Bin ich, wie ich erlebe? Bin ich, was ich erstrebe?

Katja Crone gründet die „Identität von Personen“ im biographischen Selbstverständnis

Von Gertrud Nunner-WinklerRSS-Newsfeed neuer Artikel von Gertrud Nunner-Winkler

Besprochene Bücher / Literaturhinweise

Katja Crone geht es um personale Identität. Wie der Untertitel ihres Buches zeigt, will sie diese durch Eine Strukturanalyse des biographischen Selbstverständnisses erschließen. Personen wissen, „dass sie als Individuen über die Zeit hinweg existieren; sie vergegenwärtigen sich ihre Lebensgeschichte, um sich als Individuen zu charakterisieren, sich Charaktereigenschaften […] zuzuschreiben [… und] sich auf diese Weise von den Eigenschaften anderer Personen abzugrenzen“. Dabei sind sie sich eigener Veränderungen bewusst. Gleichwohl betrachten sie sich „über die Zeit hinweg als numerisch eine Person.“ Identität umfasst also mehrere Aspekte: Selbstgleichheit über Zeit, Unterscheidung von anderen, inhaltlich bestimmte Merkmale der eigenen Person. Der vorliegende Text will diese bislang in getrennten Theorien behandelten Problembereiche „erstmals in einen systematischen, explanatorischen Zusammenhang“ zusammenführen.

Ausgangspunkt sind sprachanalytische Klärungen des Selbstbewusstseins. Das Wort ‚Ich‘ lässt sich ohne Kriterien und irrtumsfrei verwenden. Dieses epistemische Privileg der ersten Person gilt auch für solche psychischen Zustände, zu denen die Person einen unmittelbaren Zugang hat (z.B. Schmerz). Es lässt sich jedoch nicht auf den Inhalt anderer Selbstaussagen erweitern. Zwar kann ich mich nicht darüber irren, dass ich bin, aber sehr wohl darüber, wie ich bin. Diesem an Sprachvermögen gebundenen Selbstbewusstsein liegt ein – in phänomenologischen Ansätzen beschriebenes – ‚präreflexives Selbstbewusstsein‘ zugrunde: In ihrem kontinuierlichen und zeitlich ausgedehnten Erlebnisstrom gewahrt die Person implizit, dass sie selbst Subjekt der Erfahrung ist, und weiß unmittelbar um die eigenen (sich verändernden) körperlichen und mentalen Zustände. Neurowissenschaftliche und entwicklungspsychologische Untersuchungen belegen notwendige Voraussetzungen dieser präreflexiven Selbstvertrautheit: Schon vorsprachlich lernt das Kind durch die raum-zeitlich situierte perspektivische Wahrnehmung des eigenen Körpers und seiner Bewegungen sowie durch frühe soziale Interaktionen zwischen Subjekt und Welt zu unterscheiden. Später erwirbt es dann die für das reflektierte Bewusstsein notwendige Fähigkeit, anderen mentale Zustände zuzuschreiben und eigene psychische Zustände zu repräsentieren.

Im nächsten Schritt geht es um ‚transtemporale Identität‘: Wie ist angesichts von Veränderungen Identität über Zeit zu sichern? Aus der Beobachterperspektive werden empirisch überprüfbare Kriterien vorgeschlagen, etwa physische und/oder psychische Kontinuität. Aus der Innenperspektive gilt: Dank des kontinuierlichen phänomenalen Bewusstseinsstromes wissen Personen implizit, dass sie auch bereits in der Vergangenheit als Erfahrungssubjekte gelebt haben. Unterbrechungen – etwa durch Tiefschlaf oder Koma – werden durch episodisch-autobiographische Erinnerungen überbrückt. Deren Erlebnisgehalt verbürgt – irrtumsimmun – die eigene Fortdauer. Diese rein formale Identitätsbestimmung bedarf allerdings noch der Erweiterung um die inhaltliche Dimension des biographischen Selbstverständnisses.

