Mit Erregung und Ungeduld

Erich Mühsams Gefängnistagebücher des Jahres 1921 sind erschienen

Von Martin IngenfeldRSS-Newsfeed neuer Artikel von Martin Ingenfeld

Besprochene Bücher / Literaturhinweise

Mit zwei jährlich neu erscheinenden Bänden schreitet die nunmehr seit fünf Jahren im Berliner Verbrecher Verlag erscheinende Edition der Tagebücher Erich Mühsams stetig weiter voran. Inzwischen ist die Ausgabe – gedruckt in schwarz gebundenen Bänden mit Nachbemerkungen der Herausgeber sowie online mit gründlichem Register, Verweisen und Digitalisaten der Handschrift – mit ihren Bänden 8 und 9 bereits über die Hälfte des auf 15 Bände angelegten Editionsplans hinaus gediehen.

Die von Chris Hirte und Conrad Piens herausgegebene Gesamtausgabe wurde in literaturkritik.de bereits mehrfach besprochen, beispielsweise im Hinblick auf Mühsams dichte Schilderungen der Schwabinger Bohème in den Vorkriegsjahren oder jene der Münchner Räterepublik vom Frühjahr 1919. Demgegenüber dokumentieren die nun erschienen Aufzeichnungen der Hefte 26 bis 30 eine merkliche Veränderung seines Tagebuchschreibens, bedingt nicht zuletzt durch den Wandel der äußeren Umstände: Mühsam war nach Zerschlagung der Räterepublik im April 1919 inhaftiert und zu 15 Jahren Haft verurteilt worden, was den aktiven Publizisten und (Mit-)Gestalter politischer Verhältnisse mit einem Mal weitgehend in die Rolle eines Beobachters rückte, der noch dazu darauf angewiesen war, welche Informationen man ihm zukommen ließ. Zunächst in Ansbach, dann ab Herbst 1920 im schwäbischen Niederschönenfeld befindet er sich in Festungshaft, aus der er erst im Jahr 1924 amnestiert werden wird. Es bleibt ihm entsprechend viel Zeit für das Tagebuch: In kaum einem Jahr, zwischen dem 6. Januar 1921 und dem 19. Januar 1922, füllt er die in den Bänden 8 und 9 der Edition vorliegenden Hefte. „Privates, Politisches und Häusliches“ wird notiert. Das Tagebuch wird zu einer Chronik der Begebenheiten innerhalb der Gefängnismauern und zugleich zum Spiegel der Geschehnisse außerhalb, soweit Mühsam von ihnen, vermittelt durch Zeitungslektüre und Korrespondenz sowie gefiltert durch die Willkür seiner Bewacher, Kenntnis erhält.

Diese Willkür, mehr noch die Drangsalierungen, denen die revolutionär gesinnten politischen Häftlinge in Niederschönenfeld ausgeliefert sind, spielen infolgedessen eine Hauptrolle, neben den Querelen unter den sich mehr oder weniger wohlgesonnenen Gesinnungsgenossen. In der Tat ist in Mühsams Schilderungen vom besonderen Charakter einer „Ehrenhaft“, als welche die Festungshaft ja vorgesehen ist, wenig zu spüren – der Gegensatz zu einem gewissen Adolf Hitler, der wenige Jahres später, nach seinem gescheiterten Münchner Putschversuch, weiter lechaufwärts in Landsberg seine Festungshaft zubringen wird, ist augenfällig. Oder auch der Gegensatz zum Mörder Kurt Eisners, Anton Graf von Arco auf Valley, der zur Zeit von Mühsams Niederschönenfelder Haft gleichfalls in Landsberg interniert ist: Mühsams ist nämlich mitnichten eine „Arco-Haft mit Sekt, Weibern und Tanzvergnügen“, wie er es sarkastisch kommentiert, sondern der von allerlei Schikanen der Behörden und der Gefängnisleitung geprägte Versuch der reaktionären bayerischen Obrigkeit, mit ihrem Gegner abzurechnen und Rache an ihm zu üben.

