Das Säkulum im Überblick

Reinhard Schulze wagt einen Querschnitt durch 100 Jahre islamische Kulturgeschichte – für den Leser Kraftakt und Segen zugleich

Von Sebastian MeißnerRSS-Newsfeed neuer Artikel von Sebastian Meißner

Besprochene Bücher / Literaturhinweise

9/11, der Sturz Saddam Husseins, der Arabische Frühling, das Auftreten des sogenannten IS: In den letzten 25 Jahren hat sich einiges getan in den islamischen Ländern. Anlass genug für Reinhard Schulze, seine „Geschichte der islamischen Welt im 20. Jahrhundert. Von 1900 bis zur Gegenwart“, das 1994 zum ersten Mal erschien, zu überarbeiten.

Die Grundstruktur seines Buches hat er im Wesentlichen beibehalten; er hat die Kapitel lediglich ergänzt, angereichert und aktualisiert. Schulzes Erzählbogen umspannt die Geistes- und Kulturgeschichte sowie die politischen Entwicklungen der islamischen Länder seit 1900. Dabei betrachtet er explizit die Kernländer Tunesien, Algerien, Ägypten, Libyen, Nigeria, Mali, Mauretanien, den Jemen und Bahrein. Schulze beschränkt sich jedoch nicht nur auf den Nahen Osten, sondern geht auch auf die Regionen der islamischen Peripherie ein, wo Millionen von Muslimen leben. Das siebte – und damit neu hinzugekommene – Kapitel beschäftigt sich mit dem Arabischen Frühling und seinen Folgen.

Terrorakte und Flüchtlingsströme aus den Krisengebieten nach Europa haben Fragen aufgeworfen, die in der öffentlichen Debatte primär emotional und mitunter ohne Bezugnahme auf die historischen Bedingungen beantwortet werden. Der Grund ist meist eine Unkenntnis, die begleitet wird von der Furcht vor einem Clash der Zivilisationen. Die „Geschichte der islamischen Welt“ wirkt dem entgegen, denn in ihr zeichnet Schulze ein differenzierteres Bild der islamischen Welt und ihrer unterschiedlichen Gesellschaften. Dabei zeigt sich auch, dass der Autor die „orientalische“ und die „westliche“ Weltvorstellung nicht als unvereinbar ansieht: Ihm zufolge befindet sich der Islam inmitten eines umfassenden Modernisierungsprozesses. Die Öffentlichkeit der islamischen Welt sei seit 1900 Teil einer global werdenden Moderne. Das Internet habe diesen Prozess beschleunigt und bekräftigt und genau darum geht es Schulze: um eine in sich vielfältige islamische Öffentlichkeit.

So vermag der Autor den Arabischen Frühling und den Terror aus der Geschichte heraus als Extreme desselben Prozesses zu erklären und dem Leser Geschichte, Entwicklung und Konflikte dieser Kultur in den Grundzügen nahezubringen. Leider stößt die Idee eines allumfassenden Überblicks über Geschichte und Gegenwart jedoch an vielen Stellen an ihre (natürlichen) Grenzen. Schulze geht chronologisch vor, muss jedoch immer wieder verknappen und vorgreifen, voraussetzen und gewichten. Beim interessierten, aber nicht umfänglich vorgebildeten Leser verursacht dies Verwirrung und ein Gefühl der Überforderung, was nicht nur der Masse der Fakten, sondern auch ihrer aus nachvollziehbaren Gründen vernachlässigten Aufbereitung geschuldet ist. So entstehen neue Fragen, werden Lücken offenbar. Das soll aber den Ansatz und die Vorteile dieses Buches nicht schmälern. Mit der Aktualisierung seiner „Geschichte der islamischen Welt. Von 1900 bis zur Gegenwart“ hat Reinhard Schulze den rasanten Entwicklungen der letzten Jahre Rechnung getragen und sie in Kontext gesetzt zu Vergangenheit und Zukunft. Sein Buch ist keine leichte Lektüre, sondern mitunter ein Kraftakt. Doch ist es ein lohnenswerter Einstieg, ein Fenster in die reiche Kulturgeschichte des Islam.

Titelbild

Reinhard Schulze: Geschichte der Islamischen Welt. Von 1900 bis zur Gegenwart.
Verlag C.H.Beck, München 2016.
767 Seiten, 34,95 EUR.
ISBN-13: 9783406688553

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