Im Wald der Erinnerungen

Der neue Berndorf-Roman von Ulrich Ritzel entführt Held und Leser in die letzten Stunden des Dritten Reiches

Von Dietmar JacobsenRSS-Newsfeed neuer Artikel von Dietmar Jacobsen

Besprochene Bücher / Literaturhinweise

Es dauert diesmal 104 Seiten, bis Ulrich Ritzels Serienheld Hans Berndorf zum ersten Mal erwähnt wird. Der Ex-Kommissar aus Ulm lebt inzwischen als Privatermittler in Berlin und gerät an seinen zehnten Fall über eine ehemalige Schulkameradin. Die erinnert sich noch daran, dass Berndorf aus dem Dorf Wieshülen auf der Schwäbischen Alb stammt, viele Jahre Leiter der Ulmer Mordkommission war und aktuell – so hat er es ihr auf einem Klassentreffen erzählt – in Berlin zu Hause ist. Ob er Nadja Schwertfeger bei ihrem speziellen Problem helfen kann, weiß sie freilich nicht, aber immerhin gibt sie der eigentlichen Hauptperson von Ulrich Ritzels Roman Nadjas Katze die Berliner Adresse ihres Schulfreundes und sorgt so dafür, dass sich zwei Menschen begegnen, die mehr miteinander verbindet, als es bei ihrer ersten Begegnung den Anschein hat.

Auf Anhieb klappt es nämlich nicht mit dem Ermittlergespann Schwertfeger/Berndorf. Sie, die ehemalige  Studienrätin für Deutsch und Geschichte, vernarrt in Bücher und Texte von Autoren, „die es in der Literaturgeschichte noch nicht einmal zu einer Fußnote gebracht haben“, ist ihm zu elitär und verschlossen. Er, der Genauigkeitsfanatiker und Grübler, der sich von ihr für seine Dienste nicht bezahlen lässt, weil er schnell merkt, dass die Geschichte, in deren Dunkel er Licht bringen soll, nicht nur mit Nadja, sondern auch mit ihm selbst zu tun hat, kommt ihr ebenfalls gewöhnungsbedürftig vor, zumal sie seit der Scheidung von ihrem Mann dem anderen Geschlecht gegenüber generell misstrauisch ist.

Doch ist Berndorf schnell von Nadjas Entdeckung – einer knapp 40-seitigen Erzählung aus den letzten Kriegstagen, die sie im Lager eines Trödlers ausgegraben hat, der die Büchernachlässe emeritierter Freiburger Professoren, pensionierter Lehrer und Journalisten a.D. gewinnbringend weiterverkauft – fasziniert. Dabei handelt es sich um einen schmalen, literarisch ganz und gar unauffälligen Text mit dem Titel Die Nachtwache des Soldaten Pietsch von einem Autor namens Paul Anderweg, der im Selbstverlag 1947 herausgegeben wurde und eine Episode beinhaltet, die in der Nacht vom 19. auf den 20. April 1945 spielt, also in der Nacht vor Adolf Hitlers 56. und gleichzeitig letztem Geburtstag.

Vor allem ein in Anderwegs Erzählung erwähnter Fakt hat Nadja Schwertfeger aufmerken lassen. Eine Stoffkatze wird dort beschrieben – eine Katze, wie Nadja sie selbst besitzt, ihre „Kindheitskatze Maunz“, schon abgewetzt und nur noch mit einem Auge an ihrer rosa Schnauze vorbei auf ihre rosafarbenen Tatzen schauend. Keine Frage, Maunz kann nur von jener Frau gefertigt worden sein, der der Soldat Pietsch in einer schicksalhaften Nacht, die offensichtlich mit seiner Exekutierung am nächsten Morgen enden sollte, in einem kleinen württembergischen Dörfchen begegnete. Nur taucht sie ja nun in einem fiktionalen Text auf. Was also ist Dichtung, was Wahrheit? Führt die Erzählung Nadja, die, 1946 geboren, bei Pflegeeltern aufgewachsen ist, vielleicht sogar auf die Spur ihrer richtigen Mutter?

Nadjas Katze ist kein Kriminalroman im klassischen Sinne. Auch wenn im Laufe der Nachforschungen, die Nadja Schwertfeger und Hans Berndorf quer durch Baden-Württemberg bis hinauf auf die Schwäbische Alb und in Berndorfs Geburtsdorf Wieshülen führen, ein lange verborgen gebliebenes Verbrechen ans Tageslicht kommt. Hauptsächlich aber geht es in Ulrich Ritzels Buch um das Verhältnis von Vergangenheit und Gegenwart. Was in jener Aprilnacht des Jahres 1945 in einem kleinen Dorf geschah und Täter und Opfer, vor ihren Verbrechen Flüchtende und sich dem Irrsinn der Zeit Widersetzende für ein paar Stunden zusammenführte, endete eben nicht mit dem großen Zusammenbruch.

Es braucht nur eine kleine, zufällig auftauchende Geschichte und ein winziges, in ihr verborgenes Detail – im Laufe ihrer Nachforschungen werden Berndorf und Nadja Schwertfeger übrigens noch auf zwei weitere schmale Texte des sich Paul Anderweg nennenden Journalisten Peter Andreas Wendel stoßen –, damit das scheinbar für immer Vergangene, mehr als 60 Jahre Zurückliegende wieder ans Tageslicht drängt. „Irgendwo habe ich gelesen, die Toten würden das tun. Sich unter den lebenden Menschen einen suchen, der sich vielleicht dazu bringen lässt, ihre Geschichte zu erzählen“, heißt es gegen Ende des Romans. Da hat Berndorf seine Suche abgeschlossen und nicht nur für seine Auftraggeberin, sondern auch für sich selbst eine neue biografische Wahrheit entdeckt.

Titelbild

Ulrich Ritzel: Nadjas Katze. Ein Berndorf-Roman.
btb Verlag, München 2016.
448 Seiten, 19,99 EUR.
ISBN-13: 9783442756766

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