Wales, im Westen von England

Eine Kulturgeschichte von Michael Maurer

Von Lutz HagestedtRSS-Newsfeed neuer Artikel von Lutz Hagestedt

Besprochene Bücher / Literaturhinweise

„Wales ist“, schreibt Michael Maurer, „in mancher Hinsicht für uns fremd und eigenwillig; es scheint streng, ernst und grau. Es ist aber auch ein grünes Land, eine herrliche Ferienlandschaft zwischen smaragdgrünen Meeresbuchten und alpinen Moorregionen mit ungezählten Schafherden und wilden Pferden.“

Fremd wirkt das Idiom, das hier gesprochen wird, befremdlich ist auch das vielfältige religiöse Leben der zahlreichen Freikirchen, die sich gegenüber der Anglikanischen Kirche behaupten. Die Waliser fühlen sich von England dominiert, auch jetzt wieder, da der Brexit bevorsteht und umgesetzt werden soll. Ihre Nationalparks sind von EU-Geldern abhängig, und auch die circa sieben Millionen Schafe, die hier Landschaftspflege betreiben, können nicht von den Walisern allein verzehrt werden. Wird der Nettoeinzahler Großbritannien aus eigenen Mitteln und Strukturen kompensieren können, was an EU-Programmen künftig wegfällt? Geht es nach den Walisern, so vollziehen sie mit dem Brexit auch einen emanzipatorischen Schritt gegenüber England.

„Wales“, so Michael Maurer, „stellt den interessanten Fall einer autochthonen europäischen Kultur mit tiefen Wurzeln in der Geschichte dar.“ Es hat Anschluss sowohl an das Empire wie an Europa gefunden und doch seine Eigenart bewahrt. Dieses Land ohne eigentliche Grenzen, ohne Zentrum im Grunde, wurde von Eduard I. (König von 1272–1307), der das Land mit hunderten Trutzburgen überzog, brutal unterjocht; Eduards Burgen bestimmen noch heute das Landschaftsbild und lenken die Touristenströme. Ganz im Nordwesten beispielsweise liegt die Festung von Caernarfon, wo Charles 1969 zum Prinzen von Wales gekrönt wurde. An klaren Tagen kann man von hier die Küstenlinie Irlands sehen. Heutzutage wird auf der Burg die Fahne mit dem roten walisischen Drachen gehisst, für viele ein Symbol für den Widerstand gegen England.

Das Weiterleben walisischer Kulturelemente im Lande des schlafgebannten König Artus wird davon abhängen, ob es in einem Europa der Vaterländer gelingen kann, die Identität von Minderheiten zu bewahren und zu stärken. Die erste Universität „für Wales in Wales selbst“, das University College in Aberystwyth, wurde erst 1872 eröffnet. Sie kam in einem imposanten Hotelbau unter, dessen Eigentümer in Konkurs gegangen war. Lord Aberconway, ebenfalls ein Pleitier, machte es geschickter und wählte die D‘Annunzio-Lösung, als er seine Steuerschuld nicht mehr begleichen konnte: Er überschrieb dem National Trust Bodnant Gardens und behielt sich nur das Wohnrecht für seinen Palast vor – der Staat war seither für die Gartenpflege zuständig, und der Lord war ihr Nutznießer.

Der Reclam-Kulturführer enthält weder Karten noch Abbildungen, aber er ist breit aufgestellt mit seinen Ausführungen über die Wickinger und die Druiden, die Kirchen und Klöster, die Sprache und Literatur, den Sport und die Wirtschaft, das Erziehungs- und Bildungssystem. Ein spezifisches Literaturinteresse wird nicht bedient, wenngleich die zentralen Mythen (König Artus-Sage) und die wichtigen Autoren, darunter Dylan Thomas, Dafydd ap Gwilym und Daniel Owen, gewürdigt werden. Eine ausführliche Darstellung erfährt natürlich Geoffrey von Monmouth, und auch Giraldus Cambrensis ist wichtig für eine Gesamtcharakteristik der Waliser. Kurioses liest man anderswo über Percy Bysshe Shelley, der zeitweilig mit seiner Frau Harriet in Porthmadog lebte und sich seinen Gästen nackt präsentierte, um sie von seiner männlichen Tugend zu überzeugen.

Die höchste Erhebung der Region, der Snowdon (1085 Meter), liegt im Einzugsbereich der Schiefergewinnung. Die Schieferbarone des 19. Jahrhunderts waren ungeheuer vermögend und investierten in ein Eisenbahnnetz, um ihr gefragtes Gut in alle Welt zu transportieren, unter anderem ins Ruhrgebiet und ins Zarenreich. William Edward Oakeley, ein Schieferbaron in der Gegend von Blaenau Ffestiniog, ließ zweimal täglich einen Zug hinter seinem Anwesen halten und frisches Meerwasser aus einem Waggon in seinen Swimmingpool leiten. Heute werden die historischen Schmalspurbahnen von Enthusiasten betrieben und befördern vor allem Touristen.

Neben bedeutenden Wirtschaftsmagnaten hat Wales einflussreiche Politiker wie David Lloyd George (1863–1945) hervorgebracht, der an der Gründung des Staates Israel ebenso beteiligt war wie am Zustandekommen des Versailler Vertrages. Das nationale Kulturfest, der Eisteddfodau, prämiert jedes Jahr bedeutende Virtuosen, jährliche Chorfeste stärken die Verbindung von Volkskultur, Religiösität und Gesang. Wie Michael Maurer ausführt, stehen Männerchöre in Wales nach wie vor hoch im Kurs. Das ländliche Singen dient der Pflege des heimatlichen Idioms und dem sozialen Zusammenhalt. Solche Chöre werden häufig von Harfenisten begleitet, denn die Harfe gilt als heimisches Instrument – sie ist sogar in die nationale Symbolik aufgenommen worden. Die Harp Twins haben sogar Stairway to Heaven für ihr Instrument arrangiert – Robert Plant (von Led Zeppelin) soll den Erfolgstitel in Machynlleth geschrieben haben, wo er ein Haus besitzt.

