„Wahrheit und Lüge sind nicht so einfach voneinander zu trennen“

Interview mit der Autorin Shumona Sinha und ihrer deutschen Übersetzerin Lena Müller über das Asylsystem und den Roman „Erschlagt die Armen!“

Von Anna-Katharina RiesRSS-Newsfeed neuer Artikel von Anna-Katharina Ries

Anlässlich des vom Haus der Kulturen der Welt in Zusammenarbeit mit der Stiftung Elementarteilchen vergebenen 8. Internationalen Literaturpreises für übersetzte Gegenwartsliteraturen fand das folgende Interview mit dem diesjährigen Gewinner-Duo, bestehend aus der in Paris lebenden indischstämmigen Autorin Shumona Sinha und der aus Berlin stammenden Übersetzerin Lena Müller, am Vorabend der Preisverleihung statt. Geführt wurde das Interview von Anna-Katharina Ries, Lehrerin für die Fächer Deutsch und Französisch und zurzeit wissenschaftliche Mitarbeiterin und Doktorandin in der Französischen Literaturwissenschaft der Universität Bremen. Anwesend war zudem die ebenfalls an der Universität Bremen promovierende Doktorandin Elena Tüting. Gemeinsam arbeiten die beiden an einem Forschungsprojekt zu „Entzauberten Städten in der französischsprachigen Literatur“ von Prof. Dr. Gisela Febel und Dr. Karen Struve. In diesem untersuchen sie die literarischen Stadträume, die von Menschen ohne Aufenthaltstitel (Ries) beziehungsweise Menschen ohne Wohnsitz (Tüting) besetzt werden.

Anna-Katharina Ries: Frau Sinha, als erstes meinen herzlichen Glückwunsch. Sie erhalten morgen Abend gemeinsam mit Ihrer Übersetzerin, Lena Müller, den Internationalen Literaturpreis für Ihren Roman Assommons les pauvres!. In Frankreich ist der Roman bereits 2011 erschienen. Die deutsche Übersetzung von Lena Müller, Erschlagt die Armen!, wurde hingegen erst letztes Jahr veröffentlicht und damit in einer Zeit, die stark geprägt gewesen ist durch die Ankunft einer großen Zahl von geflüchteten Menschen in Europa, insbesondere auch in Deutschland. Man könnte also sagen, dass Ihr Roman, der das Asylsystem kritisch in den Blick nimmt, gerade zur rechten Zeit auf dem deutschen Buchmarkt erschienen ist. Fast ein Jahr später, so scheint es mir, hat sich die mediale Debatte zwar etwas beruhigt, gleichzeitig bleibt das Thema aber natürlich aktuell. Welche Hoffnungen verbinden Sie, gerade in diesem Kontext, mit diesem Preis, einem deutschen, der nicht nur Ihre Arbeit, Frau Sinha, würdigt, sondern auch die Ihrer Übersetzerin?

Shumona Sinha: Zunächst einmal freue ich mich sehr darüber, dass die deutsche Übersetzung von Lena Müller so toll aufgenommen wurde. Als der Roman 2011 in Frankreich erschienen ist, gab es natürlich noch nicht die großen Migrationsbewegungen aus Syrien, wie sie im letzten Jahr zu beobachten waren. Die medialen Debatten um den Roman drehten sich in Frankreich vor allem um die Erzählerin, also in gewisser Weise auch um meine Person. Was ich an Deutschland besonders mag, ist hingegen – vielleicht verfalle ich da auch in ein Klischee – dieser Sinn für das Konkrete, das Machen. Es sind für die neue Spielzeit ab September mehrere Theateradaptionen von Erschlagt die Armen! geplant, in Hamburg und München. Das geht über die rein mediale Aufmerksamkeit hinaus und richtet sich auf die Weiterarbeit mit dem Roman, sodass er sozusagen weiterlebt in der deutschen Version. Das alles ist also noch nicht beendet und gefällt mir sehr. Nun auch noch mit dem Internationalen Literaturpreis geehrt zu werden, ist einfach wunderbar. Es handelt sich um einen sehr renommierten und auch sehr großzügigen Preis, sowohl für die Autoren als auch die Übersetzer. Und natürlich ist das auch sehr bestärkend. Meine Schriftstellerkarriere hat ja erst begonnen, auch wenn ich bereits 2008 einen Roman veröffentlicht habe. Auch die Diskussionen, die wir morgen bei der Preisverleihung erleben werden und die sich auf die Dekonstruktion des Schreib- und Übersetzungsprozesses richten, interessieren mich. Ich kann jedoch nicht sagen, dass ich bestimmte Hoffnungen mit dem Preis verbinde, wahrscheinlich ist ‚Hoffnungen‘ auch nicht das richtige Wort. Auf jeden Fall handelt es sich um eine ganz besondere Anerkennung.

Ries: Ich möchte gerne mit Ihnen über die Arbeit des Übersetzens sprechen. Da Frau Müller noch nicht anwesend ist, lassen Sie uns doch mit der Arbeit ihrer Erzählerin und Protagonistin beginnen. Diese arbeitet ja als Dolmetscherin für Asylsuchende aus Bangladesch, übersetzt also, anders als Frau Müller, keine im eigentlichen Sinn literarischen Texte, allerdings, wie uns die Erzählerin berichtet, häufig dennoch erfundene Geschichten. Die Asylbewerber erfinden oder verändern ihre Geschichten in der Hoffnung, auf diese Weise Asyl zu erhalten und legal in Frankreich bleiben zu können. Hier versteckt sich in Ihrem Roman auch eine Kritik an einem sehr restriktiven Asylgesetz, das nur wenige Migrationsgründe als legitim anerkennt. Können Sie erläutern, welche Rolle der Dolmetscherin in diesem System zukommt? Sie beschreiben sie als „Bindestrich“ zwischen den Bittstellern und den Entscheidern.

