Wie kann ästhetische Bildung gelingen?

Manuel Clemens widmet sich in seiner lesenswerten Studie den problematischen Übergängen zwischen Kunsterfahrung und Leben

Von Jakob Christoph HellerRSS-Newsfeed neuer Artikel von Jakob Christoph Heller

Besprochene Bücher / Literaturhinweise

Spätestens seit Schillers Briefen über die ästhetische Erziehung des Menschen ruht eine der zentralen Hoffnungen der Förderung der Humanität in der Kunst. Diese Hoffnung ist, wenngleich zumeist nur implizit, Hintergrund zahlreicher künstlerischer Praktiken und liebgewonnener Institutionen: Die Ausstellung über islamische Kunst, der Migrantenroman oder die Performance über Rassismus in der Sprache sollen eine ästhetische Erfahrung induzieren, die zu einer Erkenntnis, einem Verständnis, schließlich: zu einer veränderten Lebenspraxis führen. Das ist nicht idealistischer Anachronismus, sondern Bestandteil von ‚Kunstpolitik‘, Bildungsprogrammen und zahlreicher kuratorischer Ansätze. Die ästhetische Erfahrung und – weniger voraussetzungsreich – sinnliche Erkenntnis bekommen dabei eine besondere Qualität zugesprochen, die sie von den Formen rationaler Erkenntnis absetzen sollen.

Welcher Weg aber führt von der Ästhetik zur Lebenspraxis? Wie kann Kunst das Leben beeinflussen? Wie wirkt das Ästhetische auf das Soziale? Diese Fragen stellt der Literaturwissenschaftler Manuel Clemens in seiner Studie Das Labyrinth der ästhetischen Einsamkeit. Er stellt sie mit Emphase, in immer neuen Suchbewegungen, die aus dem Unbehagen am Postulat einer „reinen Ästhetik“ oder „reinen Kunst“ resultieren. „Können Lebens- und Weltentwürfe“, so formuliert er in der Einleitung, „wenn sie ihren ästhetisch-literarischen Garten verlassen, tatsächlich die Welt bewegen?“ Genauer besehen kreist die Frage stets um das Wie. Zu diesem Zweck fokussiert die Studie auf die „problematische[ ] Schwelle zwischen der Kunst und der Alltagswelt“. Unterschiedliche Theorien und Konzepte ästhetischer Bildung werden auf diese Schwelle hin untersucht. Immer geht es dabei um den „Übergang“ von einem ästhetischen zu einem „unästhetischen“ Zustand, oder – in einer Wende, die das Schlusskapitel ausführlicher diskutiert – um den „besondere[n] Zweck des Zweckfreien“.

Bis zu diesem Schlusspunkt nimmt Clemens den Leser mit auf eine Reise durch zentrale Stationen der Theorie ästhetischer Bildung. Am Anfang stehen, wie könnte es anders sein, Friedrich Schiller und seine Briefe über die ästhetische Erziehung. Clemens’ detaillierte Lektüren der Bildungsszenen und Konzepte des Übergangs zwischen ästhetischer Erfahrung und Lebensform zielen auf die Ausarbeitung der Widersprüche, Brüche und impliziten Annahmen des Werkes. Wie kann, fragt der Autor, der Mensch aus einem „unästhetischen“ in den ästhetischen Zustand, aus dem ästhetischen in einen „moralischen“ Zustand übergehen? Das Übergangs- und Vollzugsproblem – zwischen quasi-organischem Prozess und ereignishaftem Sprung – verdankt sich nicht zuletzt der Schwierigkeit, die Kunsterfahrung begrifflich so zu fassen, dass sie zugleich den Charakter der Freiheit und eine notwendige lebenspraktische Dimension trägt. Für Clemens wird schließlich Schillers Beschreibung des Müßiggangs zur „einzige[n] Bildungsbewegung, die in den Briefen funktioniert“. Der Müßiggang ist bei Schiller ein vorästhetischer Zustand, an dem der Künstler ansetzen könnte, um von dort – auf welchem Wege auch immer – den Menschen zu einer ästhetischen Erfahrung zu bringen. Die „Bildungsbewegung“, die Clemens dem Müßiggang zuschreibt, ist, wie er anmerkt, freilich widersprüchlich, fehle es doch am Übergang aus dem vorästhetischen Zustand des Müßiggangs in den ästhetischen, und von diesem in eine Lebenspraxis. Kurz: Schiller könne nicht explizieren, wie der Übergang – die Übertragung – aus der ästhetischen Erfahrung in die veränderte Lebensführung vonstattengehe.

