Wie wurde in der Frühneuzeit disputiert?

Ein Sammelband untersucht das vormoderne Disputationswesen

Von Jörn MünknerRSS-Newsfeed neuer Artikel von Jörn Münkner

Besprochene Bücher / Literaturhinweise

Disputationen als „polyvalente Produktionsapparate gelehrten Wissens“ zu bezeichnen, so der Titel des vorliegenden Sammelbandes, klingt überambitioniert, ja gestelzt. Mit einem Sinn für assoziatives Formulieren und unter der Maßgabe, dass mit ‚Apparat‘ ein polysemer Begriff Verwendung findet, erweist sich die Phrase aber als verwendbar – wenngleich ein terminologisches Unbehagen bleibt: Lateinisch ‚apparatus‘ meint unter anderem ein formales, regelgeleitetes Verfahren. Ein formalisiertes Verfahren mit mehreren Stufen stellt auch das frühneuzeitliche Disputationswesen dar. Der tückischen Begrifflichkeit nicht genug, ist ‚Disputation‘ selbst ein problematisches Wort, vor allem in historischer Perspektive. Die gleich zu Beginn in der Einleitung gebotene Klarstellung der Termini ist folglich sehr zu begrüßen. Die heute geläufige Disputation, mit der wir die mündliche Verteidigung der Promotionsarbeit meinen, ist nicht identisch mit der frühneuzeitlichen disputatio, deren Zuständigkeitsbereich mehr umfasst. Grundsätzlich ist sie als mehrstufiger Akt ebenfalls integraler Bestandteil des Prüfungswesens an Universitäten und Hohen Schulen in der Zeit von ca. 1500 bis 1800. Sie bezeichnet erstens das akademische Streitgespräch, bei dem der Präses (der Promotionsbetreuer und Leiter des Disputationsgesprächs), der Respondent (der betreute Promotionsanwärter, der Thesen verteidigen muss) und der Opponent (Professor, der die Thesen anficht) aufeinandertreffen. Zweitens verweist sie auf die dissertatio, die aber ebenso wenig mit der Qualifikationsschrift identisch ist, die wir heute Dissertation nennen. Die frühneuzeitliche Dissertation meint eher den Duck der zur Disputationsveranstaltung vorgelegten Thesen. Der Promotionsanwärter musste diese Thesen nicht unbedingt selbst verfassen (konnte es aber tun), sondern er übernahm sie vielfach von seinem betreuenden Professor. In der mündlichen Gegenüberstellung hatte er sie erfolgreich zu verteidigen. Drittens erforderte die frühneuzeitliche Disputation keine wissenschaftliche Neutralität gegenüber dem verhandelten Gegenstand, denn sie war Teil eines Unterrichtskonzepts, das auf dem Prinzip der rhetorischen Persuasion basierte. In den Disputationsthesen beziehungsweise der monographischen Dissertation ging es weniger um neue Forschungsimpulse, wenngleich die Erprobung neuer Paradigmen auch stattfand. Häufiger wurden bestehende Positionen rekapituliert, tradiertes Wissen weitergeschrieben und fixiert und die Formen des akademischen Austauschs beim Disputieren eingeübt. So wird deutlich, dass das Disputationswesen (inklusive Dissertationen beziehungsweise Thesendrucke) gut geeignet ist zu klären, „welche Fragen mit welchen Argumenten im Rückgriff auf welche Referenztexte und in Auseinandersetzung mit welchen Gegenpositionen an welchen Universitäten mit welcher praktischen Zielsetzung behandelt wurden.“ Die Einleitung wartet sodann mit einem Forschungsüberblick zum frühneuzeitlichen Disputationswesen in den letzten 30 Jahren auf und positioniert die elf Beiträge auf dem Feld, auf dem das bemerkenswerte, weil breite Funktionsspektrum frühneuzeitlicher Disputationen nach Bearbeitung ruft.

Der Sammelband legt keine expliziten Rubriken fest, denen die Beiträge zugeordnet wären, sondern reiht sie als individuelle Fallstudien und Materialheuristiken aneinander. Das Spektrum der Wissensinhalte, das die vorgestellten Disputationen/Dissertationen verhandeln, reicht von Medizin, Naturkunde und Philosophie bis zu Politik, Rhetorik und Poetik. Jedoch haben die Herausgeber thematisch Benachbartes zueinander gestellt. So gehören die ersten beiden Beiträge von Marian Füssel und Ulrich Schlegelmilch zusammen, denn sie interessieren sich für den Disputationsakt als sozialer und wissenskultureller Praktik; die Beiträge von Sabine Schlegelmilch und Reimund B. Sdzuj verbindet, dass sie anhand jeweils einer konkreten Dissertation eine vorsichtige Descartes-Rezeption nachzeichnen und damit eine klandestine Infiltration von prekärem Wissen in den akademischen Wissensbetrieb thematisieren; die drei letzten Artikel (zwei von Hanspeter Marti, einer von Robert Seidel) haben einen gemeinsamen Fluchtpunkt in der Bestimmung des (Existenz-)Status der prospektiven Universitätsabsolventen, der Gelehrsamkeit und der Litterärgeschichte bzw. historia literaria als konkretem Fach im akademischen Unterricht, Ausbildungsbetrieb und postuniversitären Berufsleben.