Sinha: Ich würde gerne zunächst eine Sache erklären: Die Asylbewerber, die ich beziehungsweise meine Erzählerin getroffen haben, sind bangladeschischer Herkunft, während ich respektive meine Erzählerin aus Indien kommen. Das verschärft die Situation ungemein, denn nach der Dekolonisierung Indiens 1947 und der späteren Unabhängigkeit von Pakistan und Bangladesch blieb eine postkoloniale Verbindung zwischen den Ländern bestehen. Und genau diese ist das Problem. Denn auch wenn in Indien große Armut und soziale Ungerechtigkeit herrscht, hat sich dort doch eine Mittelschicht entwickelt und es gab einen Wirtschaftsboom, sodass sich das Land heute nicht mehr in der gleichen miserablen Lage wie vor 50 Jahren befindet. Nun war eine solche Entwicklung jedoch weder für Bangladesch noch für Pakistan zu beobachten. Und genau deshalb empfinden viele Bangladescher heute einen Groll gegen die Inder. Wenn ich mich nun also von Angesicht zu Angesicht mit den aus Bangladesch stammenden Asylbewerbern befand, so war dies besonders schwierig, denn sie glaubten mir nicht und klagten mich indirekt an, Inderin zu sein, denn als Inderin verstand ich in ihren Augen weder wirklich ihre Kultur noch ihre Not. Abgesehen davon, dass ich als indische Frau sowieso für die vielen Männer nicht in der Position war, Fragen zu stellen, auf die sie antworten sollten, war da eben diese postkoloniale Irritation.

Soweit dazu. Dann zur Rolle der Dolmetscherin. Die Befragungen finden hinter verschlossenen Türen statt und die Leute entwickeln eine Art Paranoia. Jeder verdächtigt jeden. Aus Vorsicht erzählen die Antragsteller also mehr, erfinden Lügen aus der Angst heraus, dass man ihnen nicht glaubt. Wahrheit und Lüge sind dabei jedoch nicht so einfach voneinander zu trennen. Meist ist nämlich ein Teil der Geschichte wahr. Aber dieser kleine Teil Wahrheit genügt der OFPRA[1] nicht, da braucht es mehr. Ich weiß nicht, wie das in Deutschland aussieht, aber wenn in Paris eine Frau wegen Belästigung zur Polizei geht, dann glaubt man ihr erst dann, wenn es körperliche Spuren gibt. Wenn sie keine blauen Flecken hat, dann handelt die Polizei nicht. Erst wenn es sich um eine irreparable Tragödie handelt, dann agieren die Autoritäten. Es muss also körperlich sein, wirklich schlimm.

Die Dolmetscherin sitzt also zwischen allen Stühlen. Auf der einen Seite versuchen die Antragsteller, sie dazu zu bringen, dass sie ihre Geschichte „anpasst“. Wenn sie das nicht tut, dann glauben sie ihr nicht mehr, verdächtigen sie und misstrauen ihr, attackieren sie manchmal sogar körperlich. Auf der anderen Seite gibt es die Beamten, um genau zu sein, zwei verschiedene Typen von Beamten: Die einen denken, dass man, da man gleicher Herkunft ist – auch wenn das gar nicht stimmt im Fall der Inderin und der Bangladescher –, zueinander hält und verstehen es nicht, wenn man dies nicht tut. Sie interpretieren es so, als würde man die eigenen Leute herabsetzen wollen. Und dann gibt es die, die selbst eine eher fremdenfeindliche Einstellung haben, die glauben weder der Übersetzerin noch den Asylbewerbern. Während meine Erzählerin sich dagegen wehrt, sich mit einer Seite zu verbünden, gibt es im selben Raum aber auch immer diejenigen Dolmetscher, die die Pflicht verspüren, ihren Landsleuten zu helfen. Ich kann das jedoch nicht. Weder meine Erzählerin noch ich haben je diese ethnische Solidarität mit dem eigenen Volk verspürt. Und ich glaube auch, dass eine solche Solidarität eine Form des Rassismus ist, denn das würde bedeuten, andere Gruppen abzulehnen. Meine Solidarität richtet sich nicht an ein Volk, mein Land oder das eines anderen; meine Solidarität richtet sich an die Wahrheit, die Gerechtigkeit, die Menschlichkeit. Es gibt doch nicht nur eine bestimmte Gruppe von Menschen, denen man helfen muss. Es braucht Möglichkeiten, um Menschen, die aus ökonomischen oder ökologischen Gründen Bangladesch oder andere Länder verlassen, hier zu empfangen. Dies müssen wir in den Debatten besprechen und hinsichtlich dieser Frage gegebenenfalls auch die Genfer Flüchtlingskonvention von 1951 kritisch hinterfragen.

Ries: Sehen Sie denn eine Alternative zum aktuellen Asylsystem? In Deutschland zum Beispiel hat man in der letzten Zeit immer wieder bestimmte Herkunftsländer zu so genannten sicheren Herkunftsstaaten erklärt oder es zumindest versucht, um die Abschiebung so genannter ‚falscher‘ Flüchtlinge zu erleichtern, das heißt von denjenigen, die eben nicht vor Krieg oder Verfolgung fliehen, sondern in der Hoffnung hierherkommen, ihren ökonomisch und häufig auch ökologisch gebeutelten Ländern zu entkommen.

