie sehr sich die Zeiten geändert hatten, wurde 1994 deutlich, als Bob Dylan seinen Song für den Werbespot eines Finanzberatungsunternehmens zur Verfügung stellte. Damit hatte offenbar der Profitgedanke endgültig die ideelle Seite des Liedes verdrängt, doch Dylans 1995er „MTV Unplugged“-Interpretation ließ darauf hoffen, dass die textliche Komponente und mit ihr die Idee eines moralischen Wandels wieder in den Vordergrund treten würde.

Ein Beitrag aus der Komparatistik-Redaktion der Universität Mainz