Sprachwechsler, Landwechsler, unverbindliche Zugehörigkeiten

„Das große ABC für interkulturelle Leser“ von Carmine Chiellino

Von Christian RinkRSS-Newsfeed neuer Artikel von Christian Rink

Besprochene Bücher / Literaturhinweise

Mit dem Handbuch Interkulturelle Literatur in Deutschland veröffentlichte Carmine Chiellino 2010 eine Einführung, die sehr schnell zum Standardwerk geworden ist. Schon in dieser breit angelegten und faktenreichen Grundlagenforschung war sowohl der Schwachpunkt als auch der Pluspunkt, dass der Herausgeber aus der Perspektive des Selbstbetroffenen schreibt, der das Feld der engagierten Gastarbeiterliteratur seit den 1970er-Jahren und der interkulturellen Literatur in direkter Nachfolge als Autor und Wissenschaftler aktiv mitgestaltete. Mit dem nun vorliegenden Großen ABC für interkulturelle Leser fasst Chiellino in Stichworten und einem eigenen Analyseapparat seine langjährige Arbeit als Forscher, Dichter und interkultureller Leser zusammen und legt dabei wiederum den Schwerpunkt auf die Hauptwerke der „Gründer der interkulturellen Literatur in Westeuropa“. Der Übergang von der Gastarbeiterliteratur zu der interkulturellen Literatur in deutscher Sprache wurde nach Chiellini 1991 von Franco Biondi mit seinem Roman Die Unversöhnlichen oder Im Labyrinth der Herkunft geleistet, indem nicht länger der Wunsch nach gesellschaftlicher Anerkennung im Mittelpunkt stehe, sondern durch die berufliche Identität des Protagonisten bereits gewährleistet sei, so dass es für Chiellino „dem Sprachwechsler Franco Biondi nur darum geht, seine deutsche Sprache mit einem interkulturellen Gedächtnis und seine Protagonisten mit einem interkulturellen Lebenslauf auszustatten“.

Im Mittelpunkt stehen also Werke, Themen und Motive von Sprach- und Kulturwechslern wie Franco Biondi, V.S. Naipaul, Tahar Ben Jalloun oder Vladimir Nabokov, mit gelegentlichem Blick auf Werke jüngerer Autoren, wobei stets vom Werk selbst und nicht vom angeblichen Sonderfall eines „Migrationsautors“ ausgegangen wird. Einer der bedeutendsten Leistungen ist, dass eine deutschsprachige, interkulturelle Literatur in eine internationale Reihe von Werken mit ähnlichen Themen und Motiven gestellt wird und über die Fächergrenze hinaus europäisch-westliche Phänomene deutlich werden. Dies geschieht durch Stichwörter zur interkulturellen Literatur, die von „impliziter“und „expliziter Adressat“ bis hin zu „Zweisprachigkeit in der Interkulturalität“reichen. Einer kurzen Definition folgen dabei stets Textauszüge aus repräsentativen Werken, Werkbeispiele und danach häufig weitere Angaben zu beispielsweise Sonderfällen oder offenen Fragen. Der Band sollte dabei nicht als Nachschlagewerk im klassischen Sinne genutzt werden, sondern als Fundgrube teils verblüffender Beobachtungen und Einsichten. Es ist einfach ein sehr großes Vergnügen, von Eintrag zu Eintrag und Textauszug zu Textauszug zu springen (immer gibt es eine Wiedergabe von Textstellen im Original und eine folgende, stets hervorragende Übersetzung ins Deutsche) und dabei in Dialog mit den Texten und den Beobachtungen Chiellinos treten zu können.

Erfrischend offen macht Chiellino dabei wiederholt klar, dass er einen sehr subjektiven Zugang verfolgt, von eigenen Leseerlebnissen ausgeht und ein eigenes, gleichermaßen offenes wie enges Konzept von interkultureller Literatur verwendet. Zum einen offen, weil bewusst keine genaue Definition gegeben wird und Ausnahmen, die nicht dem eigentlichen Kern des verwendeten Ansatzes entsprechen, nach eigenem Dafürhalten aufgenommen werden. Zum anderen handelt es sich um eine recht enge Auffassung von interkultureller Literatur. Sie umfasst Werke von Autoren, die in ihren Werken „als Lebensaufgabe“ eine Art Selbsterklärung vollziehen vor dem Hintergrund kultureller und sprachlicher Andersartigkeit und hierbei einen Dialog zwischen Herkunftssprache beziehungsweise -kultur und angenommener neuer Sprache und Kultur im Text führen. Letztlich sind für Chiellino vor allem interkulturelle Werke solche, die nicht in der Muttersprache des Autors geschrieben sind, deren Autor selbst in einen fremden Kulturraum migriert ist und in denen als Zukunftsprojekt diese Erfahrungen verhandelt werden – mit hohen Ansprüchen an den Leser. Oder, wie Chiellino es kürzlich in novelero formulierte, „interkulturelle Literatur entsteht nur in jenen Werken, in denen die zwei Sprachen des Schriftstellers in einem dialogischen Austausch von Informationen treten. Daher kann sich als interkulturell kompetenter Leser nur derjenige betrachten, der, während er die Sprache des Romans, der Erzählung oder des Gedichtes liest, die andere hört“.