Sinha: Ja, die sehe ich, denn diese Bezeichnung als sicheres Herkunftsland ist ja in gewisser Weise willkürlich. Nehmen wir einmal Indien, das den Status eines sicheren Herkunftslands hat, obwohl es dort sehr viele kommunitaristische Aufstände und blutige Konflikte gibt. Oder Bangladesch: Vor einigen Jahren hat man es zu einem sicheren Herkunftsland erklärt. Das hat dort eine regelrechte Panik ausgelöst. Heute ist es kein sicheres Herkunftsland mehr. Ich glaube, es ist an der Zeit, das Wort „Flüchtlinge“ zu überdenken. Es geht doch eigentlich darum, für die verschiedenen Notlagen der Menschen Lösungen zu finden. Einige fliehen vor dem Krieg, andere wiederum aus Armut oder aufgrund von Naturkatastrophen. Menschen sind immer schon migriert und man wird sie auch nicht aufhalten können, auch nicht mit Mauern, was einem gerade in einer Stadt wie Berlin bewusst wird. Ich finde es nicht akzeptabel, dass im Zeitalter des erbitterten Kapitalismus und der Globalisierung, in dem das Geld und die Waren frei zirkulieren, immer weniger Menschen frei ihren Wohnort wählen dürfen. Das ist doch total absurd! Damit der Mensch sich frei bewegen kann, braucht es einen anderen Begriff als den des „Flüchtlings“, andere Mittel, die es erlauben, dass er, egal welche Gründe er dafür hat, migrieren kann. Die meisten Bangladescher wollen in der Regel gar nicht ihr Leben lang in Frankreich bleiben. Es gibt die postkoloniale Verbindung mit Großbritannien und in der Folge anderen englischsprachigen Ländern, aber in Frankreich, Deutschland, Spanien fühlen sich die meisten eigentlich nicht wohl. Warum also lässt man diese Menschen nicht für fünf, sechs oder mehr Jahre nach Frankreich kommen und gibt ihnen, um ihre Situation zu legalisieren, eine Arbeits- und Aufenthaltserlaubnis. Es ist das Asylsystem, das mafiöse Vereinigungen produziert, einen Schwarzmarkt, alle möglichen Lügen. Man denke an die Schleuser und Übersetzer, die falsche Papiere besorgen. Wie viele verdeckte Orte gibt es im Großraum Paris, an denen heimlich falsche Papiere fabriziert werden! Das ist so ähnlich wie mit Cannabis. Ich bin nicht für seine Legalisierung, generell bin ich nicht für Drogenkonsum, meine einzigen Drogen sind die Worte und vielleicht die Musik, aber sobald wir etwas verbieten, schaffen wir einen Markt, einen Schwarzmarkt, der daraus ein Geschäft macht. Die Menschen finden immer Möglichkeiten, die Gesetze zu umgehen.

Ries: Ich würde gerne noch einmal darauf zurückkommen, was Sie zur ethnischen Solidarität gesagt haben. Im letzten Jahr ist ein Film herausgekommen, Dheepan[2] von Jacques Audiard, in dem es eine Szene gibt, in der ein Dolmetscher in einer Asylbehörde während der Übersetzung eigenständig die Geschichte der Antragsteller verändert, sodass sie den Kriterien des Asylgesetzes entspricht. In Ihrem Roman schildern Sie ähnliche Szenen, wenn Kollegen der Erzählerin versuchen, ihren Landsleuten zu helfen. Ihre Erzählerin verweigert jedoch einen solchen Solidaritätsakt. Ist das vielleicht auch eine Art des Selbstschutzes, um zum einen natürlich die professionelle Distanz zu wahren, ganz persönlich aber auch, um nicht die eigenen Wurzeln hinterfragen zu müssen?

Sinha: Ich denke, dass meine Erzählerin überhaupt nichts zu verbergen hat in Bezug auf ihre Herkunft. Wie ich bereits gesagt habe, bin ich persönlich absolut gegen ethnische Solidarität, ich bin sogar der Überzeugung, dass sie gefährlich ist. Ich habe so viele Menschen gesehen, die sich in ihre Gemeinschaften zurückziehen, die nicht einmal wirklich wissen, dass sie in Europa leben. Und wenn dann so etwas passiert, wie letztes Jahr die Attentate auf Charlie Hebdo oder im Bataclan, dann betrachten sie diese wie ein Fußballspiel. Als diese Katastrophen geschehen sind, hat es einige meiner indischen oder bangladeschischen Bekannten, die seit 20 oder 30 Jahren in Frankreich wohnen, überhaupt nicht gekümmert. Ich selbst lehne eine solche Mentalität ab und ich kritisiere sie. Ethnische Solidarität ist der Grund dafür, dass nur das interessiert, was im eigenen Land passiert und einem alles andere egal ist. Wenn heute ein Pakistaner in einer Frage, die Indien betrifft, meines Erachtens Recht hat, dann unterstütze ich ihn und nicht mein Heimatland.

Das, was Sie aber gerade gesagt haben, da ist etwas Wahres dran. Die Aufgabe der Dolmetscherin ist es, möglichst neutral zu sein und korrekt zu übersetzen. Ihre Aufgabe ist es nicht, eine Lösung herbeizuführen, denn es gibt keine Lösung. Lügen, die sich zu weiteren Lügen gesellen, bringen nichts. Viele Bangladescher haben mir gesagt, dass sie, hätten sie gewusst, wie das Leben hier tatsächlich ist, nicht gekommen wären. Die Schleuser haben ihnen eine Geschichte erzählt, der sie gefolgt sind und die sie veranlasst hat, ihr Hab und Gut, ihre Häuser, ihr Stück Land, den wenigen Schmuck von Mutter und Frau zu verkaufen. Die Leute, die in Bangladesch arm sind, sind es auch hier in Europa, sie werden hier weder reich noch Teil der Mittelschicht. Das ist eine Illusion. Es ist nur die Farbe, der Geruch des Elends, der sich verändert.

Ries: Eine andere Frage: Im akademischen Diskurs spricht man häufig von „ungehörten Stimmen“, also denjenigen, die zwar sprechen, denen man im Diskurs jedoch keinen Platz zum Sprechen gewährt. Sie kennen vermutlich den berühmten Titel eines Aufsatzes der postkolonialen Literaturtheoretikerin Gayatri Spivak „Can the subaltern speak?“[3], mit der sie sich auf die indische Frau zum einen als Inderin und zum anderen als Frau bezieht, also als doppelt Marginalisierte und damit nicht Gehörte in einer patriarchalischen und damals noch kolonisierten Gesellschaft. In meiner Forschung beschäftige ich mich zurzeit mit den literarischen Stimmen von Menschen ohne legalen Aufenthaltstitel in Frankreich, den so genannten Sans-papiers. Als ich jedoch ihren Roman las, ist mir noch einmal bewusst geworden, dass es noch eine andere Gruppe gibt, denen man selten Aufmerksamkeit schenkt: den vielen Bediensteten aus den verschiedenen Behörden, wie in Frankreich zum Beispiel der OFPRA. Diese arbeiten tagein, tagaus mit den Neuankommenden, hören ihre mal mehr, mal weniger wahren Geschichten, und sind somit Zeugen eines Systems, das mehr schlecht als recht funktioniert und dennoch über so viele Schicksale entscheiden muss. Denken Sie, dass man dieser Personengruppe in Frankreich tatsächlich zu wenig Aufmerksamkeit schenkt?

