Die Chiffren des Kaukasus

Barbara Eder richtet in „Die Morsezeichen der Zikaden“ den Blick auf den verwundeten Osten Europas

Von Sabine HauptRSS-Newsfeed neuer Artikel von Sabine Haupt

Besprochene Bücher / Literaturhinweise

Wien ist das Fenster zum Osten. In ihrem schmalen, aber hochkonzentrierten Erzählband „Die Morsezeichen der Zikaden“ macht Barbara Eder aus dieser historischen und geografischen Binsenweisheit ein ganzes poetisches Programm. Und, um es gleich vorweg zu sagen: Diese junge österreichische Autorin ist eine wahre Entdeckung!

Schon auf den ersten Seiten fällt der programmatische Satz „Kaukasien liegt nicht in Kakanien“. Vor ihrem Abflug nach Armenien, dem Zielort beziehungsweise Schauplatz aller sieben Erzählungen, vermisst die Heldin Johanna die Reisedistanz auf der Landkarte und kommt zu dem Schluss: „Armenien ist mehr als achtzehn Finger Luftlinie entfernt von Europa“. Johanna arbeitet für ein Mobilfunkunternehmen und soll in ungastlich schlecht geheizten osteuropäischen Trainingszentren die kaukasischen Callcenter fit machen für die Kommunikationssysteme des globalen Kapitalismus. Schon im Anflug auf den neuen Einsatzort gehen Johanna kultur- und geschichtsphilosophische Überlegungen durch den Kopf. Sie denkt nach über das Ende der „Utopien und Visionen“, das Verschwinden der „schwerelosen Aufstiege“, wie sie den Glauben an eine bessere Zukunft in ironischer Anspielung an die sowjetische Raumfahrt nennt. An die Stelle vertikaler Träume trat, so das bitter-ironische Fazit der Erzählerin, die „horizontale Expansion“.

Es sind solche Gedankengänge, scheinbar frei dahin assoziiert, doch präzise auf den phänomenologisch-politischen Punkt gebracht und – im Gesamtgefüge der Erzählungen – absolut funktional, die dem schmalen Erzählband sein ganz besonderes Gepräge verleihen. Gelegentlich gibt es zwar Passagen, die etwas zu sehr an herkömmliche, gut informierte Reiseführer erinnern, ein Eindruck, den vereinzelte (durchaus interessante) Fußnoten noch verstärken, doch es überwiegen Beobachtungen, deren konkrete, überaus anschauliche Symbolik nur noch von Eders beeindruckend genauer und origineller Sprache übertroffen wird. So werden Details des armenischen Alltags zu Chiffren einer ebenso tragischen wie verschlungenen Historie, beispielsweise bei der kulturgeschichtlichen Dekodierung einer postsowjetischen Schokoladenpackung oder einer schmutzigen Spitalmatratze, auf der der armenische Onkel im Sterben liegt: „die Aufschrift Europa an der oberen Ecke, made in china.“

An solchen Stellen wird schlagartig klar, wie die Krankheiten dieser geschundenen Randgebiete Europas heißen: Armut, Korruption, sozialer und wirtschaftlicher Zerfall. Und wenn Eder das Sterben des alten Armeniers, der von seiner in der DDR aufgewachsenen Nichte besucht wird, als onomatopoetisch-semiotische Verdichtung schildert: „Letzte Worte, aus Löchern gepfiffen, darunter eines, das in der Mitte zischte wie ein Brandeisen: Deutsch-sch-sch-land.“, offenbart sich ein poetischer Brennpunkt, der – nicht zuletzt in der Titelgeschichte des Erzählbandes – immer wieder eine ganz zentrale Rolle spielt: die Unübersetzbarkeit des radikal Anderen. Dass man – gestrandet nach einem Motorschaden in der Geröllwüste von Bergkarabach – das kyrillische Morsealphabet zum Überleben bräuchte, sich stattdessen aber am monotonen Rhythmus der Zikaden orientieren muss, ist nur eine Variante der zahlreichen „Übersetzungsfehler“, die sich selbst bei der Übertragung vermeintlich „heiliger Schriften“ einschleichen. Doch obwohl das armenische Alphabet der Protagonistin einer weiteren Erzählung wie „ein einziger Sonderzeichensatz“ erscheint und der Leserin schnell klar wird, dass die verstörenden Rätsel des Kaukasus in Eders Geschichten nie ganz erfasst, geschweige denn gelöst werden, auch nicht beim siebten und letzten Aufbruch gen Osten, weil nicht einmal die Zeiger der Uhren übereinstimmen, ist so etwas wie „entfernte Freundschaft“ dennoch möglich. Nicht zu jenen, die „das Zählen und das Zahlen, das Dazugehören zu einem Stamm, einer Gattung, einer Art, einer Nation“ über alles stellen und die Kluft damit noch vergrößern, sondern zu all denen, die, wie die sieben reisenden Heldinnen, immer wieder aufbrechen, um sich dem Fremden anzunähern, indem sie – allen Mühen zum Trotz – stets von Neuem versuchen, sich selbst und ihre Sprache zu entgrenzen.

Dass dabei nicht nur irritierend neuartige (Sprach-)Bilder entstehen, Blicke auf „dünnes Brot, das wie trockenes Tuch von den Wäscheleinen hing“ oder auf müde „Augen wie in aufgebackenem Teig“, sondern auch satirische (Sprach-)Einsichten wie die, dass sich im Russischen „die Wörter für Mann und Maschine nur durch eine feine, fonetische Nuance“ unterscheiden (vergleiche „мужчина“ und „машина“), ist eine der bestechenden Qualitäten dieses absolut überzeugenden Erzähldebüts.

Titelbild

Barbara Eder: Die Morsezeichen der Zikaden. Sieben Erzählungen.
Drava Verlag, Klagenfurt 2016.
110 Seiten, 15,80 EUR.
ISBN-13: 9783854357803

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