Mannsbilder, literarisch

Toni Tholen untersucht Männerrollen in der deutschsprachigen Literatur seit 1968

Von Bernd BlaschkeRSS-Newsfeed neuer Artikel von Bernd Blaschke

Besprochene Bücher / Literaturhinweise

Männer mögen in vielen gesellschaftlichen Bereichen immer noch das dominante Geschlecht sein. In den Kulturwissenschaften gibt es dank Frauenbewegung, feministischer Literaturwissenschaft und Gender Studies gleichwohl ein markantes Übergewicht an Studien zu Frauenbildern und Weiblichkeitsrollen im Vergleich zu Männlichkeitsstudien. Doch wird seit zwei Dekaden dieser historische Rückstand durch eine zunehmende Zahl von Untersuchungen zu Figurationen und Problemen der Männlichkeit langsam aufgeholt. Die Krise des Mannes in Schule und Gesellschaft ist im Übrigen schon seit vielen Jahren ein publizistisch weithin verhandelter Dauerbrenner. Jüngst erschien im Metzler Verlag nun auch das erste deutschsprachige Handbuch Männlichkeit; die anglosächsischen Forschungen begannen auch auf diesem Feld schon früher, waren umfangreicher und führten auch schneller zu wichtigen Sammelwerken und Handbüchern.

Toni Tholen, Professor für deutsche Literatur und ihre Didaktik an der Universität Hildesheim, hatte sich 2005 mit einer Studie über den Verlust der Nähe. Reflexion von Männlichkeit in der Literatur habilitiert. Nun legt er einen Sammelband mit zwölf neueren Studien zu Konzepten und Praktiken der Männlichkeit in der Literatur vor. Neben einigen theoretisch und heuristisch orientierten kürzeren Aufsätzen bietet der Band Lektüren und Interpretationen zu etwa einem Dutzend literarischer Werke der Gegenwartsliteratur. Der Titel des Bandes verrät jedoch nicht, dass es hier mitnichten um die Analyse von längeren Wandlungsprozessen oder gar um historische Tiefbohrungen geht. Alles dreht sich hier um Texte seit 1968; viele der besprochenen Bücher stammen aus dem 21 Jahrhundert. Es geht also um die jüngsten Trends, Moden und vor allem: Krisen der Männer. Welche Diagnosen und Entwicklungen halten Tholens Aufsätze, die bis auf einen alle schon verstreut publiziert wurden, nun fest?

Der programmatische Anspruch zielt auf literaturwissenschaftliche Analysen von Männlichkeit, die sowohl systematisch sein sollen, vor allem im Hinblick auf Relationen von Autorschaft, Poetik und Familienexistenz, als auch historisch. Wobei die studierten Texte eben nur von 1960 bis zur Gegenwart reichen und somit eine eher kurze Zeitspanne ausleuchten; allerdings eine, in der alte Männerrollen ins Wanken gerieten. Tholen deutet sowohl Texte, in denen hegemoniale Männlichkeit ästhetisch inszeniert wird als auch solche, in denen marginalisierte Männlichkeit zum Ausdruck kommt. Sein Erkenntnisinteresse gilt insbesondere Texten, die neue, bessere und familienverträglichere Formatierungen von Männerrollen erproben.

Wie im Rahmen neuerer Genderstudien selbstverständlich, wird Männlichkeit dabei nicht als etwas Wesenhaftes und Naturgegebenes begriffen, sondern als soziale, diskursive Konstruktion, die kulturell variabel ist. In offenen, dynamischen und transkulturellen Gesellschaften koexistieren vielfältige Rollenmodelle von Männlichkeit. Männlichkeiten im Plural sind also die Ausgangsannahme dieser literaturwissenschaftlichen Männlichkeitsanalysen. Ideengeber für die Lektüren literarischer Texte sind soziologische Männerstudien, aus denen vier Leitaspekte abgeleitet werden: „Relationalität“ als Merkmal der Männerkonstrukte verweist darauf, dass die Beziehungen von Männerfiguren zu den anderen Figuren eines literarischen Plots konstitutiv sind für die Rollen und den Stellenwert der Männlichkeit; kurzum: ein Mann kommt selten allein. Die Männerbilder ergeben sich erst durch Relationierungen sowohl zu Frauenbildern wie zwischen hegemonialer und minoritärer Männlichkeit.