Der Band soll dabei potenziellen Lesern helfen, die zitierten Hauptwerke als interkulturelle Literatur angemessen verstehen zu können und eben nicht durch die Brille der Nationalliteraturen zu lesen. Damit verbunden ist der Anspruch Chiellinos, dass mit dieser interkulturellen Literatur Werke vorliegen sollen, die sich der Bezeichnung als „deutsch“ oder „italienisch“ bewusst widersetzen und kulturelle sowie sprachliche Vielfalt als Normalfall etablieren möchten. Das ist gelegentlich etwas pathetisch im Ton, etwa im Eintrag „das Böse und Interkulturalität“, unter dem all das zu verstehen sei, „was Vielfalt jeder Art verhindert, unterdrückt, beschädigt oder zerstört“ und der wiederholten Rede von den „Meistern“, letztlich schmälert dies aber in keinster Weise die Grundlagenarbeit Chiellinos. Gelegentlich würde man sich aber eine Auseinandersetzung Chiellinos mit Werken jüngerer Autoren wünschen, die sehr wohl in einem thematischen Dialog mit den Werken der ‚Gründer‘ treten. Spannend wäre etwa eine Auseinandersetzung mit dem Werk Navid Kermanis, der sich bewusst als deutscher Autor bezeichnet, dessen Roman Dein Name dabei aber ebenfalls einen Dialog zwischen der persischen Sprache und dem Deutschen beinhaltet und der im allgemeinen versucht, das in vielerorts Vergessenheit geratene Erbe Europas von Mehrsprachigkeit und kultureller Vielfalt zurück ins öffentliche Gedächtnis zu führen und dabei eine deutsche Tradition der Ablehnung nationalstaatlichen Denkens herausarbeitet. Auch ließe sich Kermanis schriftstellerisches wie journalistisches Schreiben insgesamt, ebenso wie die „Gastarbeiterliteratur“, als engagierte Literatur bezeichnen. Spannend wäre auch die Auseinandersetzung mit den Texten von Marica Bodrožić – „ich habe als Schreibende nichts anderes außer der deutschen Sprache. Die Verfugungen unserer Wirklichkeiten bringen es mit sich, dass es alles im Plural gibt“ –, die sich eben nicht nur eine neue sprachliche Heimat in ihren Essays und Romanen erschafft. Viele jüngere Autoren machen wiederholt klar, dass die Sprache allen und niemandem gehört und benennen teilweise ganz selbstverständlich Vielfalt als Normalfall. Sie zeigen außerdem auf, dass kulturelle und sprachliche Fremdheit eben nur eine Form der Fremdheit ist. Sasa Stanisic antwortet 2008 auf die obligatorische Frage nach den Sprachen betont lakonisch:

Fragt man mich, ob es schwer ist, in einer Sprache zu schreiben, die ich so spät gelernt habe (ich war vierzehn), antworte ich: Nein. Ich würde sagen, es ist nie zu spät, eine Sprache zu lernen, es frißt nur mehr Zeit weg, die man normalerweise, wenn man älter wird, beim Angeln verbringen würde. Es ist an sich nichts Besonderes an dem Umstand, daß man in einer fremden Sprache schreibt, wenn man meint, man könne sie hinreichend produktiv gebrauchen.

Wer entscheidet denn letztlich darüber, was das Besondere und was das Normale ist? Was ist deutsch? Wem gehört die deutsche Sprache und Kultur? Wie irrsinnig ist eigentlich der Anspruch nach kultureller und sprachlicher Hegemonie? Man kann eigentlich nur hoffen, dass wir das Projekt Europa mit einer gelebten Vielsprachigkeit und kulturellen Vielfalt, die global gesehen ohnehin die Norm ist, weiterverfolgen, allen stumpfsinnigen Forderungen nach kultureller „Eindeutigkeit“ zum Trotz. Dass sich mittlerweile die Einsicht durchgesetzt hat, dass Deutschland nicht nur de facto Einwanderungsland ist, dass kulturelle Vielfalt der Normal- und nicht der Sonderfall ist und wir uns größtenteils nicht mehr über unsere biologische Herkunft definieren, ist nicht zuletzt dem Engagement von Autoren wie Aras Ören, Franco Biondi oder Gino Chiellino zu verdanken.

Dem Wissenschaftler Carmine Chiellino verdanken wir mit dem Großen ABC für interkulturelle Leser einen Band, der eine individuelle, jahrzehntelange Forschungsarbeit zusammenfasst, dabei gerade durch die offene und eindeutige Haltung nachfolgenden Generationen ermöglicht, auf seiner Arbeit aufzubauen – und der einfach eine faszinierende Lektüre bietet. Alles andere als „tote Kadaver“ also.

Titelbild

Carmine Chiellino: Interkulturelle Literatur in deutscher Sprache. Das große ABC für interkulturelle Leser.
Peter Lang Verlag, Frankfurt a. M. 2015.
240 Seiten, 61,50 EUR.
ISBN-13: 9783034320467

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