Aus konkreten Ereignissen und Erfahrungen abstrahierend, gewinnen Personen ihr Selbstverständnis als Summe dispositionaler Eigenschaften (z.B. extrovertiert, warmherzig, eigensinnig). Sie beziehen sich auf Episoden ihres Lebens, „um zu klären, zu definieren und zu rechtfertigen, wer sie sind und wer sie sein wollen“. Solche Selbstnarrationen sind hochgradig selektive Konstruktionen, orientiert an dem Bestreben, die eigene Lebensgeschichte als kohärentes einheitliches Ganzes aufzufassen. Brüche werden als notwendige Wendepunkte gedeutet, Interpretationen mit den Deutungen anderer abgeglichen. Den sozialwissenschaftlichen Verweis auf Inkonsistenzen in der eigenen Selbstwahrnehmung (Stichwort: patchwork identity) weist Crone unter Rekurs auf formale Bestimmungen der Subjektivität zurück: Die Einheit des Subjekts sei eine wesentliche Eigenschaft des Selbstbewusstseins. Auch die in handlungstheoretischen Ansätzen thematisierten Entscheidungen und zugrundeliegenden Wünsche sind für das Selbstverständnis von Personen relevant. Allerdings hat Crone dabei vor allem die Bestätigung inhaltlich-deskriptiver Selbstzuschreibungen im Blick: „Was eine Person tut, getan hat oder tun wird, ist Ausdruck ihrer Persönlichkeit, also dessen, was für eine Person sie ist und von anderen Personen unterscheidbar macht.“

Identität von Personen ist ein vorrangig philosophisch orientierter, anspruchsvoller Text. Er ist außergewöhnlich klar gegliedert: Am Anfang jedes Abschnitts stehen die zu behandelnden Fragen, am Ende ein zusammenfassender Rückblick auf erarbeitete Ergebnisse und eine kurze Vorschau auf Folgefragen. Die Autorin argumentiert sorgfältig und erläutert die teilweise recht komplexen Überlegungen gut nachvollziehbar anhand konkreter Beispiele. Die Verknüpfung sprachanalytischer und phänomenologischer Ansätze mit empirischen Forschungen und Theorien narrativer Identität scheint mir in der Tat innovativ und ist zweifellos fruchtbar.

Besonders interessant und weiterführend finde ich die Fokussierung auf die ‚erstpersonale‘ Sicht. Bei der Rekonstruktion des präreflexiven Selbstbewusstseins gelingt dies überzeugend. Bei der Analyse des reflektierten Selbstbewusstseins hingegen scheint mir die Innenperspektive nicht konsequent durchgehalten. Crone setzt Identität mit biographisch basierter Selbstcharakterisierung gleich. Die Selbstzuschreibung von Persönlichkeitseigenschaften ist jedoch – so wie Zuschreibungen aus der Beobachterperspektive – an intersubjektiv ausweisbaren Kriterien orientiert. In der Tat gleichen Personen ja ihre Selbstnarrationen mit denen anderer ab. Zwar nimmt Crone auch auf handlungstheoretische Ansätze Bezug, etwa auf Wünsche, auf das, was der Person wichtig ist. Aber Handlungen und Entscheidungen sieht sie primär als Chance der Validierung von Selbstbeschreibungen. Letztlich entspricht Crones Konzeptualisierung dem von Tugendhat (1979) kritisierten Subjekt-Objekt-Modell des Selbstbewusstseins („man hat sich vor sich“). Unter Rückgriff auf Heidegger plädiert Tugendhat stattdessen dafür, das Selbstverhältnis als praktisches zu begreifen: „Im ‚ich-bin-Sagen‘ (bin ich) nicht ästhetisch betrachtend auf mein Sein bezogen, […] sondern verhalte mich dazu in der Weise der ‚Selbstbekümmerung‘ […], ich verhalte mich zu meinem Sein als einem solchen, das ich […] ‚zu sein‘ habe.“ Hier wird der Mensch nicht als Betrachtender und Vorstellender, sondern als Handelnder konzipiert, und „als Handelnde sind wir, was wir tun und wollen“. Dabei können wir dank der weiterentwickelten kognitiven und volitionalen Fähigkeiten auch Abstand nehmen von dem, was wir spontan wollen und so zu den Erwartungen anderer wie zu den eigenen Wünschen Stellung nehmen. Zu ihrem eigenen Wollen haben Menschen – so wie Crone dies für das präreflexive Selbstbewusstsein aufgezeigt hat − einen unmittelbaren Zugang. In ihrem Wollen sind sie unvertretbar.