Letztere Konzepte wurden von Robert W. Connell eingeführt und von Michael Meuser weiterentwickelt; sie verweisen auf dominant-machtvolle männliche Prestigepositionen respektive auf weniger mächtige Außenseitermodelle. Männlichkeit wird zweitens als Narration begriffen, mithin eher im Sinne von geschichtenhaften Männlichkeitsmythen als im Sinne von statisch handlungslosen Männerbildern. Schon Walter Erhart, der wichtige Pionierstudien der germanistischen Männlichkeitsforschung verfasste, begriff Männlichkeit anhand von Familienromanen, deren Rollenbilder und Geschichten sich in der Historie veränderten. Wenn es zutrifft, dass Männer-Bilder, -Rollen und Männermythen vor allem narrativ ausgeprägt werden, dann rückt die Literaturwissenschaft als Spezialistin für die Analyse narrativer Formungen in eine zentrale Position. Genres wie der Familienroman oder das autobiografische Journal als Vaterbuch fungieren dann als Leitmedien der diskursiven Formatierung von Männlichkeit. In diesem Sinne spricht Toni Tholen der anspruchsvollen Literatur und ihrer formbewussten hermeneutischen Exegese sowohl eine kritische wie eine utopische Funktion zu im Hinblick auf die Beobachtung und Transformation von Männlichkeiten. Seine Studien situiert er im Rahmen einer reflexiv-kritischen Theorie der Geschlechter- und Machtverhältnisse.

Weithin nur programmatisch, ohne konkret literarische Veranschaulichung bleibt der Aufsatz zu „Männlichkeiten und Emotionen“, in dem vorgeschlagen wird, Robert Connells Aspekte der Relationalität in Bezug auf die emotional gestimmten Beziehungen von Figuren zu anderen Figuren und Objekten zu untersuchen. So könne man in Texten ergründen, „welche Gefühlssituationen und konkreten Gefühle zur Reproduktion hegemonialer Männlichkeit in mann-männlichen und in männlich-weiblichen Konstellationen führt“ – zudem könne man auch nach dissidenten Gefühlsäußerungen suchen, durch die hegemoniale Männlichkeit infrage gestellt und auf alternative Männerrollen verwiesen werde.

Als Antwort auf die viel beschworene Krise der Männlichkeit fordert Tholen in vielen seiner Aufsätzen eine neue Männlichkeit als „dialogische Subjektivität“, die sich in Liebe und Sorge um sich und andere kümmere und die sich dabei ihrer eigenen Bedürftigkeit (in dieser Hinsicht) bewusst sei. Statt einer solchen wünschenswerten Dialogizität und Zuwendung herrsche jedoch auch und gerade in wichtigen Texten der 68er, so bei Rolf Dieter Brinkmann und Peter Schneider, ein kämpferischer Code, welcher nicht nur Frauen aus vielen Bereichen ausschloss, sondern auch Männer durch Selbstausschließung aus dem Beziehungs- und Familienleben in alten Verhaltensweisen hegemonialer Männlichkeit festhielt.

Der Essay mit der titelgebenden Frage nach „Männerbildern im Wandel“ kategorisiert Männertypen in die „Frontmänner“ (heute sind dies vor allem Manager, Sportler und andere Prestigeberufler) und auf der anderen Seite die „marginalisierten Männer“ aus untergeordneten Klassen oder Gruppen; daneben auch noch „neue Männer“ oder „neue Väter“. Die literarische Figuration eines Frontmannes als aggressiv-narzisstischer Typ wird in Thomas Klupps Roman Paradiso aufgespürt und nachgezeichnet. Marginalisierte Männlichkeit findet Tholen dargestellt in Arno Geigers Figur des kraftlosen Libertins Philipp Erlach in Es geht uns gut, in Annette Pehnts Roman Mobbing sowie in der traumatisierten Titelfigur von W.G. Sebalds Roman Austerlitz.