Clemens zielt in seiner Diskussion Schillers nicht nur auf eine Kritik der aporetischen Konzeption ästhetischer Bildung: Er entwickelt aus der Analyse den Begriff der „Zweckscheinbarkeit“, der im Verlauf der Studie zu einem „Schlüsselbegriff zum Verständnis des Zweckfreien“ wird. Mit Zweckscheinbarkeit macht er auf den Widerspruch einer jeden Konzeption ästhetischer Bildung aufmerksam. Sie ist gerade nicht zweckfrei, sondern zielt auf einen Effekt außerhalb der künstlerischen und ästhetischen Sphäre. Für Clemens ereignet sich darum das Zweckfreie nur scheinbar: „Zwecke sind auch hier gegenwärtig, jedoch für eine andere Sphäre bestimmt, in die sie gelangen, wenn sie ihre unmittelbare Zweckhaftigkeit ablegen“. Diese Überlegung, noch an ein dezidiert pädagogisches Programm – die ästhetische Bildung – gebunden, wird von Clemens generalisiert: „Kunst hemmt die ständige Ausbreitung einer zweckhaften Weltorientierung und ersetzt sie – nicht durch völlig zweckfreies, sondern – durch zweckhaftes Denken, Planen und Handeln im Schein, wodurch die Unterschiede zwischen Zweck, Müßiggang und Kunst aufgehoben werden.“ Das bedeutet für Clemens auch den Verzicht auf eine begriffliche Fassung des Erlebens. In der Indifferenz von Zweckrationalem und Zweckfreiem kann sich ein Spiel entfalten – der Spieltrieb zur Geltung kommen –, das erst ex post auf einen Begriff, einen Zweck, ein Ergebnis reduziert wird.

Nimmt man die Zweckscheinbarkeit in dieser Konzeption und das mit ihr verbundene Primat des Erlebens als Prozess an, ist der weitere Weg von Clemensʼ Untersuchung nur folgerichtig. Sie führt von Schiller zu Friedrich Nietzsches Vorträgen Über die Zukunft unserer Bildungsanstalten und der dortigen Schilderung eines unerwarteten Bildungserlebnisses im Lauschen, weiter zu Georg Simmels Goethe‑Biographie und von dort zu Henri Bergsons Begriff der „Dauer“ und der von ihm konzipierten Möglichkeit, Dauer im Innenraum zu erleben. Clemens fokussiert bei Bergson auf das Zweckfreie oder das als zweckfrei Lesbare, das noch durch keinen Begriff stillgestellt und ‚artikuliert‘ wurde. Eine dem Innerlichen analoge Möglichkeit von Erfahrung entdeckt Clemens in Sigmund Freuds Konzept des Traums: „Als das Ästhetische bei Freud verstehen wir demnach die im Schlaf erfahrenen Traumbilder sowie die besondere Gesprächssituation während der Analyse“ – die gesprächstherapeutische Analyse der Traumbilder, die Dechiffrierung des latenten Trauminhalts, sei als Übergang aus dem zweckfreien Raum ästhetischer Erfahrung hin in die Lebenspraxis verstehbar. Die anschließenden Kapitel zu Pierre Bourdieu, Jaques Rancière und – in einem finalen Sprung vor Schiller – Immanuel Kant runden die Arbeit ab.

Im Kapitel zu Freud und noch deutlicher im Kapitel zu Rancière zeigen sich Verfahren und potenzielles Problem der Studie zugleich: Clemens geht mit den Begriffen ‚das Ästhetische‘, ‚Ästhetik‘ und ‚ästhetische Erfahrung‘ recht unbeschwert um. Diese Freiheit ist über weite Strecken sehr produktiv; sie erlaubt es, Fragen neu zu formulieren, überraschende Konstellationen herzustellen und so zu neuen Perspektivierungen ästhetischer Bildung zu führen. An manchen Stellen jedoch verwirrt diese entspannte Laxheit und reizt zum Widerspruch. Dies gilt beispielsweise für Clemensʼ Lektüre der Psychoanalyse: Wenn er die Freud’sche Redekur als eine „Bildungserfahrung, die das Individuum anspricht und den ästhetischen Zustand des Traumes mit dem Leben verbindet“ liest, argumentiert er entweder nur auf der Ebene von Analogien und Verfahren – oder dehnt das Konzept des ‚ästhetischen Zustands‘ zu weit aus.