In diesem voluntativen Modell stellen sich das Problem der eigenen Unterscheidbarkeit wie auch das Problem der Rechtfertigbarkeit von Selbstwahrnehmungen anders dar. Zur Unterscheidbarkeit: Aus der Beobachterperspektive sind Individuen (so meine ich entgegen Crones Überlegungen) eindeutig identifizierbar. So garantieren Daumenabdruck, DNA, Bakterienkolonien Unverwechselbarkeit. Solche objektiven physischen Kriterien vermögen natürlich das Bedürfnis nach Einzigartigkeit, das sich aus der Binnenperspektive stellt, nicht zu befriedigen. In dem Maße aber, in dem eine Person sich für das engagiert, was ihr wichtig ist, erwächst ihr eine innere Gewissheit der eigenen Unaustauschbarkeit. Eine Bemerkung Simmels über die Liebe möge diese Behauptung veranschaulichen: „Erotische Beziehungen weisen in dem Stadium der ersten Leidenschaft jeden Generalisierungsgedanken entschieden ab; eine Liebe wie diese habe es überhaupt noch nicht gegeben […]. Eine Entfremdung pflegt […] in dem Augenblick einzusetzen, in dem der Beziehung ihr Einzigartigkeitsgefühl entschwindet; ein Skeptizismus gegen ihren Wert an sich und für uns knüpft sich gerade an den Gedanken, dass man schließlich mit ihr nur […] ein tausendmal dagewesenes Erlebnis erlebe.“ Einen überzeugenden empirischen Beleg liefert Kenniston in seiner Untersuchung der Young Radicals. Im Detail zeichnet er nach, wie junge Studenten einer US Elite Universität sich im Prozess ihres wachsenden politischen Engagements zunehmend gegen den Vietnamkrieg engagierten, sich verantwortlich fühlten, fähig, einzugreifen und etwas zu bewirken, und sich dabei zugleich als einzigartig erlebten. Zur Rechtfertigung: Crone schreibt autobiographischen Erinnerungen eine rechtfertigende Bedeutung zu. Wenn aber nicht Persönlichkeitsmerkmale, sondern das Wollen identitätskonstitutiv sind, dann verliert die narrative Komponente an Gewicht. Personen rechtfertigen ihr Wollen weniger unter Rekurs auf frühere Erlebnisse als auf Momente der intrinsischen Gültigkeit der verfolgten Werte. Am Beispiel: Wichtiger als das Damaskuserlebnis ist für den Apostel Paulus sein Glaube, dass Christus Gottes Sohn ist, und dass er diesen verbreiten will.

Mit der gesellschaftlichen Modernisierung ist das Identitätsproblem virulent geworden. Vordem identifizierten Personen sich mit den ihnen zugeschriebenen Rollen. Alte Grabinschriften bezeugen dies (z.B. ‚Hier ruht der Bauer vom Oberhof‘). Zunehmend sind Menschen heute jedoch selbst verantwortlich dafür, wie sie ihr Leben führen, was für Personen sie sind und sein wollen. Kein Wunder, dass die Identitätsdebatten explodieren. Allein in der Psychologie finden sich zwischen 1973 und 1984 fast 22.000 Publikationen. Offensichtlich ist die Zahl der Texte absolut unübersehbar – zumal wenn man neuere Schriften und andere Fächer einbezieht. Zugleich wird eine Vielfalt kontroverser Positionen vertreten. In diesem Stimmenwirrwarr sticht Crones Arbeit durch die Stringenz der Argumentation und die erfolgreiche Klärung relevanter Probleme heraus. Meine Anfragen relativieren den Wert der Arbeit nicht. Sie illustrieren eine andere Sichtweise, die vielleicht auch als Ergänzung dienen könnte.

Quellennachweise:

Ernst Tugendhat: Selbstbewusstsein und Selbstbestimmung. Sprachanalytische Interpretationen. Suhrkamp, Frankfurt a.M. 1979, hier S. 36f.

Kenneth Kenniston: Young Radicals – Notes on Committed Youth. Harcourt, Brace and World, New York 1968.

Ein Beitrag aus der Redaktion Gegenwartskulturen der Universität Duisburg-Essen

Titelbild

Katja Crone: Identität von Personen. Eine Strukturanalyse des biographischen Selbstverständnisses.
De Gruyter, Berlin 2016.
352 Seiten, 69,90 EUR.
ISBN-13: 9783110246506

Weitere Rezensionen und Informationen zum Buch