Einige neue Väter legen in Tagebuch-Publikationen Zeugnis ab vom Wandel, den ihr Leben, Denken und Fühlen durch die Geburt eines Kindes durchläuft. Dirk von Petersdorffs Lebensanfang und Durs Grünbein Das erste Jahr werden hier als exemplarische Texte vorgestellt und analysiert. In anschaulicher Opposition zu Rilkes Sätzen über Mutterschaft und Kunst charakterisiert Tholen, wie für Grünbein die Geburt der Tochter zu einer Neuentdeckung seiner selbst als Mann führe, dabei jedoch nur zu einem minimal veränderten Autorschaftsbewußtsein, da Grünbein letztlich „in innerer Distanzierung vom Erfahrungs- und Gefühlsraum seiner Lebensgefährtin und Tochter“ weitgehend in „der traditionellen Rolle männlicher Autorschaft“ verbleibe. Zwar sei die Zuwendung zu den Kindern und die gründliche literarische Reflexion der Vaterrolle, die sich in diesen Büchern artikuliere, allemal ein Fortschritt, doch findet der Literaturwissenschaftler auch in den Vätertexten Grünbeins, John von Düffels und in Hans-Josef Ortheils Lo und Lu. Roman eines Vaters bemerkenswerte blinde Flecke. Denn deren „Ästhetik der ‚neuen Väter‘ konfiguriert sich nicht selten ohne eine erkennbare Einbeziehung der Frau und Mutter. In den ansonsten eher empfindsamen Vätertexten klafft eine nicht zu übersehende symbolische Lücke.“

Immer wieder untersucht Tholen das spannungsreiche Verhältnis von „Familienmännlichkeit“ und schriftstellerischer Arbeit. Rolf Dieter Brinkmanns Roman Keiner weiß mehr steht als Indiz dafür, dass noch Ende der 1960er-Jahre künstlerische oder intellektuelle Arbeit strikt antagonistisch zur Vater- und Familienrolle des Mannes begriffen wurde: Kind und Frau stören und behindern die Arbeit; sie besetzen Räume und stehlen Zeit, die der Kreative lieber seinem Werk widmen möchte. Peter Handkes Kindergeschichte, 1983 publiziert und ebenfalls eng an biografisch verbürgten Daten entlanggeschrieben, wird hingegen gelobt, weil dieses Buch die väterliche Ambivalenz aus Zuneigung, Aggression und Schuld gegenüber seiner Tochter notiert und schließlich mit einer neuentdeckten Lust am Müßiggang und einer neuen Art des abendlichen, kleinteiligen, stückwerkhaften Schreibens auch eine poetische Antwort auf die neue Familiensituation gefunden wird. Ähnliches gelte für Ortheils Lo und Lu, einem Vater-Tagebuchroman, der bisweilen freilich regelrecht zur Idylle neige. Tholen notiert im Hinblick auf den heiklen und umkämpften Status solcher literarischen Versuche über neue Vaterschaft, dass gerade Rezensentinnen die Vaterbücher von Dirk von Petersdorff und John von Düffel besonders ob ihrer mit Pathos statt Ironie operierenden Ernsthaftigkeit ziemlich kritisch besprachen.

Mit Karl Ove Knausgårds Roman Lieben hat Tholen, den germanistischen Gegenwartsliteraturkanon einmal überschreitend, im einzigen bisher unpublizierten Aufsatz dieser Sammlung auch das wohl radikalste Biografie- und Familienbuch der letzten Dekade im Blick (wenn auch nur einen der sechs Bände des Monumentalwerks, aber immerhin doch den fürs Thema gehaltvollsten). Hier erkennt er eine doppelte Poetik im Werk: „Zum einen entwirft er eine Poetik der Abstandnahme, der Einsamkeit und der Sehnsucht nach dem ganz Anderen. Hier weiß er sich in Gesellschaft mit berühmten Vorfahren, er geht ein in einen Traditionszusammenhang.“ Zum anderen widerspreche Knausgårds Buch und sein Schreiben jedoch dieser verehrten Tradition einer hermetischen Moderne, denn er widme sich weithin der „extensiven Beschreibung von Alltagsszenarien und Konflikten in der Familie und deren sozialem Umfeld.“ Auch seine Frau findet ausgiebig Raum und Anerkennung in Knausgårds autobiografischem Riesenwerk, und zwar vor allem im Modus berichteter Reibungen und Konflikte, was Tholen zu folgendem Schluss bringt: „Die Knausgård’sche Erzählung von Männlichkeit konfiguriert sich im liebenden Streit. Daraus geht das männliche Subjekt nicht als dasselbe hervor.“ Eine solche Offenheit für andere und Anderes, eine transformierte Männlichkeit bildet insgesamt als normativer Horizont den Rahmen oder das implizite Ideal dieser hermeneutischen Erkundungen des Literaturwissenschaftlers im weiten Feld literarischer Männlichkeitsentwürfe.

