Ist religiöse Toleranz nicht zu tolerieren?

Ein von Martin Wallraff herausgegeber Band ermöglicht auf spätantiker Basis Positionierungen in einer aktuellen Diskussion

Von Jörg FüllgrabeRSS-Newsfeed neuer Artikel von Jörg Füllgrabe

Besprochene Bücher / Literaturhinweise

Der als ein Ergebnis eines der alle zwei Jahre vom Collegium Rauricum im Schweizer Augst veranstalteten ‚Colloquia Raurica‘ hervorgegangene Sammel- beziehungsweise Tagungsband ‚Religiöse Toleranz‘ scheint perfekt in die Tagesaktualität und die Diskussion um die Fragen der Religion und religiöser Toleranz zu passen. Es steht zu vermuten, dass dieser Umstand auch den Veranstaltern bewusst gewesen ist. Auch die Einleitung des Herausgebers, Martin Wallraff, weist in diese Richtung. Gleichwohl ist der Anlass als solcher kein übermäßig aktueller gewesen, ging es doch um eine Art Zusammenschau der ‚1700 Jahre Edikt von Mailand‘, also in eine Zeit, in der die dritte der sogenannten monotheistischen Religionen noch gar nicht existierte.

Dieser historisch gegebene Umstand mag hinsichtlich einer eindimensionalen Zuordnung auf gegenwärtige Verhältnisse (das heißt die Diskussion um eine entsprechende Bewertung des Islam) zunächst als bedauerlich erscheinen, ist aber paradoxer Weise in jedem Fall erfrischend, weil dadurch ein weiterer Blick auf das Phänomen und die Begrifflichkeit ‚Toleranz‘ ermöglicht wird, als das etwa beim ‚Wettstreit‘ um die Frage, ob der mittelalterliche Islam oder das Christentum toleranter gegenüber religiösen Minderheiten waren, der Fall ist.

Und so wird womöglich bereits das Vorwort des Herausgebers einem sich weltläufig empfindenden Kreis mitunter Schauer des Entsetzens über das tolerante Rückgrat jagen. Etwa dann, wenn Wallraff gleich zu Beginn konstatiert: „Religiöse Toleranz ist in aller Munde. Obwohl – damit verbunden – Diversität als Ideal hochgeschätzt wird, sind unterschiedliche Meinungen zur religiösen Toleranz kaum erwünscht, ja kaum denkbar: Man ist dafür, man setzt sich dafür ein. Toleranz im Allgemeinen, in Religionsfragen im Besonderen gehört zu den unhinterfragten Leitbildern unserer Gesellschaft.“ Auch wenn Wallraff gleich darauf zurückrudert, ist mit diesem eher überraschend gebrochenen Präludium ein Aspekt des ‚wider-den-Stachel-Löckens‘ gegeben, der zumindest in meinen Augen einen wesentlichen Reiz vorliegender Publikation ausmacht – und im Laufe der Lektüre insofern eine historische ‚Erdung‘ vorgenommen wird, als das Mailänder Edikt die Ausgangsbasis darstellt.

Lobenswert erscheint es mir eben auch, durch diese Publikation ein wesentliches Ereignis der europäischen Geistesgeschichte gewürdigt zu sehen, das im allgemeineren Bewusstsein keineswegs so präsent ist, wie das eigentlich der Fall sein sollte, denn das Toleranzedikt von Mailand kann zweifelsohne als ein wesentliches Datum der europäischen Geistesgeschichte angesehen werden. Und dies gilt vielleicht auch gerade, weil es eben nicht, wie oft fälschlich kolportiert, das Christentum zur Staatsreligion erhob, sondern die Ausübung christlicher Praxis im römischen Staatswesen lediglich duldete. Aber natürlich bleibt die Veröffentlichung nicht in Mailand stehen, und so finden sich eben die erwähnten Perspektiven auch auf die Gegenwart, sogar an so prominenter Stelle, dass die beiden diesbezüglichen Beiträge den ersten Hauptteil, ‚Der moderne Toleranzbegriff‘, bilden.

Die Frage nach dem Gegenwartsbezug wird dergestalt bereits im provokativen und provozierenden Beitrag von Andreas Urs Sommer, ‚Toleranz und Relativismus‘, gestellt beziehungsweise aufgeworfen. Und dabei weist Sommer die Untauglichkeit des Begriffs in der Form, in der er gegenwärtig Verwendung findet, auf geschickt argumentierende Weise nach. Etwas weniger provokativ, wenngleich ebenso informativ ist Gisela Schlüters Beitrag ‚Von religiöser Toleranz zu Tolerantismus‘, der sich der Zeit der Aufklärung und der Wirkungsgeschichte Konstantins des Großen in dieser Epoche widmet.

