Wiederentdeckt ‒ Werther mit Hashtags

„Werther reloaded“ von Franziska Walther

Von Kalina KupczynskaRSS-Newsfeed neuer Artikel von Kalina Kupczynska

Besprochene Bücher / Literaturhinweise

In Heinrich von Kleists kurzem Text Der neue (glücklichere) Werther (1811) tötet die für den lebensmüden Werther (hier Charles C…) bestimmte Kugel nicht den Unglücklichen. Sie geht durch die Wand und trifft, „sonderbar genug“, den alten Ehemann der Frau, die Werther liebt; es kommt zu einer freudvollen Verbindung, aus der 13 Kinder hervorgehen. Nicht ganz so ‚sonderbar‘ endet Franziska Walthers Werther reloaded – der Protagonist begibt sich nach einem Selbstmordversuch in eine Nervenklinik, ihm eröffnen sich ‚neue Wege‘. Was bei Kleist in anekdotenhafter Kürze zugespitzt und humoristisch gelöst wird – das Liebesunglück, die Verzweiflung, die Tat – erfährt in der Graphic Novel eine langatmige, melancholische Reflexion.

Werther reloaded ist, wie man aus einem Kommentar im Anschluss an die Graphic Novel erfährt, „keine Nacherzählung“, der Originaltext fungiere hier vielmehr lediglich als „eine Referenz“. Die Autorin schildert kurz den Entstehungskontext – eine Re-Lektüre des kanonischen Goethe-Textes fünfzehn Jahre nach ihrem Abitur ‒ sowie die Absicht, „den literarischen Text wiederzuentdecken“, bei gleichzeitigem Wunsch, sich vom Original zu „emanzipieren“. Beides erfüllt die Graphic Novel.

Wenn man unter einer „Wiederentdeckung“ einen neuen Zugang zu den Problemen versteht, die der Originaltext stellt, dann gelingt dies hier durch eine Neukontextualisierung der unglücklichen Liebe Werthers. Die Hauptfigur lebt im New York City des 21. Jahrhunderts, arbeitet als Art-Director in einer Werbeagentur, sein Alltag besteht aus Arbeit, Partys mit gelegentlichen One-Night-Stands, U-Bahn-Fahrten und permanenten Anrufen der Mutter. Für diesen Abschnitt der Werther-Geschichte bedarf es kaum Worte – die Panelfolgen erzählen die Wiederholbarkeit der Tage ohne Erzählkommentar wie auch ohne Dialoge. Die Verdichtung der Panels signalisiert das beschleunigte Tempo und die zunehmende Unerträglichkeit der Routine, in der Werther gefangen ist. Während in den ersten ganzseitigen Panels die Brooklyn Bridge und eine Hochhausterrasse die Großartigkeit der Metropole suggerieren, die selbst die Einsamkeit der Hauptfigur nicht mindern kann, so nehmen die immer kleineren Panels im weiteren Ablauf der Story eine beklemmende Qualität an. Der von Anfang an präsente Zählzwang Werthers – er zählt seine Schritte, seine Bewegungen beim Sexualakt – wird, wie die omnipräsente Mutter (die als ein kleiner Hubschrauber den Sohn selbst noch im Schlaf zu überwachen scheint), zu einem enervierenden Automatismus, der Werthers Leben schematisch und lustlos macht.

Einen einzigen Lichtblick gibt es in Werthers Leben, es ist die Hoffnung auf Liebe, die sich im Bild einer Frau aus einer Parship-Werbeanzeige personifiziert. Die Unbekannte füllt Werthers Tagträume, sie bleibt – wie auch seine Sehnsucht nach einem anderen Leben ‒ eine vage Vorstellung, die sich erst konkretisiert, als Werther in den Urlaub verreist. Dort setzt auch Goethes Text an. Mit der Naturbegeisterung, die Werthers Neurosen offensichtlich neutralisiert, taucht auch eine Frau auf, die jener vom Parship-Bild zum Verwechseln ähnlich ist. Nun folgt die Graphic Novel der literarischen Erzählung – längere Passagen aus Goethes Die Leiden des jungen Werther begleiten die Bildfolgen. Mit dem wohlbekannten Ende des ersten Buches – „Und Albert – und – ich muß fort!“ ‒ endet Werthers Urlaub. Die letzten Seiten des ersten Buches sind durch die Farbe Schwarz dominiert, von der sich im letzten doppelseitigen Panel durcheinander geworfene Zahlen abzeichnen – ein Verweis auf Werthers Rückfall in die Neurose.

