Fliegen, Wärmen, Kühlen

Thor Hanson erzählt lebendig und spannend von den Federn, einem Wunderwerk der Natur

Von Georg PatzerRSS-Newsfeed neuer Artikel von Georg Patzer

Besprochene Bücher / Literaturhinweise

1886 ging der junge Bankangestellte Frank Chapman durch die Straßen von New York, um Vögel zu beobachten: „Art für Art konnte er auf seiner Liste abhaken – allerdings waren diese Vögel nicht am Himmel unterwegs, hockten auch nicht auf Bäumen oder pickten Krümel von den Gehwegen auf. Sie schmückten Hunderte von Damenhüten“. Einmal zählte er 700 Hauben, Kappen, Glockenhüte und Hüte mit Krempen, 300 von ihnen waren mit Federn verziert. Mehr als 40 Vogelarten konnte Chapman ausmachen: Lappentaucher, Fliegenschnäpper, Spechte, sogar den Sägekauz – und er zählte nur die einheimischen Vögel, nicht auch noch die Exoten. Irgendwann nach dem Ersten Weltkrieg hörte diese Mode und das Millionengeschäft mit den Federhüten auf. Heute gibt es nur noch Spitzencouturiers, die sie herstellen. Und Kostümdesigner der großen Shows in Las Vegas schmücken Tänzerinnen mit riesigen Federn: Kistenweise lagern dort Straußen-, Nandu-, Fasan-, Truthahn-, Hühner- und Entenfedern in allen Größen und Farben. Die Kostüme werden gehegt und gepflegt, immer wieder sorgsam ausgebessert, denn ein neues würde einige 10.000 Dollar kosten.

Federn sind ein Wunderwerk der Natur. Sie schützen die Vögel vor Kälte und vor Hitze und halten sie trocken. Es gibt allerdings eine interessante Ausnahme: Die Federn der männlichen Flughühner in der mongolischen Wüste können im Gegenteil Wasser aufsaugen und speichern, damit die Jungen trinken können. Federn dienen als Schmuck, um bei der Balz zu beeindrucken, die Weibchen sind meist wenig bunt, damit sie beim Brüten von ihren Fressfeinden nicht erkannt werden. Die Keulenschwingenpipra macht sogar Musik mit ihren Flügeln, es klingt wie eine Geige, und man brauchte Jahrzehnte, bis man herausfand, wie sie das bewerkstelligt (sie reibt sie aneinander). Und natürlich können Vögel mit ihnen fliegen – die meisten zumindest.

Aber wie und warum entstanden Federn? Warum können Vögel fliegen und warum tun es manche nicht? In einem wunderbar lebendig geschriebenen und staunenswert materialreichen Buch geht der US-amerikanische Biologe Thor Hansen dieser und allen anderen Fragen rund um die Feder nach. Einen großen Teil seines Werks widmet er der Frage, wie sich die Federn entwickelt haben: Ob Dinosaurier auch schon Federn hatten und wie es dazu kam, dass manche Tiere sich vom Boden lösten und in die Luft schwangen. Zwei Theorien gibt es darüber: Die Vom-Boden-hoch-Theorie und die Vom-Baum-herunter-Theorie. Einige Wissenschaftler meinen, die Vögel (oder Flugsaurier) wären vom Boden gestartet, andere glauben, sie hätten sich von den Bäumen fallen lassen und das Fliegen so gelernt. Aber warum haben sie Federn entwickelt, „wenn es ein schnöder Hautlappen (wie bei der Fledermaus) auch tut“? Dummerweise, beklagt sich auch Hanson, gibt es weder eine Zeitmaschine noch genug Versteinerungen, die die Entwicklung über die Jahrmillionen dokumentieren würden, und nur sehr wenige Artefakte zeigen überhaupt Federn. Vieles von dem, was man ‚weiß‘, ist nur Theorie und eine Annäherung an Wahrscheinlichkeiten, gesteuert von Vorannahmen, und genüsslich zitiert Hanson den berühmten amerikanischen Journalisten H.L. Mencken: „Für jedes komplexe Problem gibt es eine Lösung, die einfach, einleuchtend und falsch ist.“

