Rendezvous zwischen den Grabsteinen

Howard Jacobson schwankt in „Shylock“ zwischen geistreicher Charakterstudie und überdrehter Posse

Von Dominik RoseRSS-Newsfeed neuer Artikel von Dominik Rose

Besprochene Bücher / Literaturhinweise

Zum 400. Todestag Shakespeares, der in diesem Jahr feierlich begangen wird, hat der von Virginia und Leonard Woolf gegründete Verlag The Hogart Press ein interessantes Projekt gestartet: Eine Gruppe namhafter zeitgenössischer Autoren, darunter Margaret Atwood, Jo Nesbø und Edward St. Aubyn, adaptiert ausgewählte Werke des alten Meisters in die Moderne. Der Knaus Verlag, deutscher Partner des Projekts, startet mit der Neuinterpretation der Komödie Der Kaufmann von Venedig, eines der umstrittensten Stücke Shakespeares, in dem als klassischer Schurke der jüdische Geldverleiher Shylock auftritt, der als Gegenleistung für eine nicht beglichene Schuld „ein Pfund Fleisch“ vom Körper des Helden Antonio fordert. Dass sich mit Howard Jacobson einer der renommiertesten britischen Schriftsteller gerade dieses mit antisemtischen Stereotypen besetzte Werk vorgenommen hat, ist nicht verwunderlich, denn Jacobson, selbst Jude, setzt sich in seinem literarischen Schaffen (unter anderem Booker Prize-Gewinner für Die Finkler-Frage) immer wieder mit jüdischen Themen auseinander.

In Shylock  lässt er nun den personifizierten Teufel aus Shakespeares Stück in die britische Gegenwart reisen und den jüdischen Kunstsammler Simon Strulovitch, einen notorischen, hoch empfindsamen Grübler, auf einem Friedhof treffen. Strulovitch, der das Grab seiner Mutter besucht, fühlt sich spontan von der düsteren Aura Shylocks angezogen, der mit seiner verstorbenen Frau Leah zärtliche Zwiegespräche führt. Strulovitch erkennt in der von Trauer überwältigten Gestalt, deren Augen „mehr Dunkelheit als Licht zu enthalten“ scheinen und deren Lachen „wie eine Todesrassel“ klingt, als passionierter Shakespeare-Kenner sofort den berüchtigten Shylock und lädt diesen zu sich nach Hause ein. Jacobson beschreibt das rätselhafte Zusammentreffen nicht etwa als eine Art übersinnliches Erlebnis, sondern vielmehr als logische Gegebenheit, die nicht weiter hinterfragt wird. „Natürlich ist Shylock hier, unter den Toten“, denkt sich Strulovitch. „Wann war er es nicht?“ Die beiden Männer verbindet genug, um den mit seiner jüdischen Identität ringenden Strulovitch als modernes Alter Ego des tragischen Shylock zu identifizieren: Auch Strulovitch hat den Verlust seiner geliebten Frau zu beklagen, die nach einem Schlaganfall in einem abgelegenen Zimmer stumm vor sich hin dämmert, ebenso muss er sich wie Shylock mit einer eigensinnigen Tochter herumschlagen, auch wenn sie für ihn noch nicht den „Inbegriff an Niedertracht“ darstellt, wie die einst aus der väterlichen Obhut und dem jüdischen Glauben geflüchtete Jessica für Shylock – vor allem sind die Beiden natürlich aufgrund ihres Jüdischseins sozial stigmatisiert, Strulovitch nur auf eine subtilere Art.   

