Lust ohne Nutz?

Nikola Roßbach fragt nach der Bedeutung des Lesevergnügens in der Literatur der Frühen Neuzeit

Von Miriam SeidlerRSS-Newsfeed neuer Artikel von Miriam Seidler

Besprochene Bücher / Literaturhinweise

Die überzuckerte Pille ist eine beliebte Metapher in der Literatur der Frühen Neuzeit. Sie verweist darauf, dass die ästhetische Gestaltung literarischer Texte deren wahren Zweck verdeckt. Sie sollen sozialdisziplinierend wirken oder doch zumindest eine Moral oder alltagspraktisches Wissen vermitteln, denn Aufgabe der Literatur sei die Einführung in gesellschaftliche Normen, religiöse Lehren und anwendungsorientiertes Wissen. Lektüre um der Lektüre Willen ist nicht vorgesehen. Kostbare freie Zeit darf nicht mit unnützer Lektüre vertan werden. Aber kann der Bezug auf die wirkungsästhetische Formel von prodesse und delectare, wie sie Horaz bereits in der Antike formulierte, nicht auch ein geschickter Vorwand sein, um witzige und unterhaltsame Text zu publizieren und damit den Anspruch auf die Verbindung von Nutzen und Lektüre zu unterlaufen? Dieser Frage geht Nikola Roßbach in ihrer fundierten Untersuchung zu einem bislang kaum untersuchten Textkorpus nach. Die ‚Erquickstunden‘, wie sie in dem Band untersucht werden, tragen den Namen bereits im Titel.

Der Band gliedert sich in drei Abschnitte. Im einleitenden Teil erkundet Nikola Roßbach das Verhältnis von prodesse und delectare, Ernst und Schimpf in der Literatur der Frühen Neuzeit. Auf der Basis dieser allgemeinen Suche nach der Unterhaltungsfunktion der Literatur zwischen dem 15. und 18. Jahrhundert stellt die Verfasserin das Korpus der Erquickstunden-Literatur vor. Da die Erquickstunden als Textsorten bislang kaum erforscht sind, leistet Nikola Roßbach hier Pionierarbeit und liefert eine hervorragende Basis für die weitere Auseinandersetzung. Im dritten Teil nimmt sie dann einzelne Exemplare – je eine historische, geistliche, mathematische und poetische Erquickstunde – in den Blick. Diese Einzelanalysen machen deutlich, warum Nikola Roßbach nicht von einer Gattung sondern lediglich von einem Textkorpus der Erquickstunden spricht. Zwar zeichnen sich alle Textsammlungen dadurch aus, dass die Texte – teilweise in Prosa, teilweise in Versen verfasst – sehr kurz sind, mehr Gemeinsamkeiten weisen sie jedoch kaum auf. So verwundert es auch nicht, dass das Verhältnis von Lust und Nutz in den Beispielen sehr unterschiedlich gewichtet ist.

Auch wenn das Wort Erquickung zwischen dem 16. und 18. Jahrhundert meist im Sinne einer religiösen Erbauung verstanden wurde, so umfasst es doch jede körperlich-geistige Form der Regeneration, die dazu beiträgt, einen als unbefriedigend empfundenen Zustand zu verbessern. Ein Trunk Wasser, eine Mahlzeit oder ein gutes Wort in einer schwierigen Lebenslage kann erquickend sein. Erquickung im theologischen Sinne ist eine göttliche Handlung. Christus erquickt durch seinen Tod am Kreuz, Gott durch seine Gnade. Daher steht in den geistlichen Erquickstunden, die exemplarisch am Beispiel des protestantischen Predigers Samuel Heermann vorgestellt werden, auch das Seelenheil des Lesers im Fokus. Die meditativen Texte erfüllen die Funktion einer Predigt und bieten dem Leser Krisenmanagement und Trauerhilfe im Angesicht von Krieg, Krankheit und Tod. Aufgrund der moralischen Ausrichtung hat in dieser Textsorte Unterhaltung keinen Raum.

Ganz anders ist die Ausrichtung der mathematischen Erquickstunden. Erwartet man hier als Leser eine an anwendungsorientiertem Wissen ausgerichtete Textsorte, so zeigen die Arithmet-Geomet-Quadrat- und Cubic-Cossische Erquick-Stunden von Anton Blierstorp eher die Entwicklung des literarischen Interesse ihres Autors, der zunehmend Freude an der Gestaltung des narrativen Umfeldes seiner mathematischen Aufgaben zu finden scheint.

Worin liegt nun Lust und Nutz der Untersuchung? Nikola Roßbach bietet einen umfassenden Überblick über die Textsammlungen, die den Titel Erquickstunden tragen. Sie verortet ausgewählte Beispiele auf überzeugende Weise in der Literatur der Frühen Neuzeit und der Biographie ihrer Verfasser. Dabei hätte die Frage, ob es sich bei den sehr uneinheitlichen Texten um eine Textsorte handelt oder ob die Text nicht viel zu heterogen sind, um sie unter einem gemeinsamen Label zu fassen, am Ende etwas ausführlicher diskutiert werden können. In diesem Fall hätte sich auch die Frage gestellt, ob die als subversiv das Modell der Textsammlung unterlaufenden mathematische Erquick-Stunden des Hobbymathematikers Anton Blierstorps nicht vielmehr über das Ziel hinausschießen, wenn sie statt der vergnüglichen Mathematik die narrative Vermittlung der Aufgabenstellung so sehr in den Mittelpunkt rücken, dass das Rätsel selbst dabei zur Nebensache wird. Hier stellt sich dem Leser die Frage, ob es nicht die Verfehlung des mit dem Titel einhergehenden Programms ist, die das ästhetische Vergnügen von Schreiber und Leser bedingt. Vielleicht ist es aber auch der Wunsch, Vorstufen eines modernen Unterhaltungsbegriffs in den frühneuzeitlichen Texten zu finden, der die Gewichtung der Textbeobachtungen bestimmt.

Ein Beitrag aus der Mittelalter-Redaktion der Universität Marburg

Titelbild

Nikola Roßbach: Lust und Nutz. Historische, geistliche, mathematische und poetische Erquickstunden in der Frühen Neuzeit.
Aisthesis Verlag, Bielefeld 2015.
235 Seiten, 41,00 EUR.
ISBN-13: 9783849811310

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