Sinha: Die Arbeit der Dolmetscher ist tatsächlich eine undankbare Aufgabe. Man dankt ihnen eigentlich nie genug. Was die Dolmetscher bei der OFPRA betrifft, so herrscht dort jedoch nicht nur ein Vergessen, sondern eine regelrechte Missachtung dieser Arbeit. Das ist nicht nur mein persönlicher Eindruck, sondern wurde auch in Gesprächen mit Kollegen deutlich. Nicht nur, dass man uns für Roboter hielt, bei denen es genügt, auf den grünen Knopf zu drücken, damit sie den ganzen Tag lang sprechen, übersetzen. Auch wenn man an die Räumlichkeiten denkt, dann waren das wirklich ganz einfach eingerichtete Räume, mehr als rudimentär. Die Übersetzer waren im wahrsten Sinne des Wortes die Lakaien vom Dienst. Und auch die Beamten waren alles andere als glücklich. Einige von ihnen waren wirklich blasiert und arbeiteten die Fälle nach Nummer ab, stellten wie automatisiert die Fragen. Sie überlegten nicht, sondern füllten die Akten, und wenn sie nach Hause gingen, dann schliefen sie ruhig.

Ries: Glauben Sie, dass das wirklich möglich ist?

Sinha: Für einige sicherlich. Im Grunde ist das eine Art Selbstschutz, um das alles zu überstehen, um sich nicht mit jeder Geschichte neu zu quälen. Aber das ist nur die erste Kategorie von Beamten. Es gibt auch jene, die auf Teufel komm raus den Asylbewerbern helfen wollten. Oder diejenigen, die einen kritischen Blick auf das System werfen. Einmal sprach ich mit einer Beamtin – es sind meist Frauen, die dort arbeiten –, die gemeinsam mit einem Kollegen die Situationen in einem Comic verarbeiten wollte. Ich fand das toll und meinte: Macht das! Sie entgegnete jedoch nur, dass sie das nicht könnten, denn wenn sie das veröffentlichen würde, dann… Sie hat nicht weitergesprochen, nicht gesagt, dass sie fürchtet, ihren Job zu verlieren, nur, dass es nicht der richtige Zeitpunkt gewesen sei. Und als ich dann mein Buch veröffentlichte, geschah ja genau das, ich verlor meinen Job. Ich hoffe, dass man mir das glaubt, aber ich hätte zuvor nie gedacht, dass mein Roman so viel Aufmerksamkeit auf sich ziehen würde. Ich dachte, dass das alles doch ein offenes Geheimnis sei, nur vielleicht nicht im Detail bekannt. Aber ich hätte wirklich nicht gedacht, dass die OFPRA so reagiert. Erst war ich wütend, dann musste ich lachen.

Also um noch einmal auf Ihre Frage zurückzukommen: Ich glaube, dass man diesen Leuten nicht nur nicht zuhört, sondern man sie einfach nicht respektiert. Weder bei der OFPRA noch bei Gericht hat man genug Zeit noch Energie. Man sollte auch nicht glauben, dass dort als Leiter dieser Behörden Politiker oder soziale Aktivisten arbeiten. Es handelt sich um Verwaltungsbehörden und auch wenn die Mitarbeiter über gewisse Kenntnisse verfügen, beispielsweise im geopolitischen Bereich, so handelt es sich letzten Endes doch um Bürokraten, die ihre Vorgaben erfüllen müssen. Der Beweis ist, dass 100 Prozent der bangladeschischen Asylanträge abgelehnt werden. Da hat ein mitfühlendes Herz keinen Platz. Es sind also sowohl die Antragsteller als auch die Sachbearbeiter und Dolmetscher, die allesamt missachtet werden.

Ries: Das, was mich an Ihrem Roman besonders interessiert, ist die Relation zwischen Stadt und Identität. Sie sagten eben, dass die Büros, in denen die Befragungen stattfinden, eher kalt und trist wirken. Das wird auch in Erschlagt die Armen! deutlich. Überdies beschreiben Sie dort die Peripherie der Stadt als „gesichtslose Leerzonen jenseits der roten Markierungen“. Können Sie die Rolle, die der städtische Raum in Ihrem Roman spielt, näher erläutern? Und vielleicht auch, inwiefern er auf ihre Erzählerin einwirkt?