Der Aufsatz über „Männerbilder in der Literatur von Frauen“ spürt weiblichen Modellierungen von Männerrollen nach und findet doch wieder die bekannten Typen: „Frontmänner“ bei Marlene Streeruwitz, marginalisierte Männer in Annette Pehnts Mobbing-Roman, schließlich aber auch enigmatisch unlesbare Männerbilder in Helene Hegemanns Axolotl Roadkill, wo Täter- und Opfer-, Subjekt- und Objektrollen ebenso schnell und ungreifbar changieren wie Lust, Leid und Gewalt. Angesichts der alle Differenzen einschmelzenden textuell-phantasmatischen Gewaltorgie Hegemanns konstatiert Tholen, dass er wie die Erzählerin in gewissen Passagen nur noch den Verlust seiner Sprache und seiner geschlechterforscherischen Kategorien feststellen kann. Demgegenüber wirkt die klare, anschauliche und reflektierte Prosa des Soziologen André Gorz als ein Modell ethischer wie literarischer Vorbildhaftigekit. Gorz’ 2006 publizierten autobiografischen Text Brief an D. Geschichte einer Liebe liest Tholen als einen unvergleichlichen, selbstkritischen und einfühlsamen Liebesbrief am Ende eines langen Ehelebens. Der gemeinsame Freitod der schwer erkrankten Frau und ihres Mannes 2007 wirkt als Kulmination einer großen, noch im Alter wachsenden und sich wandelnden Liebes- und Beziehungsgeschichte.

Der letzte Text ist Roland Barthes gewidmet und analysiert vier Aspekte, die vielleicht eher mit individuell-ästhetischen als mit spezifisch männlichen Präferenzen zu tun haben: Körper, Lust am Text und Sprache, eine Schreibhaltung/écriture, die eigenes Begehren nicht verschweigt, sowie ein Theoretisieren, das vorrangig aufs eigene Leben und nicht auf stabile Theoriegebäude zielt. Dies sind die originellen und experimentellen Züge, die Barthes’ im Laufe seines Lebens recht wandlungsfähiges Schaffen kennzeichnen.

Einige Wiederholungen kennzeichnen diese Sammlung von Einzelstudien. Manche der Autoren und Thesen kehren immer wieder. Das wird zwar gleich eingangs angekündigt und entschuldigt, doch hätte eine stärkere Überarbeitung und Straffung der versammelten Essays der Lektürefreude der Leser gewiss nicht geschadet. Zudem könnte eine Einordnung der neueren Texte und Entwicklungen in eine längere Geschichte der Männlichkeiten im Wandel die Einsichten und Erkenntnisse historisch besser situieren. Es muss ja nicht gleich bis zur Antike oder dem Mittelalter zurückgegangen werden, doch wäre ein Abgleich mit historischen und literarischen Ereignissen mindestens seit dem 19. Jahrhundert auch für ein Verständnis jüngster Tendenzen durchaus hilfreich. Insgesamt stellt Tholens Band aber einen brauchbaren Begriffsapparat für den Umgang mit literarischen Männlichkeiten zur Verfügung und er erhellt damit einige der diesbezüglich wichtigsten Texte der letzten 50 Jahre. All das geschieht in einem recht gut lesbaren akademischen Stil.

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Toni Tholen: Männlichkeiten in der Literatur. Konzepte und Praktiken zwischen Wandel und Beharrung.
Transcript Verlag, Bielefeld 2015.
215 Seiten, 29,99 EUR.
ISBN-13: 9783837630725

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