Die beiden folgenden Hauptabschnitte (‚Spätantike und Toleranz‘ sowie ‚Wirkungsgeschichte in der Neuzeit‘) sind deutlich direkter am Anlass, eben dem Mailänder Toleranzedikt des Jahres 312 gewidmet. Dabei bieten sich unter der Überschrift ‚Spätantike und Toleranz‘ Einblicke in die Verhältnisse des 4. nachchristlichen Jahrhunderts und die seinerzeitige Diskussions- und Diskurskultur. Autorennamen wie Giuseppe Zecchini, Johannes Wienand, Noel Lenski, Jörg Rüpke, Sebastian Schmidt-Hofner und das Duo Hubert Cancik und Hildegard Cancik-Lindemaier bürgen für einen abwechslungsreichen Quer- und Längsschnitt in dieser Übergangsphase der europäischen Kulturgeschichte.

Im Zuge der ‚Wirkungsgeschichte‘ wirft noch einmal Martin Wallraff einen Blick auf ‚Konstantin und das Mailänder Edikt in der Historiographie der Reformationszeit‘. Lothar Vogel (‚Pietismus und Gewissensfreiheit‘), Stefan Rebenich (‚Allgemeine Toleranz‘), Hartmut Leppin (‚Instrumentelle Toleranz und Jakob Burckhardts Constantin) sowie Arnaldo Marcone (‚Das Edikt von Mailand in der politischen Kultur Italiens im 20. Jahrhundert‘) erweitern die Palette der Rezeption des Mailänder Dokuments in thematischer wie zeitlicher Dimension. Zugegebenermaßen vermag nicht jeder der Beiträge in gleichem Maße zu fesseln, gleichwohl lohnt es sich, auch eher abseitigere Aspekte zumindest einmal ‚querzulesen‘.

Der Aufbau des vorliegenden Bandes folgt einer ungewöhnlichen, gleichwohl jedoch gelungenen Dramaturgie – von der Gegenwart wird der Blick zurück auf die Ausgangsbasis gelenkt, um sich über die Rezeptionsgeschichte wieder gegenwärtigen Gegebenheiten anzunähern. Das ist so überraschend wie geschickt und entspricht dem eingangs angesprochenen Habitus, sich gegenüber dem ‚Mainstream‘ tagesaktueller Diskussionen querzustellen. Das macht – wie bereits erwähnt – einen nicht unwesentlichen Reiz der Lektüre dieser Publikation aus. Dass die aufgenommenen Beiträge eine breite Basis an Quellen und Sekundärliteratur nachweisen, muss nicht eigens betont werden. Hilfreich, wichtig und darüber hinausgehend ist das achtseitige Stellenverzeichnis, in dem biblische wie antike Quellen nachgewiesen sind.

Was lässt sich nach also anregender Lektüre der Beiträge dieses Buches konstatieren? Der vorliegende Sammelband kann inhaltlich – und das gilt für die ‚reine‘ Informationsbasis wie die Anregungen zum weiteren Diskurs – uneingeschränkt empfohlen werden. Empfohlen sei er auch nachdrücklich über den engeren Kreis der an früher Kirchengeschichte Interessierte hinaus. Denn allein auf Grund der geleisteten Definitionsarbeit weist er in die Gegenwart. Der Band liefert eine wesentliche Basis, sowohl für den historischen Zugang und eine frühere Rezeptionsgeschichte der Ereignisse um und nach Mailand, weist aber eben auch einen Weg zur Diskussion aktueller Gegebenheiten auf.

So vollumfänglich positiv das alles ist, eines muss gleichwohl bemängelt werden: der Preis. Hierdurch wird die vorliegende Publikation vermutlich nicht die Verbreitung erreichen, die das Buch eigentlich verdient, sondern eine Sache für Bibliotheken bleiben. Vielleicht wäre es – aber das bleibt angesichts tatsächlicher und vermeintlicher Probleme wohl nur frommes Wunschdenken – an der Zeit, dass von seiten der Bildungspolitik auch solche, der Anwendungspraxis eher fernen Publikationen finanzielle Unterstützung fänden. Nur haben vermutlich Geisteswissenschaft im Allgemeinen und Mediävistik im Besonderen hierfür einfach keine einflussreiche Lobby aufzubieten…

Ein Beitrag aus der Mittelalter-Redaktion der Universität Marburg

Titelbild

Martin Wallraff (Hg.): Religiöse Toleranz. 1700 Jahre nach dem Edikt von Mailand.
De Gruyter, Berlin 2016.
350 Seiten, 99,95 EUR.
ISBN-13: 9783110370874

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