Sinha: Für mich ist zunächst einmal der Körper selbst ein Raum. Sie kennen vielleicht Pussy Riot. Ich liebe das Symbolische dieser Bewegung. Sie benutzen ihren Körper als Botschaft, Flagge, Slogan. Aber vielleicht werde ich lieber etwas konkreter. Mein ganzes Leben gab es für mich nur Paris, immer nur Paris. Wenn ich an Berlin gedacht habe, dann aus vielerlei Gründen, schließlich ist Berlin eine Stadt von weltweitem Einfluss. Ich habe die Stadt jedoch nicht geliebt und versuche daher nun, sie zu entdecken. Und obwohl ich jetzt wirklich für Berlin schwärme, kenne ich die Stadt nicht wirklich gut. Ich weiß nicht, wie sich das hier mit Zentrum und Peripherie verhält. Vielleicht gibt es auch nicht wirklich das Zentrum, denn mit dem Fall der Mauer ist das, was früher die Peripherie der Stadt war, ja zum Zentrum geworden. Paris ist ganz anders. Eigentlich gibt es mehrere Paris, schöne und weniger schöne. Zu dem schönen Teil der Stadt muss man jedoch Zugang haben; fehlen einem die Mittel, zum Beispiel das Geld, dann lebt man in den anderen Teilen. Als ich damals für meine Arbeit als Dolmetscherin oder aber auch als Englischlehrerin mit den öffentlichen Verkehrsmitteln in die Banlieue gefahren bin, konnte ich beobachten, wie sich an den verschiedenen Stationen die Bevölkerung verändert. Es sind die Menschen, die individuellen Körper, die den Raum definieren, transformieren. Als ich das erste Mal in der Banlieue war, war ich sehr schockiert zu sehen, dass in diesen Streichholzschachteln die Menschen leben, die man damals angeworben hatte und die heute nun unsere Bürgersteine, unsere Toiletten putzen. Es ist unfassbar, dass zum Beispiel ganze Bevölkerungsgruppen seit drei Generationen in der Banlieueleben und noch heute die erste Generation ihren Rücken krumm macht, während die zweite und dritte Generation keine Arbeit findet, weil sie Mohammed oder Aïsha heißen. Ich lebte einige Zeit im 16. Arrondissement im Stadtinnern von Paris und wenn ich dort in den Supermarkt ging, dann traf ich häufig eine junge afrikanische Frau, die dort arbeitete und für mich den Fisch auseinandernahm. Einmal sprach ich sie an und sie erzählte mir, dass sie einen Masterabschluss im Bereich Kommunikation hat, jedoch seit ihrem Abschluss vor einem Jahr keine einzige Antwort auf ihre Bewerbungen erhalten hat. Heute überlegt sie, den nicht ausländisch klingenden Namen ihres Freundes anzunehmen. Oder vor einigen Wochen in der Metro, da sah ich ein Plakat gegen ebendiese Form der Diskriminierung. Auf dem Plakat war ein Gesicht zu sehen, dessen eine Hälfte ‚europäisch‘ aussah, während die andere dunkelhäutig war. Die erste Hälfte wurde begleitet von dem Satz „Ich habe etwas für sie“, die andere von „Wir suchen zurzeit nicht“. Für das, was da heute in Frankreich geschieht, gilt es nicht einfach die Gründe zu finden, sondern vor allem auch die Korrelationen in den Blick zu nehmen. Paris intra-muros wahrt seine Grenzen. Alles, was nicht gewollt ist, was stört, wird nach außen, in die Peripherie, in die Leerstellen der Stadt verlagert, wo die physische Leere auf eine kulturelle und intellektuelle trifft. Es fehlt dort an Zielgerichtetheit, an Hoffnung. Das macht für mich städtische Leere aus.

Ries: Sie sagten eben, dass es die Leute sind, die den Raum definieren und dass der Körper selbst ein Raum ist. In Ihrem Roman beschreiben Sie die Stadt – man weiß nicht genau, ob es Paris ist, es könnte auch jede andere Stadt sein – als Frauenkörper, der von den aus Bangladesch stammenden Asylsuchenden eingenommen wird. Das Bild, das Ihre Erzählerin von diesen Männern zeichnet, ist wenig schmeichelhaft. Sie beschreibt sie als unwürdige Kreaturen, deren einziges Ziel es ist, die Stadt auszubeuten. Anstatt sie zu lieben, begehren sie sie nur. Dieser Gegensatz zwischen Liebe und Verlangen erscheint mir doch eine recht patriotische Sichtweise auf die Stadt zu sein. Entschuldigen Sie die vielleicht etwas provokante Frage, aber ist Ihre Erzählerin eine Patriotin?

Sinha: Oh nein, das denke ich nicht. Ich kenne keinen Patriotismus, damit kann ich nichts anfangen. Aus den gleichen Gründen, aus denen ich auch die ethnische Solidarität ablehne. Ich selbst bin weder ausschließlich Inderin noch ausschließlich Französin und ich versuche es auch gar nicht, entweder das eine oder das andere zu sein. Vielleicht ist die französische Sprache meine Heimat, auch wenn mein Französisch noch nicht perfekt ist. Sie ist für mich wie ein Gebäude, dessen Bau noch nicht beendet ist. Ich ziehe es vor, in einem solchen unfertigen Palast zu wohnen. Das Englische ist für mich nie eine Sprache der Literatur gewesen und das Bengalische ebenso nicht mehr.

Ihre Frage interessiert mich aber vor allem im Hinblick auf die Beziehung der Männer zu Frankreich. Ich schreibe in Erschlagt die Armen!, dass die Beziehung zwischen diesen Männern und dem Land nichts weiter als eine Sexgeschichte ist. Wir leben in einer Konsumgesellschaft, in der sich jeder nimmt, was er braucht. Dasselbe könnte ich auch für die ankommenden Frauen behaupten. Dass in dem Roman nun vor allem die Männer eine Rolle spielen, begründet sich einfach damit, dass den Statistiken zufolge mehr Männer als Frauen nach Europa kommen. Womöglich ist Ihnen aber auch aufgefallen, dass sich die Erzählerin mit den wenigen Frauen, die sie trifft, in gewisser Hinsicht solidarisiert. Vielleicht kann man dies im weiteren Sinne als feministisch bezeichnen, zumindest im Ansatz. Ich bin nämlich der Auffassung, dass wir in einer sehr frauenfeindlichen und phallokratischen Gesellschaft leben.

Ries: Ich würde gerne genau auf eine dieser Frauenbeziehungen eingehen, auf das Verlangen der Erzählerin nach Lucia, einer der Beamtinnen. Dieses scheint mir einerseits sehr körperlich, fast sexuell. Wenn sie Lucia wie einen blonden Engel mit einer sehr weißen, fast durchsichtigen Haut beschreibt, wie eine gefährliche, beinahe übernatürliche Schönheit, dann wirkt dies auf mich gleichzeitig fast metaphysisch. Können Sie dieses Verlangen, das mir doch ein roter Faden zu sein scheint in Ihrem Roman, näher erklären?

