Zwei ungleiche Freundinnen und eine rätselhafte Autorin

Elena Ferrantes erster Band einer „Neapolitanischen Saga“

Von Monika GroscheRSS-Newsfeed neuer Artikel von Monika Grosche

Besprochene Bücher / Literaturhinweise

Ein Armenviertel in Neapel, Anfang der 1950er Jahre. Hier leben die beiden Mädchen Elena Greco, Tochter eines Pförtners bei der Stadtverwaltung, und Raffaela Cerullo, genannt „Lila“, Tochter eines Schuhmachers in einem heruntergekommenen „Rione“, wie die Stadtviertel in Neapel genannt werden. Ihr Rione ist eines der typischen Armenquartiere der Stadt: Lärm, Schmutz, Gewalt und Geldsorgen bestimmen den Alltag der Menschen, die dort in Hitze und drangvoller Enge mehr schlecht als recht ihr Leben fristen. Das Meer, der Vesuv oder die schönen Prachtstraßen scheinen für sie in unerreichbarer Ferne.

In der Grundschule bereits beginnt die komplizierte und verwirrende Freundschaft zwischen den beiden ungleichen Mädchen, die mitunter weniger auf Sympathie zu beruhen scheint als vielmehr auf dem gemeinsamen Ehrgeiz, reich und berühmt zu werden und so dem Armeleuteleben endgültig den Rücken kehren zu können.

Denn das bietet wenig Positives, wie die Ich-Erzählerin Elena in ihrem unermüdlichen Redefluss zu berichten weiß. Weder in den Familien noch unter den Kindern auf der Straße ist wirkliche Zuneigung zu Hause – oder wenn doch, liegt diese verborgen unter täglichem Zank, Schlägen und Schlimmerem. Auch Krankheit, Wahnsinn und Tod sind etwas ganz Alltägliches. Egal ob ein Kind an Husten stirbt oder von seinem eigenen Vater aus dem Fenster geworfen wird – die Mädchen nehmen es hin wie andere einen heftigen Wetterwechsel oder eine Fünf in Mathe.

Ach ja, die Schule! Diese ist eine Zuflucht der besonderen Art, auch wenn das Lehrpersonal nicht besonders viel taugt. Aber es gibt dort Bücher und Wissen – und sowohl Elena als auch Lila wetteifern darum, die Beste zu sein. Allerdings ist es nicht die ehrgeizige Elena, die zur Klassenprima avanciert, sondern die mürrische, eigensinnige Lila, aus der das Wissen ohne große Mühe nur so hervorquillt. Doch es wird Elena sein, die den Weg zum Gymnasium schafft, während Lila in der Schusterei ihres Vaters mitarbeiten muss. Und so beginnen beide, unterschiedliche Wege zu beschreiten: Während Lila 16jährig durch eine spektakuläre Heirat mit Stefano, dem Lebensmittelhändler, einen gesellschaftlichen Aufstieg erlebt, lernt Elena verbissen weiter, um aus der Enge des bisherigen Lebens herauszukommen.

Dass diese Neapel verlassen wird, um zu studieren und den Traum von der Schriftstellerei zu verwirklichen, den beide nach dem ersten gemeinsam gelesenen Roman träumten, erfahren wir nur kurz zu Beginn von „Meine geniale Freundin“. Elena ist auf der Suche nach Lila, die nach sechzig Jahren Freundschaft plötzlich spurlos verschwand. Das Rätsel um das Verschwinden von Lila glaubt Elena nur durch einen genauen Blick in ihre gemeinsame Vergangenheit lösen zu können. Ihre Spurensuche beginnt denn auch bei der Kindheit und Jugend. Diese umfasst den ersten Band des literarischen Neapel-Quartetts der Autorin Elena Ferrante.

Der erste Teil der neapolitanischen Saga beeindruckt durch die sprachliche Wucht und erzählerische Kraft, mit der die Autorin die Geschichte zweier eigensinniger Protagonistinnen vermittelt, die sich in einer von Patriarchat, Tradition und dem Einfluss der Mafia geprägten Welt behaupten müssen. Geradezu analytisch ist der Blick der Ich-Erzählerin, die schonungslos alle Nuancen ihrer Freundschaft von gemeinsamer Kreativität und inniger Zweisamkeit bis hin zu extremer Konkurrenz und Neidgefühlen auslotet. Auf diese Weise lässt Ferrante nicht nur ein fesselndes Porträt der beiden Protagonistinnen, sondern auch – quasi im Vorübergehen – ein Panorama der süditalienischen Nachkriegsgesellschaft entstehen.

Mitunter etwas anstrengend ist die Detailversessenheit, mit der die Ich-Erzählerin uns nicht nur an ihrem eigenen Alltag teilhaben lässt, sondern auch an dem einer durchaus großzügigen bemessenen Anzahl an Nebenfiguren. Bei deren schierer Menge könnte man als Leser glatt den Überblick verlieren, gäbe es nicht zu Beginn des Buches eine Aufstellung der unterschiedlichen Familien und ihrer Mitglieder. Hier wäre weniger mehr gewesen und die Nebenfiguren hätten so an Kontur gewinnen können. Aber vielleicht erhalten sie diese ja auch erst in den nächsten Bänden.

Dennoch kann man nicht anders, als auf den 422 Seiten mit den beiden Mädchen mitzufühlen und sich mit ihnen danach zu sehnen, dass ihr Leben eine Wende zum Guten nimmt. Und so verwundert es nicht, dass der erste Band bereits international zum Bestseller wurde. Beigetragen hat dazu der etwas überzogene Medienhype um die wahre Identität der Autorin, die seit Anfang der 1990er Jahre unter dem Pseudonym Elena Ferrante als eine der wichtigsten Schriftsstellerinnen der italienischen Gegenwartsliteratur gilt. Wer sich davon nicht beeindrucken lässt, kann sich trotzdem einfach schon mal auf die Fortsetzung dieser „Saga“ freuen.

Titelbild

Elena Ferrante: Meine geniale Freundin. Band 1 der Neapolitanischen Saga: Kindheit und Jugend. Roman.
Übersetzt aus dem Italienischen von Karin Krieger.
Suhrkamp Verlag, Berlin 2016.
422 Seiten, 22,00 EUR.
ISBN-13: 9783518425534

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