Mit Beginn des achten Tagebuchbandes befindet sich Mühsam in Einzelhaft. Im weiteren Verlauf lernen wir Leser eine Vielzahl an von den wechselnden Anstaltsleitern oft täglich neu angeordneten Haftverschärfungsmaßnahmen kennen: Einzelhaft, verschärfte Einzelhaft, Besuchsverbot, Schreibverbot, Badeverbot, kein Kaffee, kein Hofgang, „zu den Akten genommene“ Zeitungen und Briefe, beschlagnahmte Aufzeichnungen – und dagegen andererseits Mühsams beständige Versuche, sich mithilfe von Anträgen und Schreiben an Anstaltsleitung, Staatsanwaltschaft, seinen Rechtsanwalt und verschiedene politische Instanzen vom bayerischen Justizminister bis hin zum Reichspräsidenten Ebert (ein Brief, der freilich nicht zugestellt wird) zu erwehren. Zwar versucht er also, seiner Situation mit juristischen Mitteln abzuhelfen, er erkennt allerdings auch die absichtsvolle Ungeheuerlichkeit der Niederschönenfelder Zustände: „4 Monate Besuchs- und Schreibverbot, die systematische Zersprengung der Familien und der wirtschaftlichen Existenz durch die Art der Besuchszulassung und die Handhabung der Zensur etc.“ Sieben Monate dauert es, ehe er im Juni 1921 seine Frau Zenzl in Niederschönenfeld wiedersehen kann. Und noch über die Erniedrigung innerhalb der Haft hinaus, muss er nahezu wehrlos registrieren, wie seine Gegner ihn auch außerhalb zu denunzieren versuchen. Insbesondere mit einer um Weihnachten 1921 lancierten Kampagne, der zufolge Mühsam und seine Frau Spendengelder zugunsten inhaftierter Kommunisten und Revolutionäre für eigene Zwecke veruntreut hätten.

Diese Vorgänge sind wie beinahe alles, was außerhalb der Festung geschieht, Gegenstand ausführlicher Zeitungslektüre, die sich wiederum in sorgfältigen Protokollen im Tagebuch niederschlägt. Mühsam und seine Haftgenossen lesen – so sie ihnen nicht unter allerlei Vorwänden vorenthalten werden – eine Vielzahl unterschiedlicher Blätter, denen sie die tagespolitischen Vorgänge entnehmen können, und Mühsam kommentiert sie sodann ausführlich: die mühsamen Verhandlungen der Reichsregierung mit den Alliierten um die Frage der Reparationsleistungen, die Konflikte zwischen dem Reich und Polen um Oberschlesien, den misslingenden kommunistischen Aufstand in Mitteldeutschland im März 1921, die rechtsterroristischen Mordanschläge auf Politiker wie den bayerischen USPD-Politiker Karl Gareis oder Reichsfinanzminister Erzberger und so weiter. Beißend spottet Mühsam über die bayerische Staatsregierung unter Gustav Ritter von Kahr in ihrem Dauerkonflikt mit dem Reich und ihren Versuchen, Bayern als antirevolutionäre „Ordnungszelle“ gegen Berlin und die radikale Linke zu positionieren. Darunter muss dann freilich er selbst in Niederschönenfeld leiden – bis hin zum Badeverbot: „verdrecken muß man auch, damit die Sicherheit der Regierung Kahr nicht gefährdet wird.“ Der Druck der Alliierten und der sich durch den Mord an Erzberger schließlich zum Einschreiten genötigt sehenden Reichsregierung führen dann jedoch zum Rücktritt Kahrs.

Die Erwartung, ja die Hoffnung Mühsams auf den baldigen Umsturz der politischen Verhältnisse, mag er nun von kommunistischer oder von rechter Seite ausgehen, – inklusive der Erwartung, seine eigene Haft werde dadurch ein Ende finden – kommt immer wieder zum Ausdruck. Genauso allerdings auch seine wiederkehrende Ernüchterung, ja Verbitterung, dass sie ausbleibt, so etwa in einem Eintrag vom Ostersonntag, 27. März 1921, mit Blick auf die Vorgänge in Mitteldeutschland:

Mich erfüllt ganz die Erregung: wird die Revolution diesmal endlich Entscheidendes bewirken oder wieder der Reaktion neuen Boden ebnen? Zwar weiß ich, daß dieser Boden von Anfang an mit Flatterminen unterlegt wäre und daß über kurz oder lang der Sieg auf unsrer Seite sein muß, aber meine Ungeduld ist groß. […] Die Sozialdemokraten und Unabhängigen nehmen offen die Partei der Gegenrevolution, ebenso natürlich der Gewerkschaftsbund […].