Den Rhythmus des zweiten Buches bestimmt das Auf und Ab der Hoffnung, von der Angebeteten geliebt zu werden; es ist eingebettet in Werthers New Yorker Tagesablauf, wodurch seine Einsamkeit noch sichtbarer wird. Die bildliche Umsetzung des Leidens realisiert sich durch den Gebrauch düsterer Farben, aber auch durch eine Symbolisierung der Verzweiflung Werthers – die Verzweiflung erscheint hier als willenloses Sich-Fügen der kleinen Figur unter die dunkle Macht der „bösen Geister“, wie es bei Goethe heißt. Ein kleiner Kanarienvogel, der einzige treue Begleiter Werthers, wird in einer Schneelandschaft freigesetzt, nachdem sich Werther spaltet, mithin sein altes Ich verlässt und als nackte, dürre, dunkle Gestalt nach einem Suizidversuch einen Therapievertrag unterzeichnet.

In seinem kurzen Liebesglück und langen Liebesleiden ist Werther allein, aber nicht einsam. Wie im Originaltext gibt es auch hier einen Wilhelm, der allerdings nicht der einzige Adressat der Nachrichten ist – die Briefkommunikation wird, zeitgemäß, durch eine Social-Media-Präsenz ersetzt, wo Werther Bilder mit Hashtags postet. Interessant ist dabei, welche Ereignisse Werther als share-würdig betrachtet – angefangen bei dem Flug in den Urlaub (#Buybuy NYC #happy; 123 Likes) über die ersten Anzeichen der Liebe (#DejaVu#Love; 25 Likes) bis hin zum letzten Post mit dem Bild der Klinik (#Selbstbestimmt#loveyourself; 49 Likes). So wird Werther im Kontext der spätmodernen Narzissmuspflege verortet, wo die Kommunikation nicht einem individualisierten Briefpartner, sondern einer Gemeinschaft von „Freunden“ oder „Followern“ gilt. Diese (darunter offensichtlich auch Lotte) bekommen Einsicht in die intimsten Momente der Liebens- und Leidensgeschichte Werthers, wie auch der Leser selbst, der hier noch mehr als bei Goethe zu einem Voyeur wird.

Die Emanzipation der Autorin vom Originaltext erkennt man in der eigenen Schwerpunktsetzung innerhalb der Werther-Erzählung, was sich u.a. auf der Bildebene manifestiert. Allein wenn man sich die Motive anschaut, die in den historischen Werther-Illustrationen (u.a. von Chodowiecki, Nisle, Kaulbach) bevorzugt wurden, wird der Anspruch der Abgrenzung vom Original deutlich. Von den kanonischen Werther-Szenen wird nur die letzte Begegnung zwischen Werther und Lotte entsprechend umgesetzt – Werther küsst Lotte mit einer Schlangenzunge. Durch die Versetzung der Handlung ins 21. Jahrhundert werden die Akzente anders gesetzt – im Vordergrund steht nicht nur die Liebesgeschichte, sondern auch die Identitätssuche eines jungen Großstadtmenschen. Während Goethes Werther auf Ständebarrieren stößt, hadert sein zeitgenössisches Pendant mit der Helikopter-Mutter und mit dem Zählzwang. Aber nicht nur motivisch setzt sich Franziska Walther ab – ihr eckiger, skizzenhafter Zeichenstil meidet jede historische Anleihe und signalisiert allein in der freien und recht kühnen Farbgebung einen eigenen Strich.

Zu betonen ist hier der souveräne Umgang mit der Ästhetik der Graphic Novel – der Wechsel von vielen kleinen Panels zu einem einzelnen ganzseitigen Bild (und umgekehrt) suggeriert Beschleunigung und Verlangsamung des Erzähltempos. Im ersten Teil übernehmen die Bilder ‒ mit Hilfe von wiederholten Bildelementen und Piktogrammen ‒ vollständig die Narration. So wird die bei Adaptionen literarischer Texte gelegentlich vorkommende Redundanz vermieden.

Walthers Buch ist so angelegt, dass auf die Graphic Novel Werther reloaded der Originaltext von Goethe folgt; zwei Lesebändchen suggerieren eine mögliche Parallellektüre. Dies, sowie ein Erklärungsteil, in dem manche Bildmotive aus der Graphic Novel erläutert werden, legen nahe, dass sich Werther reloaded an ein junges Publikum richtet, dem Goethes Briefroman schmackhaft gemacht werden soll. Die Bildsprache und die souveräne Herangehensweise an den kanonischen Werther lassen hoffen, dass diese Absicht eine Erfüllung findet.

Ein Beitrag aus der Redaktion Gegenwartskulturen der Universität Duisburg-Essen

Titelbild

Franziska Walther: Werther Reloaded.
Kunstanstifter Verlag, Mannheim 2016.
220 Seiten, 24,50 EUR.
ISBN-13: 9783942795371

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