Sinha: Gerne. Ich denke, Lucia ist tatsächlich so etwas wie eine Metapher, ein Symbol. In ihr habe ich versucht, die ganz verschiedenen körperlichen, aber auch geistigen Züge der Beamtinnen und Beamten zu vereinen, die ich während meiner Arbeit getroffen habe. Ich würde sie nicht unbedingt als Engel bezeichnen, sondern eher als ein über die rein sexuelle Anziehungskraft hinausgehendes Wesen, das in seiner Schönheit so etwas wie einen Notausgang für die Erzählerin darstellt. Lucia ist wie ein offenes Fenster, durch das die Erzählerin atmen kann. Ein unerfülltes Verlangen. Sie ist wie ein Berg, ein Hügel, ein sehr schöner Fluss. Eine Schönheit, die einem Ruhe und Glückseligkeit schenkt. In diese Richtung geht das, denke ich. Aber ja, sie hat auch eine erotische Seite. Ich bin der Meinung, dass wir alle zu einem gewissen Grad bisexuell, also nie zu 100 Prozent homo- oder heterosexuell sind, auch wenn wir uns meist bewusst oder unbewusst für eine Seite entscheiden, diese nach außen tragen und nach innen erkunden. Auch wenn das nur meine persönliche Sichtweise ist und ich sie niemandem aufdrängen möchte, so denke ich doch, dass nie etwas einfach schwarz oder weiß ist.

Ries: Sie denken also nicht in Dichotomien, sondern in einem Raum des Dazwischen, zwischen Frau und Mann, zwischen den Kulturen.

Sinha: Ja, ich brauche diese Zonen des Übergangs, der Undefiniertheit.

Elena Tüting: Was ich sehr auffällig fand, ist, wie sehr Sie im Roman die Hautfarbe der Personen betonen. Zum Beispiel vergleichen Sie die Farbe der Asylbewerber mit der Farbe des Lehms in ihrem Herkunftsland. Welche Bedeutung schreiben Sie der Hautfarbe zu?

Sinha: Wissen Sie, ich komme aus einem Land, das von den Engländern kolonisiert wurde. Und diese Geschichte der Kolonisation hat 190 Jahre angedauert und seine Spuren hinterlassen. Bereits vor der Kolonisation war Indien ein von Rassismus durchzogenes Land und ist es auch heute noch. Die Hautfarbe ist dort sehr wichtig. Wenn Sie die Sonntagszeitung mit den Heiratsanzeigen aufschlagen, dann lesen sie dort zum Beispiel: „Mein Sohn, gut erzogen und ausgebildet, sucht eine gutaussehende Frau“. Und „gutaussehend“ bedeutet in diesem Falle mit heller Haut. Oder denken Sie an die Bollywoodfilme, in denen die Männer eine gori besingen. Gori ist die weibliche Form von gora, das damals wiederum eine Bezeichnung für die Engländer und damit allgemeiner die Weißen war. Gora bedeutet also „Weißer“ und gori weiße Frau. Wenn die Männer nun von ihrer gori singen, dann meinen sie damit eine Frau mit einer hellen Haut. In den intellektuellen Kreisen in den Städten Indiens spricht man über dieses Thema selten, aber auf dem Land, da hat die eine Schwester von dreien mit der dunkelsten Hautfarbe die schlechtesten Karten einen Ehemann zu finden und muss mit der Verachtung, die ihr entgegengebracht wird, zwangsläufig leben. Sehen Sie, das alles spielt auch heute noch eine enorme Rolle. Ein anderes Beispiel: Wenn ich in Kalkutta mit dem Taxi fahre, dann sehe ich dort riesige Plakate, die mit dem Slogan „Fair and lovely“ für eine Creme werben, die die Haut aufhellt. „Fair“ bedeutet hier „helle Haut“. Natürlich gibt es auch in vielen Ländern in Europa den Trend, dass man möglichst gebräunte Haut haben möchte. Schönheitsideale hängen immer von den Kriterien der jeweiligen Gesellschaft ab. Allerdings wird hier niemand dafür missachtet, wenn er nicht gebräunt ist. Das ist ein Unterschied.

Ries: Frau Sinha, Sie haben mehrmals erklärt, dass Ihr Titel als intertextuelle Referenz auf das gleichnamige Prosagedicht des bekannten französischen Dichters Charles Baudelaire zu verstehen ist. In diesem greift das lyrische Ich einen Bettler auf offener Straße an und schlägt ihn zusammen. Allerdings wehrt sich der Bettler und das lyrische Ich erklärt, dass es ihm auf diese Weise seine verlorengegangene Würde zurückgegeben hat. Sie haben einmal gesagt, dass sie mit dem Bezug zu dem Gedicht eine ähnliche Intention verfolgten: Den Asylsuchenden ihre Würde zurückgeben. Der von ihrer Erzählerin mit einer Rotweinflasche attackierte Migrant setzt sich allerdings nicht zur Wehr. Zeigen Sie damit nicht auch das Scheitern dieses Versuchs?

Sinha: Ich glaube, das liegt daran, dass ich nicht das Glück hatte, je einen Bangladescher zu treffen, der diese positive Form der Aggression gehabt hätte. Ich habe so jemanden nicht getroffen, also habe ich ihn auch nicht erfunden, auch wenn ich das natürlich hätte tun können. Man muss die Entstehung des Romans wirklich in seinem Kontext betrachten. Zu dieser Zeit konnte ich einfach nicht etwas einbauen, dass so gar nicht mit der Realität, wie ich sie kannte, übereinstimmte. Die Bangladescher rebellieren nicht, auch dann nicht, wenn sie merken, dass sich das ihnen versprochene Leben im Ankunftsland nicht erfüllt. Sie befinden sich in einer derart prekären Situation, dass sie sich, glaube ich, nicht einmal darüber bewusst sind, dass sie das Recht haben, sich gegen Unrecht zur Wehr zu setzen. Im Gegensatz zu der Einwanderung aus den Maghreb-Staaten oder aus anderen afrikanischen Staaten ist die Einwanderung aus Indien, Bangladesch, Sri Lanka ja noch ganz jung in Frankreich. Und zwischen diesen Einwanderungsgruppen entwickelt sich zunehmend auch, das habe ich in diesem Roman nicht zeigen können, aber in meinem neuen Roman spielt das eine Rolle, eine Art Hierarchie: Erst kommen die Einwanderer aus den Maghreb-Staaten, dann die aus dem subsaharischen Afrika, denn – und das darf man nicht unterschätzen – auch hier spielt die Hautfarbe eine entscheidende Rolle, und zuletzt kommen dann die Einwanderer aus Indien, Bangladesch, Pakistan, Sri Lanka. Letztere sind einer postkolonialen Logik folgend nämlich keine „echten“ Frankophonen und haben daher auch nicht dieselbe Legitimität, in Frankreich zu leben. Doch woher kommt der Rassismus dieser Gruppen untereinander, den ich auch schon selbst erlebt habe? Ich denke, er ist das Resultat eines weißen Rassismus, eines Rassismus, der von den Franko-Franzosen ausgeübt wird und zur Folge hat, dass jede Community versucht, sich von den anderen abzugrenzen. Um selbst überleben zu können, müssen die anderen, die Unterlegenen, ausgestochen werden. Nur so kann ich meinen eigenen Platz sichern. Die Einwanderer sind also Opfer der Ablehnung und lehnen in der Folge selbst ab.

