Über den Berg

Saskia de Coster seziert in „Wir und ich“ die ‚bessere‘ belgische respektive flämische Gesellschaft

Von Jasmin M. HlatkyRSS-Newsfeed neuer Artikel von Jasmin M. Hlatky

Besprochene Bücher / Literaturhinweise

Mieke und Stefaan Vandersanden-De Kinder leben mit ihrer Tochter Sarah ein Spießerleben der oberen Mittelklasse auf „dem Berg“, einer neureichen Vorstadtsiedlung.  Dort geht es um die perfekte Inszenierung der Idylle, und kaum ein Paar beherrscht das besser als die Vandersanden-De Kinders. Nach außen erscheinen sie als die Familie, die „es geschafft hat“, aber nach innen erweist sich das Konstrukt als von Neurosen und Druck zerfressen. Mieke kämmt zwangsneurotisch die Teppichfransen, aber auch das kann ihre allgegenwärtige Frustration nicht mindern, Stefaan zeigt sich hauptsächlich unsicher und von Angst getrieben, lediglich Sarah scheint zunächst eine halbwegs normale Pubertät zu erleben.

De Coster bietet im Erzählverlauf ihres Familienromans mehrere potenzielle  Handlungsumschwünge an – etwa Jempy, der kriminelle Bruder Miekes, der sich plötzlich eine Zeit lang auf dem Berg einnistet, Sarahs kleine Fluchten und nicht zuletzt Stefaans Wegfallen. Doch nichts davon ändert tatsächlich etwas. Selbst als Sarah letztendlich entkommt und in New York so etwas wie ein neues Leben beginnt, wirkt das Spießertrauma noch über den Ozean hinweg nach. Letztlich bleibt es bei dem, was die Autorin in der Mitte ihres Romans über Mieke schreibt: „Ihre Fassade wird sie bis zum Ende aller Tage aufrechterhalten“. Jeder und jede sucht den eigenen Ausweg aus dem selbst erschaffenen Alptraum, aber niemandem gelingt es tatsächlich, frei zu sein.

De Coster schreibt erzählerisch leicht, voller Sprachwitz, mitunter giftig, aber jederzeit mitreißend. Selbst die etwas zu fantasievollen Wendungen gegen Ende des Romans verzeiht man ihr daher. Die zahlreichen Perspektivwechsel dynamisieren und unterstützen die enthüllende Wirkung des Romans, bis hin zum Voyeurhaften. Über eine experimentelle Wir-Form, die die Autorin mehrfach verwendet, rückt der Leser mitunter näher als ihm oder ihr lieb sein kann. Trotz dieser teilweise zu intimen Einblicke bleiben die Figuren den Lesenden fremd – zu defekt für eine Identifikation, zu verzweifelt, um Empathie für sie zu empfinden.

Seit Tom Lanoyes schonungsloser Belgien-Trilogie (1997–2002) hat niemand mehr die ‚bessere‘ belgische beziehungsweise flämische Gesellschaft so bösartig seziert. Am wichtigsten ist es, den Schein zu wahren, Statussymbole vorzuzeigen, so zu tun, als ob. Die Beziehungen der Figuren untereinander sind komplex, wo nicht komplett zerstört. Die Einsamkeit des Einzelnen überwältigend. Wer nicht an den Erwartungen der anderen zerbricht, hat sich entweder ein dickes Fell zugelegt oder ist ganz weit weg geflohen. Es ist zunächst ein entlarvendes Psychogramm der 1990er-Jahre, das die Autorin hier präsentiert, aber durch die Jahrzehnte überspannende erzählte Zeit auch ein Zeugnis von deren Folgen. Als Chronik der ererbten Verzweiflung innerhalb einer flämischen Familie ist der Roman allemal lesenswert.

Titelbild

Saskia De Coster: Wir und ich. Roman.
Übersetzt aus dem Niederländischen von Isabel Hessel.
Tropen Verlag, Stuttgart 2016.
409 Seiten, 22,95 EUR.
ISBN-13: 9783608501568

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