Auch Adolf Hitler – Ende Juli 1921 wird er zum Vorsitzenden der NSDAP gewählt – findet übrigens im Rahmen eines der ausführlichen Presseprotokolle eine erste Erwähnung bei Mühsam. Am 20. September 1921 kann Mühsam in der SPD-eigenen „Münchener Post“ von „Geheimversammlungen der Hitlerschen nationalsozialistischen Knüppelgarde in einer Münchner städtischen Schule“ lesen, die im Gegensatz zu kommunistischen Parteiversammlungen von der Münchner Polizei jedoch nicht behelligt werden.

Es sind sehr unterschiedliche Textformen, die das Tagebuch prägen: neben den Protokollen der alltäglichen Vorgänge in der Haft und um die zahlreichen Mithäftlinge – darunter etwa Ernst Toller und Ernst Niekisch – sowie den Kommentaren zum zeitungsvermittelten Geschehen außerhalb sind es Briefabschriften, Nekrologe – so zu Bethmann Hollweg („Ein Weltverbrecher aus Schwäche und Lauheit. Er wird vor dem Jüngsten Gericht der Geschichte keine gute Figur machen.“) oder Peter Kropotkin („ein furchtbarer Schlag“) –, Aufzeichnungen über den eigenen Gesundheitszustand sowie über gelegentliche Besuche und Hinweise auf die eigene literarische und publizistische Arbeit. Mühsam arbeitet parallel an seinem Roman Ein Mann des Volkes. Politisch bleibt seine Positionierung gegen die revanchistischen und nationalistischen Tendenzen der Tagespolitik, gegen die Kriegstreiberei, den Antisemitismus und Rassismus der politischen Rechten, aber vielleicht mehr noch seine Enttäuschung über das kompromisslerische Verhalten der Sozialdemokraten unzweideutig. So bemerkt Mühsam etwa unter dem 9. Mai 1921 in einer interessanten Volte angesichts der Diskussionen um die Reparationsverhandlungen im Gefolge des Versailler Vertrags: „Eigenartig ist, daß außer den Deutschnationalen, die mit ihrem intransigenten Nein!, mag es noch so dumm sein, doch immer noch die charaktervollsten Politiker in Deutschland sind, noch keine Partei sich zu einer klaren Parole aufgeschwungen hat.“

Dessen ungeachtet haben Kriegs- und Haftjahre Mühsam sichtlich gezeichnet. Die Leichtlebigkeit der Bohème oder die Aufbruchsstimmung der Revolutionszeit sind gewichen, ja, die Zukunftszuversicht des Publizisten scheint angesichts der Gräuel, Verbrechen und der Unredlichkeit der politischen Kräfte Lügen gestraft. Für den heutigen Leser ist es oft nicht leicht, den zahllosen Windungen des Haftalltags und den sich bis dorthin fortsetzenden Fraktionskämpfen der radikalen Linken im Detail zu folgen, und dennoch wird die Perfidie und Wirkungskraft des Unterdrückungssystems der bayerischen „Ordnungszellen“-Politik bis in die Tagebuchzeilen Mühsams hinein deutlich, ebenso wie dessen Versuch, redlich über sich selbst Auskunft zu geben. Dass freilich auch Mühsams Tagebücher selbst immer wieder beschlagnahmt und im Sinne seiner Gegner ausgewertet werden, wirft die noch unzureichend ausgeleuchtete Frage auf, inwieweit diese Kontrolle selbst in seinen Aufzeichnungen Niederschlag findet. So oder so jedoch bleiben Mühsams Tagebücher eine unbedingt interessante Lektüre, und man kann es bedauern, dass deren Ende nun bereits absehbar ist. Über die Entlassung aus Niederschönenfeld hinaus werden sich die Tagebücher nämlich leider nicht mehr fortsetzen.

Titelbild

Erich Mühsam: Tagebücher. Band 8. 1921.
Herausgegeben von Chris Hirte und Conrad Plies.
Verbrecher Verlag, Berlin 2015.
271 Seiten, 30,00 EUR.
ISBN-13: 9783940426840

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Titelbild

Erich Mühsam: Tagebücher. Band 9. 1921-1922.
Herausgegeben von Chris Hirte und Conrad Piens.
Verbrecher Verlag, Berlin 2016.
505 Seiten, 32,00 EUR.
ISBN-13: 9783940426857

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