In der Malerei wird seit Richard Wilson (1713–1782) auch die walisische Landschaft prominent ins Bild gesetzt – neben dem Cader Idris, sturmumtobt, malte er 1766 eindrucksvoll den Snowdon. Friedrich Könekamp, der „deutsche Maler in Walses“ (1897–1977), bannte 1951 den Carn Ingli, den „Engelsberg“, auf die Leinwand. Von Interesse könnten daher auch solche Künstler und Autoren sein, die in Wales lebten und arbeiteten: John Cowper Powys (in Blaenau Ffestiniog und Corwen), Percy Bysshe Shelley (in Tremadoc), Ignatius Roy Campbell (in Meyllteyrn Sam), Matthew Arnold (in Llandudno), Charlotte Guest (in Hergest) und Walter Scott (in Clun); Edward Bulwer-Lytton und William Makepeace Thackeray besuchten Dolgellau, worüber letzterer folgende Verse schrieb:

If ever you come to Dolgelly,
Donʼt stay at the … Hotel,
For thereʼs nothing to put in your belly
And no one to answer the bell.

Oft erzählt wurde die Geschichte von Howel Sele, der um 1400 gegen seinen Cousin Owain Glyndŵr opponierte; Owain ließ daraufhin Howels Landsitz dem Erdboden gleichmachen. Howel selbst verschwand spurlos – wenige Jahre später fand man ein Skelett von seiner Größe im Stamm einer alten Eiche. Davon künden sowohl Walter Scott wie auch Edward Bulwer-Lytton. Was ist in einem solchen Land Mythos, was Wahrheit?

Auch Wales hatte (und hat) seine Mythomanen. Der walisische Macpherson trug den Kunstnamen Iolo Morganwg (das ist Edward Williams, 1747–1826) und entwickelte sich zum wichtigsten Propagandisten einer „Erfindung der Tradition“ für Wales; er sammelte, entwarf und fälschte zahlreiche Dichtungen und ließ seine Anhänger glauben, er stünde mit Barden und Druiden in Verbindung. Seine Schriften galten lange als echt – doch ein Großteil stellte sich als „geniale Fälschung“ heraus.

Nicht erfunden ist wohl, dass der früh verstorbene, früh vollendete Marc Bolan (1947–1977) in der walisischen Enklave von Plas Tan y Bwlch die Songs für das erste T. Rex-Album (nach der Verkürzung des Bandnamens 1969/70) schrieb, darunter den Erfolgstitel Ride a White Swan. Und während er in der opulent ausgestatteten Bibliothek des Herrenhauses den bestimmenden Stampfrock der 1970er-Jahre entwickelte, schminkte sich David Bowie das Gesicht.

„Remotely“, das heißt „abseits der Weltläufte“ gelegen, wird das ach so graue Wales in Portmeirion bunt. Die strenge, ernste und herbe Landschaft erstrahlt lieblich, uralte Rhododendren blühen in allen Farben – einige strecken erste Blüten sogar schon in der Weihnachtszeit heraus (wie Clough Williams-Ellis in seinem Buch Portmeirion. The Place and its Meaning schreibt). Es ist die perfekte Kulisse für die legendäre Mysteryserie Nummer 6 (The Prisoner), die in der zweiten Hälfte der 1960er-Jahre teilweise hier gedreht wurde und noch heute Kultstatus genießt.

Clough Williams-Ellis gestaltete das wildwüchsige Terrain zum Landschaftsgarten um. In dessen Zentrum platzierte er einige Häuser und Staffagebauten mit südeuropäischem Flair. Zu seinen wichtigsten Stimmungsträgern zählen ein Campanile und ein ehemaliges Badehaus, das der Architekt nahe Bristol abtragen und in Portmeirion wieder aufbauen ließ: auf der Freitreppe gruppieren sich Hochzeitsgesellschaften zum Erinnerungsfoto. Trompe-lʼoeil-Malereien, sogenannte „Murals“, und Halbplastiken in Wandnischen erinnern an den Dekorationsstil des Rokoko. Aber auch die griechisch-römische Antike und die Gotik werden zitiert: ein Herkules trägt die Erdenkugel, ein Engel balanciert auf einer ionischen Säule, und die blaue Grotte erinnert entfernt an die Wagner-Verehrung Ludwigs II.

Wales gleicht so einer Traumlandschaft. Da der Westen Großbritanniens vom Golfstrom profitiert, geht hier ein seidenweicher Regen nieder, wachsen Palmen bei moderaten Temperaturen, lassen sich Lebensreformer zu humanitären Bestrebungen inspirieren. Längst auch hat die Natur viele der Wunden überdeckt, die Bergbau und Industrialisierung der Landschaft zugefügt haben. Bis heute gibt es hier Wildpferde, die gelernt haben, mit Ebbe und Flut zurechtzukommen. Auf den saftigen Weiden gedeiht neben dem Hausschaf (Ovis gmelini aries) das Lamm Gottes (Agnus dei) in der Bukolik der Schäferdichtung: „Du bist Orplid, mein Land.“

Titelbild

Michael Maurer: Wales. Kultur und Geschichte.
Reclam Verlag, Stuttgart 2016.
269 Seiten, 7,80 EUR.
ISBN-13: 9783150193686

Weitere Rezensionen und Informationen zum Buch