Ries: Frau Sinha, vielen Dank! Nun würde ich gerne Ihnen, Frau Müller, noch ein paar Fragen stellen. Zunächst freue ich mich, dass Sie ebenfalls die Zeit gefunden haben und möchte Sie natürlich auch ganz herzlich zum Internationalen Literaturpreis beglückwünschen.

Lena Müller (die zwischenzeitlich dazu gekommen ist und das Gespräch verfolgt hat): Vielen Dank.

Ries: Ich habe gelesen, dass wir es Ihnen zu verdanken haben, dass der Roman überhaupt in Deutschland veröffentlicht wurde. Wann haben Sie den Roman das erste Mal gelesen und was hat Sie so fasziniert, dass Sie ihn gerne übersetzen wollten?

Müller: Ich habe den Roman 2012 gelesen. Meine Lieblingsbuchhändlerin hat ihn mir empfohlen. Als ich ihn das erste Mal las, war ich, wie so viele, zunächst einmal von der Kraft dieser poetischen, ausdrucksstarken Sprache fasziniert. Und auch von der sehr subjektiven, wütenden Perspektive. Mir war schnell klar, dass diese Art zu Schreiben etwas Seltenes ist und auch etwas Gewagtes. Vor allem diese Erzählerin, die ich mit ihrer Härte und ihren Urteilen überhaupt nicht sympathisch fand, im Gegenteil sogar. Ich spürte da etwas Beunruhigendes in diesem Text und war gleichzeitig auch froh, endlich eine Stimme zu finden, die die Gewalt artikuliert, die darin steckt, dass man Menschen, die ums Überleben kämpfen, zum Lügen zwingt, und die so die Absurdität des Systems aufdeckt.

Ich glaube im Übrigen gar nicht, dass es der Skandal des Buches ist, zu zeigen, dass Menschen Lügen erzählen, wenn sie in diesem einen Moment, den sie haben, die eine richtige Geschichte liefern müssen, die es ihnen womöglich erlaubt zu bleiben. Ich war vielmehr froh, dass es jemand schaffte, dies in eine solche Sprache zu verpacken, vor allem zu jener Zeit, 2011/12, als die Leute sich im wahrsten Sinne noch einen Dreck um das Asylsystem scherten. Gerade angesichts dieser Ignoranz hielt ich es für nötig, dass jemand im Medium der Literatur davon erzählt. Ich übersetzte daher zunächst – damals nahm ich noch am Goldschmidt-Programm, einem Programm für junge Übersetzerinnen und Übersetzer teil – ein oder zwei Kapitel und wendete mich damit an einige Verlage, von denen im Jahr 2013 allerdings keiner interessiert war. Als der Nautilus-Verlag, der zwischenzeitlich von meinem Angebot erfahren hatte, mir dann 2014 anbot, den Roman für sie zu übersetzen, habe ich mich natürlich gefreut. Doch ich merkte auch schnell, dass sich das öffentliche Sprechen über Asyl wandelte. Als das Buch im August 2015 dann erschien, war gerade der Höhepunkt der Debatte rund um die Aufnahme von Asylsuchenden in Deutschland erreicht. Teilweise tat man so, als ob die Geflüchteten uns überrennen würden und dieses Bild von einer Invasion, das da geschaffen wurde, griffen vor allem die Rechtspopulisten und Rechtsextremen auf. Da war ich besorgt, dass die Komplexität dieses Romans nicht verstanden werden würde. Zum Glück stellte sich heraus, dass viele Leserinnen und Leser und die Feuilletons dies eben doch taten. Für mich liegt die Komplexität des Romans vor allem in der Figur der Erzählerin. In ihrer Perspektive kreuzen sich nämlich ganz verschiedene Machtbeziehungen: zwischen den Gebildeten und den weniger Gebildeten, zwischen Reichen und Armen, zwischen Arbeitern und Intellektuellen, zwischen Frauen und Männern, zwischen ehemaligen Kolonisierten und Kolonisatoren, zwischen Schwarzen und Weißen. Ich hatte damals den Eindruck, dass in der öffentlichen Debatte über Asyl solche Vielschichtigkeiten schnell verloren gehen und hätte mir vielleicht gewünscht, dass der Roman zu einem anderen Zeitpunkt erschienen wäre.

Ries: Sie scheinen nicht sehr optimistisch zu sein, was den möglichen positiven Einfluss des Romans auf aktuelle Diskurse betrifft. Man läuft natürlich Gefahr, dass der Roman absichtlich missverstanden wird.

