Ein Jahr der Schlagzeilen?

Heinz Duchhardt untersucht das Europa von 1648 und versucht sich an einem zeitgenössischen Pressespiegel

Von Carina LenzenRSS-Newsfeed neuer Artikel von Carina Lenzen und Pinar YigitRSS-Newsfeed neuer Artikel von Pinar Yigit

Besprochene Bücher / Literaturhinweise

„Die Welt bebte im Jahr 1648, aber sie veränderte sich nicht grundlegend“. Diese Worte fassen treffend zusammen, was Heinz Duchhardt, emeritierter Professor für Neuere Geschichte, in seiner detaillierten Analyse der Geschehnisse in Europa 1648 herausstellt. Wenn der Leser, dem Titel folgend, nun tatsächlich gedruckte Presseschlagzeilen jener Zeit europaweit als Untersuchungsausgang erwartet, geht er allerdings fehl. Stattdessen werden zwei, in der Folge jedoch unterschiedlich stark verfolgte Thesen fokussiert, nach welchen der Leser allerdings ein wenig suchen muss. Diese sind einerseits, basierend auf kategorisierten transnationalen Schlüsselereignissen, das Begreifen des Jahres 1648 als eines europäischen Epochenjahrs und andererseits die Unterstellung eines bereits zu jener Zeit vorhandenen „europäischen Bewusstseins“. Im Hinblick auf letztere Frage wird jedoch nicht deutlich, inwiefern dieses Bewusstsein gegeben ist und wo es sich verorten lässt. Dem ersten Aspekt widmet Duchhardt einen Großteil seines Werkes. Zunächst erläutert er auf den Seiten 22–29, dass der Versuch, landesübergreifende Gründe für eine Zäsurbildung des Jahres 1648 zu finden, scheitern muss. Dies veranlasst ihn dann dazu, „[d]ie europäische „Szene“ des Jahres 1648 […] mittels eines Abschreitens der politischen Einheiten im Uhrzeigersinn [zu] beleuchte[n], ausgehend vom Südwesten über den Norden und Südosten und endend in der Mitte des Kontinents“.

Eine zentrale Bedeutung kommt dabei dem Westfälischen Frieden, am 24. Oktober 1648 in Münster unterzeichnet, und der damit verbundenen Beendigung des in Europa grassierenden Dreißigjährigen Krieges zu. Vor allem die Niederlande versprachen sich vom Frieden den „Endpunkt eines langen Kampfes um Selbstständigkeit und Emanzipation von der Krone Spaniens“ . Aufstände und Revolutionen spielten 1648 eine ebenso große Rolle: der Frondeaufstand in Frankreich, die Endphase des englischen Bürgerkriegs (1642–49) sowie das Todesurteil gegen Karl I., welches europaweites Aufsehen erregte. Im Südosten, einem Landesteil, der damals zum großen Teil unter osmanischer Herrschaft stand, wurden die Osmanen zum gemeinsamen Feindbild deklariert, „um die Christliche Welt zu solidarisieren“. Länderübergreifende Feindesbilder könnten, so spekuliert Duchhardt, vielleicht schon gezielt zur Entwicklung eines europäischen Bewusstseins in Umlauf gebracht worden sein.

Dieses Bewusstsein analysiert Duchhardt anschließend mit Hilfe eines sehr knapp geratenen Pressespiegels, in welchem er zwei Zeitungen, die französische Gazette und die Leipziger Wöchentliche Zeitung untersucht. Während er von ersterer jede 25. Ausgabe vorstellt, erstellt er für die 151 erhaltenen Nummern der Leipziger Wöchentlichen Zeitung eine Übersicht über die außerdeutschen Themen, die in diesem Jahrgang quantitativ am meisten behandelt wurden. Außen vor lässt er hierbei jegliche Meldungen zum Westfälischen Frieden, „die in der deutschen Zeitungslandschaft generell an der Spitze rangierten, als ‚deutsche‘ Themen behandelt werden“, obwohl sie freilich nicht nur Deutschland, sondern auch weite Teile Europas betrafen. Ein von ihm auf dieser Basis erstelltes Diagramm auf Seite 178 belegt, dass die Berichterstattung über die britischen Inseln mit 149 Meldungen an erster Stelle rangiert, gefolgt von 92 Meldungen über Neapel und Sizilien. Duchhardt resümiert, dass die Leipziger Wöchentliche Zeitung „exemplarisch wider[spiegele], dass um die Mitte des 17. Jahrhunderts Europa als ein politischer Raum verstanden wurde, in dem und aus dem alles zu interessieren hatte, was für die Zukunft von Belang werden konnte“. Wie er nach der Untersuchung von nur zwei Tageszeitungen zu einer solch allumfassenden Schlussfolgerung findet, bleibt unerklärlich. Ebenso schuldig bleibt Duchhardt die konkrete Lokalisierung des „europäischen Bewusstseins“ innerhalb der Bevölkerung. Der Seite der Verleger als Zeitungsproduzenten steht die des Lesepublikums als Konsumenten gegenüber. Nach den bisherigen Forschungsergebnissen darf wohl kaum davon ausgegangen werden, dass die Leser der Tagespresse allen Bevölkerungsschichten entstammten. Die Tageszeitung als einziger Beleg für die Verbreitung eines kollektiven, alle Gesellschaftsschichten erfassenden europäischen Bewusstseins ist somit fragwürdig – in Anbetracht der überaus begrenzten Auswahl der Untersuchungsobjekte ohnehin nicht repräsentativ, allenfalls für den Leipziger Raum. Duchhardts Resümee, das 1648 „ein annus mirabilis, ein annus horribilis, und zugleich ein annus communicatorius“ gewesen sei, ist sicherlich zutreffend. Die Reise durch die Staaten Europas ist jedoch vorrangig Lesern mit entsprechendem Vorwissen zu empfehlen, die komprimierte und mit zahlreichen Fachtermini versehene Darstellung dürften dem unbedarften Leser, neben der methodischen Herangehensweise, einige Schwierigkeiten bereiten.

Ein Beitrag aus der Redaktion Gegenwartskulturen der Universität Duisburg-Essen

Titelbild

Heinz Duchhardt: 1648 – das Jahr der Schlagzeilen. Europa zwischen Krise und Aufbruch.
Böhlau Verlag, Köln 2015.
200 Seiten, 24,99 EUR.
ISBN-13: 9783412501204

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