Alle Beiträge gehen grundsätzlich davon aus, dass sich die Disputation als Produktionsapparat gelehrten Wissens fassen lässt. Dass dieser Apparat, sprich dieser Verfahrensakt polyvalent ist, ergibt sich laut Herausgeberauskunft aus „den diversen Rollen und sinnstiftenden Bedeutungen, die den Disputationen im inner- wie außeruniversitären Raum in Form des performativen, dialogischen actus wie der textlich fixierten theses zukommen.“ Hier begegnen wir wieder der spannungsreichen Verflechtung von universitärem Streitgespräch, Dissertationsthesen, argumentativem Durchsetzungsvermögen, Wissenspräsentation, Prestigesteigerung, akademischer Profilierung und Selbstdarstellung, wie sie das Disputationswesen in der Frühneuzeit ausmacht. Es zeigt sich aber eben auch, dass dieser Kontext erstaunlich flexibel war, weil er den Beteiligten die Möglichkeit bot, ein prekäres Wissen zu testen und in Umlauf zu bringen.

Zwei Beiträge seien genauer vorgestellt. Dem Disputationsakt, für den viel weniger Quellen vorliegen als die massenhaft überlieferten Thesendrucke beziehungsweise Dissertationsschriften, gilt (wie oben erwähnt) Marian Füssels Interesse. Ihm geht es um den vergleichsweise unterbelichteten mündlichen Schlagabtausch, die körperliche Präsenz der Disputanten, den Raum, in dem das Streitgespräch stattfand und nicht zuletzt um die Wahrnehmungen der Zuhörer. Selbstzeugnisse, Bilder, Satiren und medialitäts- und symboltheoretische Vorschläge sollen nicht weniger als die epistemische, symbolische und instrumentelle Dimension der Disputation als räumlich, körperlich, sinnlich und sprechsprachlich choreographierten Akt freilegen; ein Akt, in dessen Verlauf im Nahraum des wechselseitigen multisensorischen Aufeinandertreffens von Parteien Praktiken und Routinen absolviert wurden. Weniger die ‚Geschäftsordnung‘ dieses Aktes wird so fassbar als die Qualität des Prozedere als performativ, habitualisiert und normiert und zugleich als im kontinuierlichen Flux befindlich und Widersprüche durchaus zulassend. Füssels Argumentation, mit überzeugenden Text- und Bildquellen unterstützt, führt zur nachvollziehbaren Einsicht, dass der Disputationsakt ein variables Instrument war, das der sozialen wie epistemischen Reproduktion diente, während es ebenso gut neues Wissen hervorbrachte und bekanntmachte.

Tanja van Hoorn lässt in ihrem rasanten, konzisen Beitrag ein mehrteiliges Hexen-Dissertations-Ereignis Revue passieren. Wir schreiben die Jahre 1701 bis 1705, Schauplatz ist die wichtigste deutsche Universität der Frühaufklärung, Halle, an der in zwei Fakultäten Dissertationen einen virulenten Hexen-Diskurs aufnehmen und befeuern, um zu Prüfungszwecken den Sinn und Unsinn hexerischer Aktivitäten zu überprüfen. Es geht um nicht weniger als die gelehrte Erörterung, ob die diabolische Einwirkung auf irdische Vorgänge möglich sei. Van Hoorns Auseinandersetzung ist in dreierlei Hinsicht aufschlussreich: erstens sind hochgelehrte und berühmte Personen wie Christian Thomasius in die Hexen-Dissertationen involviert; zweitens wird deutlich, mit welcher Geschwindigkeit die im akademischen Rahmen thematisierte Hexen-Frage auch in gelehrten Kreisen Wellen schlägt, die nicht zur Universität gehören, wodurch sich zeigt, wie sehr die Grenzen zwischen akademischer und sonstiger gelehrter Welt längst offen sind und institutions- und personengruppenübergreifende Kommunikation möglich ist; drittens werden die unterschiedlichen Argumentationsstrategien der Disputationsbeteiligten sowie deren Kalkül erkennbar.

Fazit: Wer Auskunft über die europäische Frühneuzeit und die in ihr gültigen geistigen Strömungen, Bildungsbedingungen, Gelehrten- und Akademikerkarrieren sowie Wissensstrukturprinzipien erhalten will, kann gar nicht anders als sich mit dem frühneuzeitlichen Universitätsbetrieb und der akademisch-universitären Graduierungspraxis zu beschäftigen. Dabei rückt nolens volens das Disputationswesen mit in den Blick. Der Sammelband bietet einen aktuellen Querschnitt der einschlägigen Forschung, mithin eine solide Apodemik für den frühneuzeitlichen Disputationsbetrieb. Wie bei Sammelbänden üblich: Man kann das lesen, was am meisten interessiert. Der Beitragsreigen hält für jeden etwas bereit.

Ein Beitrag aus der Mittelalter-Redaktion der Universität Marburg

Titelbild

Marion Gindhart / Hanspeter Marti / Robert Seidel (Hg.): Frühneuzeitliche Disputationen. Polyvalente Produktionsapparate gelehrten Wissens.
Böhlau Verlag, Köln 2016.
361 Seiten, 50,00 EUR.
ISBN-13: 9783412503307

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