Posthumane Science-Fiction

Die Lyrikerin Ann Cotten hat ein bemerkenswertes Versepos vorgelegt. Das ist abstrakt, durchgeknallt und politisch

Von Kristin SteenbockRSS-Newsfeed neuer Artikel von Kristin Steenbock

Besprochene Bücher / Literaturhinweise

Mit dem Spidermankostüm der Neo-Spenser-Strophe (die Neuinterpretation einer etwas entlegenen Strophenform aus dem 16. Jahrhundert) und im Bunde mit der gesamten olympischen Musensippschaft verfasst Ann Cotten in ihrem jüngsten Buch Verbannt! eine Poetik, die derart grenzüberschreitend ist, dass man nur staunen kann. Und man kann außerdem viel lernen von der posthumanen Hermeneutik eines hypersexualisierten Hermes-Wolpertinger aka „ich“, Herr Marquis de Sade in Frauengestalt. Ist das nerdig?

Die Geschichte geht etwa so: Einst in der fernen Zukunft der sexuellen Annäherung an die Tochter einer Kollegin bezichtigt, lautet das Urteil für die alkoholsüchtige Fernsehmoderatorin, die, vor die Wahl gestellt „Brustvergrößerung oder Zivilisationsverstoßung“, sich natürlich für die einsame Insel entscheidet: Verbannt! Auf die Verbannungsinsel Tantalos nimmt sie drei Dinge mit: Schleifstein, Messer und Meyers Konversations-Lexikon, Ausgabe Leipzig 1910 in 20 Bänden und 2 Supplementen.

Mit der Überfahrt zum Eiland tun sich Fragen und Welten auf: Was haben ein Messer und eine süße Möhre gemein? Lässt sich nicht im Grunde alles auf die Kernfusion zurückführen? Kann die Psyche das eigene Ich nicht wiedererkennen, wenn es von einem Puter gedacht wird? Wann kippt Realismus in Irrsinn und wo sind eigentlich die Grenzen zwischen Nausea, Cloud Computing und der Lektüre eines über 100 Jahre alten Lexikons? Zwischen den Lemmata „Seele“ und „Seeleim“ beginnt eine intermediale Robinsonade der Virtualität und Virilität.

Denn Cotten kann nicht nur dichten, sondern auch exzellente Riesenphalli zeichnen. Das Buch ist versehen mit einer Reihe von Illustrationen der Autorin, die keine Dreingabe zum Text darstellen, sondern sinntragende Elemente der Geschichte sind. Das derart zwischen den Welten lokalisierte „Ich“ wird schließlich beinahe aufgehoben in der Schraubendialektik Hegellands und gebiert aus seinem Hoden das Internet, aus dem wiederum allerlei Prothesenträgerinnen hervorgehen und das am Ende schließlich pleite geht. Cool!

Dass Ann Cotten ihr Handwerk versteht, hatte sie bereits mit ihrem Debüt Fremdwörterbuchsonette bewiesen. Dass sie als Autorin eine Stimme hat, bezeugen nicht zuletzt zahlreiche Auszeichnungen der letzten Jahre. Dass Ann Cotten auch etwas zu sagen hat, wird allerspätestens mit diesem Buch deutlich. So liest sich das bewusst nicht formvollendete, sondern im besten Sinne mit (Denk-)Formen experimentierende Versepos auch als Medienkritik, als cyberfeministische Geschlechterfantasie, als Absage an eine globalisierte Marktwirtschaft mit ihren Auswüchsen vom Optimierungswahn bis zum individualistischen Imponiergehabe thatcheröser Anzugträger.

Aber auch als durchaus zärtliche Liebeserklärung an die Sprache und an die hoffnungslos im enzyklopädischen Wust verlorene Spur des Wissens kann man Verbannt! lesen. Darum braucht man nicht verzweifeln vor so viel Dichte, Intertextualität und Abstraktion, denn was für das Wissen gilt, kann auch für das Verständnis dieses Lyrikexperiments gelten: „So wie ein guter Freund mit seinem kargen Wanst/ gibt es dir nie mehr Küsse, als du tragen kannst.“

Titelbild

Ann Cotten: Verbannt! Versepos.
Suhrkamp Verlag, Berlin 2016.
168 Seiten, 16,00 EUR.
ISBN-13: 9783518071434

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