Ähnliches geschieht in Clemensʼ Rancière-Interpretation. Sicherlich gibt es viel an dessen Überbietung des ‚Zurück zu Marx‘ zu kritisieren, sicherlich ist die – zugespitzt – Vereinnahmung Schillers als Marxist avant la lettre mehr Strategie als in der Sache begründbar. Jedoch: Wenn Clemens Rancières Lektüre von Schillers Juno-Ludovisi-Episode zum Anlass nimmt, ihm die fehlende Konkretisierung des Politischen nach einer Neuaufteilung des Sinnlichen vorzuwerfen, verfehlt er die Funktion des Beispiels. Verantwortlich dafür ist eine gewisse begriffliche Unschärfe, genauer: die Nichtberücksichtigung von Rancères eigener Verwendung des Begriffs „Ästhetik“. In seinem Aufsatz Das ästhetische Unbewusste schreibt er: „Ästhetik bezeichnet einen Modus des Denkens, der sich anhand von Gegenständen der Kunst entfaltet und sich bemüht zu sagen, inwiefern sie Gegenstände des Denkens sind. Noch grundlegender ist sie ein spezifisches geschichtliches Regime des Denkens der Kunst, eine Idee des Denkens, der zufolge die Gegenstände der Kunst Gegenstände des Denkens sind.“ Das Kunstwerk, die Juno Ludovisi, ist in diesem Verständnis eben nicht ein Gegenstand, bei dessen Betrachtung ein „Ausgeschlossener […] etwas erlernt, nur weil diese [i. e. die Statue] ihm durch ihre Neutralität einen Freiraum gewährt“, wie Clemens Rancière als These unterstellt. Die Statue ist Gegenstand des Denkens: An ihr lässt sich entwickeln, was das ästhetische Regime der Kunst auszeichnet – also eine bestimmte Aufteilung des Sinnlichen, die von einer Abwesenheit von Hierarchien der Gegenstände oder Gattungen geprägt ist. Das bedeutet nicht, dass die Statue eine Bildungserfahrung zur Folge hat. Sie ist Paradigma einer Aufteilung des Sinnlichen, die – freilich ist Rancière Utopist – ‚flach‘ ist, potenziell beliebige Inhalte an beliebigen Orten und zu beliebigen Zeiten zur Darstellung bringt. Dieser „Nullzustand“, der die ästhetische Erfahrung ist, meint gerade keine „Vorgaben zur Ausgestaltung des Lebens“, sondern erschöpft sich darin, eine Aufteilung vorzuführen, die sich der Indifferenz Hierarchien gegenüber verdankt. Clemensʼ Studie, die über weite Strecke wertvolle Einsichten enthält, Konzepte und Theorien auf eine neue und ungewohnte Weise zusammenbringt, bleibt bei der Juno Ludovisi stehen. Sie nimmt Rancières Konzeption der Ästhetik, der Rolle, die das Kunstwerk im Leben spielen kann, in des Rezensenten Augen leider nicht auf. Das bedeutet nicht, dass Rancières Theorie einen belastbaren oder schlüssigen Entwurf ästhetischer Bildung liefert. Aber es wäre interessant gewesen, Rancière ausführlicher und unter deutlicher Berücksichtigung seiner selbst vorgenommenen Begriffsdefinitionen zu diskutieren.

Zusammenfassend ist zu sagen, dass Clemens eine insgesamt höchst lesenswerte und relevante Studie vorgelegt hat. Gelegentlich fehlt die terminologische Schärfe, die Leistung der Studie schmälert das nicht.

Titelbild

Manuel Clemens: Das Labyrinth der ästhetischen Einsamkeit. Eine kleine Theorie der Bildung.
Königshausen & Neumann, Würzburg 2015.
212 Seiten, 36,00 EUR.
ISBN-13: 9783826057656

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