Es ist sehr spannend mitzuverfolgen, wie Hanson die Diskussion zwischen den Wissenschaftlern verfolgt und präzise aufzeigt, welchen Einfluss die neuen Entdeckungen in China hatten. Hanson zitiert ausführlich die Meinungen der führenden Archäologen, mit denen er oft telefoniert oder sie sogar besucht hat. Diese Strategie verfolgt er auch bei allen anderen Themen: Stets ist es ein Experte, der ihm und uns sein Wissen ausbreitet, ein Fliegenfischer, eine Hutmacherin, ein Hühnerforscher, ein Falkner, ein Kalligraph, ein Fallschirmspringer, ein Federnfabrikant, ein Aerodynamiker und so weiter. Denn Hanson belässt es nicht bei der Erklärung von Entstehung und Funktion von Federn, er beschreibt auch haarklein, welche Struktur die Federn haben und welchen Zweck sie damit erfüllen: Zum Beispiel, wie fein abgestimmt die einzelnen Federn funktionieren, wenn Greifvögel oder Raben sie benutzen. Hanson deckt wirklich jedes Thema ab, bei dem Federn eine Rolle spielen. Auch für uns Menschen. Denn auch wir profitieren in mancherlei Hinsicht von ihnen: Jahrhundertelang schrieben und malten wir mit ihnen, bezahlten mit kostbaren, ausgefallenen Stücken. Lassen uns von Daunen wärmen und stecken sie uns an den Hut. Und sie inspirierten uns, tun es auch heute noch, wenn es ums Selberfliegen geht: Von Dädalus über Leonardo da Vinci bis zu den Gebrüdern Lilienthal und Wright. Auch heute noch werden ornithologische Entdeckungen zu Verbesserungen an Flugzeugen benutzt, zum Beispiel die aufgerauten Teile der Eulenflügel für die Lärmminderung an Flugzeugflügeln. Und die Fliegenfischer benutzen Federn für ihre selbstgebastelten Fliegen mit den schönen Namen „Muddler, Nymphen, Streamer, Skunks, Popper, Gummibeine, Duns, Hiltons, Agitators, Wogs und Articulated Leeches.“

Die Fülle an Fakten in diesem Buch ist schier unerschöpflich: Dass Wasser der ungeschützten Haut 25 mal so schnell Wärme entzieht wie Luft und Wasservögel deswegen besonders dicht befiedert sind, dass Kormorane eine besondere Struktur in ihrem Federkleid haben, dass Falken beim Sturzflug 398 km/h erreichen können, Paradiesvögel ein erstaunliches Balzkleid und einen ausgefeilten Balztanz hinlegen können – Hanson nennt das „Prunk und Protz“ – und dass Blut Federn bis zur Unbrauchbarkeit verklebt, Geier deswegen einen kahlen Hals und Kopf haben. Hanson berichtet, dass Vögel nicht nur eine Lunge haben, sondern neun Luftbeutel hintereinander, die über den Körper verteilt sind, sodass auch sie gekühlt werden, dass es geheime Expeditionen gab, um eine bestimmte Straußen-Unterart zu finden, deren Federn besonders teuer gehandelt wurden und vieles mehr. Biologie, Paläontologie, Kulturgeschichte, Psychologie, Verhaltensforschung, Wirtschaft, Werbung – Hanson streift viele Gebiete mit großem Kenntnisreichtum und ist dabei systematisch und lebendig in der Darstellung. Sein Enthusiasmus bei all den Erfahrungen springt unmittelbar auf den Leser über – vermittelt übrigens auch durch den Enthusiasmus all der Experten, die er traf und interviewte.

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Thor Hanson: Federn. Ein Wunder der Natur.
Herausgegeben von Judith Schalansky.
Übersetzt aus dem amerikanischen Englisch von Meike Herrmann, Nina Sottrell und Daniel Fastner.
Matthes & Seitz Verlag, Berlin 2016.
276 Seiten, 38,00 EUR.
ISBN-13: 9783957572325

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