Der spielerische Umgang mit seinen Hauptfiguren und dem mystischen Charakter ihrer Begegnung korrespondiert mit einem für Jacobson charakteristischen, ironischen Tonfall, der gern auch boshafte Züge annimmt, wenn er seine spitze Feder im zweiten Erzählstrang des Romans auf den diskreten Charme der englischen High Society richtet. In deren Nachbarschaft, einer obszön protzigen Wohngegend in der Grafschaft Cheshire, lebt der vermögende Strulovitch – als Jude eher geduldet als akzeptiert. Als seine klassischen Gegenspieler fungieren die reiche Erbin Plurabelle Cleopatra und ihr treu ergebener Kunstfreund D‘Anton, ein ebenso hochnäsiger wie melancholischer Connaisseur der schönen Künste – Shakespeares Portia und Kaufmann Antonio lassen grüßen. Aber was ist aus ihnen geworden? Die vornehme Portia, die sich im Kaufmann noch als rechtskundige Streiterin in Antonios Gerichtsprozess hervortut, erfährt bei Jacobson eine problematische Metamorphose zu einer geltungssüchtigen TV-Celebrity, die Paulo Coelho für den größten Denker hält und ihr Gesicht unzähligen chirurgischen Renovierungsarbeiten unterzogen hat: „Anna Livia Plurabelle Cleopatra Eine-Schönheit-ist-eine-ewige-Freude-weiser-als-Salomon Christine kam ins Zimmer gehüpft und hielt einen handgebundenen Strauß Vergissmeinnicht und Rosen in der Hand. Sie trug eine Klappe über einem Auge, wie ein Pirat. Der Rest von ihr war voller Bläschen.“

Howard Jacobson ist als schonungsloser Satiriker in seinem Element, wenn er den oberflächlichen englischen Geldadel der Lächerlichkeit preisgibt, aber auf Dauer sind seine lustvoll abgefeuerten Spitzen doch etwas ermüdend, zumal sein bourgeoiser Pöbel vornehmlich aus einer Ansammlung von eindimensionalen Karikaturen besteht. So etwa der schöne und entsetzlich stumpfsinnige Fußballprofi Gratan Howsom, der bei seinem bislang einzigen Torjubel den Hitlergruß zeigte, sich jedoch zugleich sehr zu jüdischen Frauen hingezogen fühlt und unter Mithilfe von Plurabelle und D‘Anton mit Strulovitchs pubertierender Tochter Beatrice verkuppelt wird. Was diese, eine kunstsinnige Rebellin, an dem seichten Beau finden mag, erschließt sich nicht, aber Howard Jacobson legt sich spürbar ins Zeug, möglichst viele Handlungsstränge aus Shakespeares Komödie in seine moderne Gesellschaftssatire zu adaptieren, die mit ihren immer grelleren Verwicklungen jedoch im Verlauf der Handlung zu einer überdrehten Posse verkommt. Überzeugender, weil vielschichtiger ist die Figur des D‘Anton gelungen, der seine antisemtischen Ressentiments hinter der feingeistigen Fassade nicht verbergen kann – und damit Shakespeares Antonio sehr nahe steht.

Am meisten fesselt der Roman jedoch mit den kammerspielartigen Dialogen zwischen Strulovitch und Shylock, die sich in Strulovitchs Haus pointiert mit Worten duellieren und die Unwägbarkeiten ihrer jüdischen Existenz ausloten – der religiöse Subtext schwingt zwangsläufig in Shylock immer mit. Jacobson zeichnet das Handeln seiner zwiespältigen Helden, die sich von den Gojim, also den Nichtjuden, missverstanden fühlen und mit ihren Taten auf blutige Rache sinnen, als direkte Reaktion auf stigmatisierende Vorurteile. „Ich bin zu dem geworden“, sagt Shylock an einer Stelle an seine Kritiker gerichtet, „was ihr aus mir macht“ – eine Replik Jacobsons auf die Worte, die der originale Shylock bei Shakespeare seinen Gegnern entgegenschleudert: „Die Bosheit, die ihr mich lehrt, die will ich ausüben.“ Die Figur des zornigen, verhassten, leidgeplagten Shylock, die schon das Erinnerungswürdigste an Shakespeares „Kaufmann von Venedig“ darstellt, bekommt von Jacobson ein paar neue Facetten verpasst, versprüht gar einen abgründigen, morbiden Charme – und versöhnt dabei für das Mittelmaß der Normalsterblichen.

Titelbild

Howard Jacobson: Shylock. Roman.
Übersetzt aus dem Englischen von Werner Löcher-Lawrence.
Knaus Verlag, München 2016.
286 Seiten, 19,00 EUR.
ISBN-13: 9783813506747

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