Liebes Liebe

Über Lena Goreliks Roman „Null bis unendlich“

Von Frank RiedelRSS-Newsfeed neuer Artikel von Frank Riedel

Besprochene Bücher / Literaturhinweise

Geschichten über Außenseiter haben es in sich. Zwar lebt die Literatur von unser aller Anderssein, das durch seine Variabilität einen unendlichen schöpferischen Menschen-Pool glaubwürdiger und folglich lesenswerter Charaktere für Schreibende darstellt, doch scheint der Außenseiter als literarische Figur mit seinen typischen Verhaltensmustern in unserer von Individualisierung geprägten Welt der Aufmerksamkeit des Lesers nicht mehr würdig, wenn er nicht Staunen, Kopfschütteln, gar Sprachlosigkeit hervorruft. Je schrulliger, desto besser, könnte man meinen. Zumindest origineller als das Leben sollte man als Autor schon sein.

Auch Lena Gorelik hat sich in ihrem Roman Null bis unendlich auf diesen steinigen Schriftsteller-Weg begeben und ist erhobenen Hauptes gescheitert. Sie erzählt die Beziehungsgeschichte von gleich zwei Sonderlingen: von Sanela, einem Kriegs- und Waisenkind aus Jugoslawien, und dem hyperbegabten Bücherwurm Nils, mit dem sprechenden Nachnamen „Liebe“. Der einsame Junge, der selbst den eigenen Eltern zu klug geraten war, zeigt sich mit vierzehn Jahren von seiner neuen Banknachbarin gefesselt und lernt sogleich Serbokroatisch. Und das ist ganz dringend für den Protagonisten, ist doch Sanela des Deutschen (noch) nicht mächtig. Zum ersten Mal in seinem Leben ist Nils verliebt. Schon bald begleitet er Sanela auf der hoffnungslosen Suche nach dem Grab ihres Vaters nach Bosnien. Zwei, die nie Kind sein durften und unterschiedlicher nicht sein könnten – während Sanela im Wasser der Adria an Freiheit denkt, denkt Nils an Erkältung –, finden auf dieser Reise zusammen.

Doch bald schon trennen sich ihre Wege wieder: Sanela ‚entschwindet‘ nach einem Selbstmordversuch in die Schweizer Berge und Nils zieht mit seinen Eltern nach Berlin.

Das Leben beider ist von nun an eine rastlose Suche. Er studiert Geschichte, Politikwissenschaft, Philosophie und Germanistik, nimmt im zweiten Jahr Romanistik hinzu, rechnet aus, wie lange er als Schnellleser braucht, um alle Bücher der Universitätsbibliothek zu lesen. Er versteht sich gut mit den Professoren und schläft mit den Kommilitoninnen. Später zieht es ihn in immer größere Metropolen, er schreibt und verliert sich in Affären. Sie versucht zuerst den Motorrad-Macho Akkan, danach den politisch, sozial und überhaupt engagierten, bewusst lebenden Softie, Hausmann und Gutmenschen Clemens zu lieben. Letzterer stirbt bei einem Fahrradunfall, noch bevor der gemeinsame Sohn, Niels-Tito, zur Welt kommt. Das Schreibaby raubt der alleinerziehenden Mutter den Schlaf und fordert ihre komplette Aufmerksamkeit. Als bei Sanela ein Hirntumor diagnostiziert wird, schreibt sie einen Brief an Nils, wie nur er ihn schätzen kann. Und der Mann, der Enttäuschungen wie andere Pfützen aus dem Weg geht, nimmt ihre seltsame Einladung mit der Zuversicht an, von ihr nie enttäuscht werden zu können. Als sie sich im Alter von 37 Jahren wiedersehen, scheinen sie endlich gefunden zu haben, was sie suchten.

Lena Gorelik rollt diese ebenso intensive wie traurige Beziehungsgeschichte von ihrem Ende her aus. Liebe mag man es nicht nennen, wenngleich in kaum einer Beziehung zwei Menschen so harmonisierend aufeinander wirken wie die beiden. „Sie redeten nicht, wenn nichts gesagt werden musste“ – die herkömmlich für Eintracht stehende Formel trügt, kommunizierten sie doch durch zahlreiche unausgesprochene Regeln miteinander. Da der kleine Niels-Tito perfekt zu diesem sonderbaren Paar passt, wirken die drei mitunter auf andere befremdlich. Als der Hirntumor Sanela so schwächt, dass nichts und niemand ihr mehr helfen kann, wird ihr Katz-und-Maus-Spiel mit Nils immer absurder und die kontradiktorische, nicht ganz klischeefrei geschilderte Beziehung erreicht ihren dramatischen Höhepunkt.

Seit ihrem Debütroman Meine weißen Nächte (2004) hat sich die 1981 in Sankt Petersburg geborene, 1992 mit den Eltern nach Deutschland immigrierte Schriftstellerin Lena Gorelik durch ihr arabesken- und anekdotenreiches Erzählen und ihren nuancenreichen und humorvollen Stil einen Namen gemacht. Wird der Roman Null bis unendlich diesem Ruf in mancherlei Hinsicht nur bedingt gerecht, so fügt er sich trotz seines postmigrantischen Denkhorizonts nahtlos in ihr Schaffen ein. Eröffnet sie doch dem Leser durch die Darstellung der Bindungen destabilisierenden Kraft von Krankheit einen kulturübergreifenden Zugang zur Andersheit.

Titelbild

Lena Gorelik: Null bis unendlich. Roman.
Rowohlt Verlag, Berlin 2015.
297 Seiten, 19,95 EUR.
ISBN-13: 9783871348068

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