Müller: Es gibt sicher welche, die die Komplexität des Romans nicht verstehen oder nicht verstehen wollen. Ich denke, dass viele Leserinnen und Leser, die den Roman lesen, ihn zum Anlass nehmen, um in ihm selbst nach Antworten auf für sie drängende Fragen zu suchen. Meines Erachtens ist es auch die Aufgabe von Literatur, Fragen zu stellen, einfache oder populistische Antworten jedoch zu vermeiden. Nun ist es aber insbesondere der mediale Diskurs, der mich beunruhigt. Es gibt Zeitungen, die schreiben über den Roman und wählen Überschriften wie „Die Asylbewerber lügen“, die sie dann auf die aktuelle Situation beziehen. Und in der Folge sagt man dann: Seht her, in der Literatur steht das doch auch. Das ist eine Form der politischen Vereinnahmung, die natürlich insofern einfach ist, da der Text, der nun einmal da ist, für sich steht und sich nicht verteidigen kann. Gerade weil er verschiedene interpretatorische Türen offenlässt, ist er empfindlich für Diskurse, in denen es vor allem um Meinungsmache geht.

Ries: Ich würde gerne noch einmal auf die Sprache des Romans zurückkommen. Sie haben gesagt, dass Sie beim ersten Lesen von dem Sprachstil beeindruckt waren. War es diese immer wieder gelobte kraftvolle, ja fast lyrische Sprache, die die besondere Herausforderung bei der Übersetzung darstellte?

Müller: Ich denke, dass ich recht schnell einen Zugang zum Ton des Romans gefunden hatte und auch wusste, wie ich ihn ins Deutsche übertragen soll. Aber im Detail war es dann vor allem die Vielzahl an Bildern, die einen immer wieder überraschen und die teilweise sehr spezifisch sind, deren Übersetzung eine Herausforderung für mich war. Sprachliche Bilder sind ja auch immer emotional besetzt und diese Emotionen möchte man natürlich auch mit übertragen, ohne ins Kitschige zu fallen, denn die deutsche Sprache ist doch sehr anfällig für ein solches Zuviel. Es ging also darum, möglichst stimmige Bilder zu finden und dabei gleichzeitig dem Ton des Textes treu zu bleiben, der ja das Gegenteil von kitschig ist. Er ist durchzogen von einer Wut, die den Roman zusammenhält.

Ries: Meine letzte Frage: Sie haben sich nicht zum ersten Mal mit den Themen Migration und Asyl beschäftigt. Ich bin bei meiner Recherche vorab auf eine Hörspielproduktion von Ihnen gestoßen, die den Titel Zwischen hier und jetzt. Asylgespräche trägt.[4] Als ich mir das Hörspiel anhörte, fühlte ich mich sofort an ein Buch erinnert, das ich vor einiger Zeit einmal gelesen habe: Illegal. Wir sind viele, wir sind da von Björn Bicker.[5] In diesem werden ähnlich wie in Ihrem Hörspiel, in dem Sie Asylbewerberinnen zu Wort kommen lassen, verschiedene Stimmen von Menschen ohne Aufenthaltstitel, die illegal in Deutschland leben, unkommentiert, also ohne explikativen Erzählerkommentar, aneinandergereiht. Hier sprechen also die Menschen selbst, anstatt das jemand für sie spricht. Was hat Sie zu dieser Produktion bewegt?

Müller: Ich habe zwischen 2009 und 2012 häufig ehrenamtlich Menschen geholfen, indem ich für sie bei Behördengängen, beim Arzt oder in ähnlichen Situationen übersetzt habe. Da ich Französisch spreche, habe ich damals vor allem französischsprachige Frauen getroffen, die in Flüchtlingsheimen ohne jegliche Privatsphäre lebten. Du verlierst in diesen Unterkünften immer auch einen Teil deiner Persönlichkeit, wenn du dein Leben mit deiner Familie nicht so führen kannst, wie du es gerne möchtest. Du kannst nicht kochen, was und wie du möchtest, du kannst deinen Raum nicht einräumen, wie es dir gefällt, du kannst nicht alleine sein, wenn dir danach ist, denn es sind immer Leute da, und du kannst dir auch nicht aussuchen, mit wem du zusammen bist. All das nimmt einen Teil von dir, von deiner persönlichen Lebensgestaltung. Diese Frauen, die ich getroffen habe, die haben mir ihre individuellen Geschichten erzählt und davon, dass sie völlig isoliert leben. Ich habe daraufhin einer Redakteurin vorgeschlagen, dass ich die Geschichten der Frauen literarisch verdichte und sie auf diese Weise hörbar mache. Ich glaube, dass diese Strategie, die Menschen für sich selbst sprechen zu lassen, interessant ist, allerdings auch nur eine von vielen Möglichkeiten, die die Kunst bietet.

Ries: Frau Müller, Frau Sinha, ich danke Ihnen für das Gespräch.

Zur Übersetzerin:

Lena Müller, geboren 1982, studierte Literarisches Schreiben und Kulturjournalismus an der Universität Hildesheim und Erwachsenenbildung und Kulturvermittlung in Paris. Sie ist seit 2009 Mitherausgeberin und Redakteurin der französischsprachigen Zeitschrift timult. Seit 2012 arbeitet sie als freie Übersetzerin und Autorin. 2013 war sie Stipendiatin im Goldschmidt-Programm für junge Literaturübersetzer, 2015 erhielt sie ein Aufenthaltsstipendium im Europäischen Übersetzer-Kollegium Straelen.

Anmerkungen:

[1] Office français de protection des réfugiés et apatrides; Bezeichnung für die französische Asylbehörde.

[2] Deutscher Titel: Dämonen und Wunder – Dheepan. Regie: Jacques Audiart, Frankreich 2015.

[3] Zu Deutsch: „Kann die Subalterne sprechen?“. Eigentlich müsste die Frage jedoch lauten „Wird die Subalterne gehört?“, da es um die in den Diskursen agierenden Machtverhältnisse geht, die ein Zuhören auch dann nicht ermöglichen, wenn die Subalternen sich sehr wohl zu Wort melden.
Vgl. Spivak, Gayatri C.: Can the Subaltern Speak? In: Cary Nelson & Lawrence Grossberg (Hg.): Marxism and the Interpretation of Culture. Chicago: University of Illinois Press 1988.

[4] Zwischen hier und jetzt. Asylgespräche. Hörspiel von Lena Müller, Regie: Iris Drögekamp. Südwestdeutscher Rundfunk 2013.

[5] Bicker, Björn: Illegal. Wir sind viele. Wir sind da. München: Kunstmann 2009.