Blick zurück in Episoden

In Katja Lange-Müllers Roman „Drehtür“ geht es um die Zwiespältigkeit des Helfens und eine ins Abseits geratene Frau

Von Dietmar JacobsenRSS-Newsfeed neuer Artikel von Dietmar Jacobsen

Besprochene Bücher / Literaturhinweise

München, Franz-Joseph-Strauß-Flughafen. Nach 22 Jahren als Krankenschwester bei internationalen Hilfsorganisationen in aller Welt ist Asta Arnold nach Deutschland zurückgekehrt. Nicht ganz freiwillig. Nachdem an ihrem letzten Arbeitsplatz in Managua eine Menge schiefgelaufen ist, hat man sie an ihrem 65. Geburtstag umstandslos in die Rente verabschiedet. Es sollten nicht auch noch Menschen zu Schaden kommen aufgrund ihrer zunehmenden Unkonzentriertheiten im Beruf. Ein One-way-Ticket gab es als letztes Präsent, und weil mit Ausgaben gespart werden musste, ist sie mit dessen Hilfe in der bayerischen Landeshauptstadt gestrandet und nicht in Berlin. Aber ob München oder Berlin oder anderswo: Asta ist buchstäblich im Abseits gelandet, herausgefallen aus einem Berufsleben, das ihr alles bedeutete, ohne zu wissen, wie es nun weitergeht. „Nur wohin ich nun soll oder will, das weiß ich nicht. Kein Geld, kein Zuhause, keine Familie, keine Freunde, keine Perspektive …“

Fast ein Jahrzehnt hat Katja Lange-Müller seit ihrem letzten Roman Böse Schafe (2007) verstreichen lassen bis zu Drehtür. Inzwischen war sie Stipendiatin der Villa Massimo (2012) und erhielt u.a. den Wilhelm-Raabe- (2008) und den Kleist-Preis (2013). Ihr neues Buch trägt die Genrebezeichnung Roman, stellt sich aber bei genauerem Hinsehen als eine Sammlung mal kürzerer, mal längerer Erzählungen heraus, die durch die im Mittelpunkt stehende Figur und den Ort, an dem sich einzelne Episoden aus deren Leben in Erinnerung bringen, zusammengehalten wird. Letzterer ist, passend zur Situation von Lange-Müllers Protagonistin, der die Berliner Autorin viel von ihrem eigenen Leben mitgegeben hat, eine Drehtür. Und natürlich steht die starke Raucherin – eine ganze Stange Camel aus Duty-Free-Beständen trägt sie bei sich und bedient sich eifrig, während sie ihre scheinbar ausweglose Situation reflektiert – draußen vor derselben.

Der Blick nach drinnen ist in dieser Konstellation einer zurück in ein bewegtes Leben. Als Auslöser für die zehn Binnenerzählungen des Romans dienen Asta Gesichter von Reisenden, die, durch das Glas nur verzerrt wahrnehmbar, sie immer wieder an Personen aus ihrer Vergangenheit erinnern. Und schon ist die dazugehörige Geschichte da, erzählt sich wie von selbst und borgt sich dazu eine Stimme aus, die Asta als fremd empfindet, zumal sie sie auch erst seit ein paar Wochen vernimmt: „Die Stimme bestimmt; sie entscheidet, woran Asta sich erinnert, mal quälend genau, mal verklärend sehnsüchtig. Die Stimme lenkt Astas Blicke, öffnet ihr die Ohren, verbietet ihr den Mund.“

Das ist modernes Erzählverständnis par excellence: Der Text erzählt sich sozusagen von selbst, überrascht mit seinen Wendungen und Finten auch die, der die Dinge, die erzählt werden, eigentlich passiert sind, die aber keine Macht hat über ein Erzählen, das wie aus heiterem Himmel über sie hereinbricht, sie zur Zuhörerin macht genauso wie den, der das Buch aufschlägt, zum Leser. Was sich unter erzähltheoretischem Aspekt etwas kompliziert anhören mag, hat in der Praxis freilich zu Geschichten geführt, die zum Besten gehören, was die gegenwärtige deutsche Literatur zu bieten hat – lakonisch im Ton, humorvoll mit einem leicht bitteren Beigeschmack und immer das Medium mitreflektierend, in dem erzählt wird, die Sprache.

Ob wir eine übereifrige Vizentinerinnen-Novizin dabei beobachten, wie sie die 50 Gebisse der ihrer Pflege anvertrauten hochbetagten Nonnen ihres Ordens zusammen in einer Schüssel reinigt und nach der Aktion entsetzt feststellen muss, dass keines mehr in den ihm zugehörenden Mund zurückfinden will, oder Asta auf eine Urlaubsreise mit einem angehenden Wiener Sozialwissenschaftler begleiten, die total schiefgeht – immer lauert da hinter den glänzend erzählten Episoden ein Abgrund. Stets folgt dem Gutgemeinten die (Fast-)Katastrophe, schlägt Euphorie um in Ratlosigkeit, wird der Humor plötzlich schwarz, verdrängt Entsetzliches die gerade noch vorherrschende Heiterkeit. So etwa, wenn ein sorgenfreier, sonnensatter, unbeschwerter Strandtag durch den tragischen Tod einer Parasailerin plötzlich eine ganz andere Note bekommt oder wenn eine indische Schriftstellerin, die auf der Frankfurter Buchmesse für ihre deutsche Kollegin noch in einem fremd-exotischen Licht erstrahlte, die anschließend nach Kalkutta Eingeladene damit sprachlos macht, dass sie ihr die brutale Kehrseite des Lebens der Frauen auf dem Subkontinent drastisch vor Augen führt.

Geheimes Thema aller Geschichten aber ist das Helfen. Schon das Nietzsche-Zitat, welches Lange-Müller ihrem Buch vorangestellt hat, schlägt es an, thematisiert aber auch bereits dessen Janusköpfigkeit. Helfen ist schön und gut, aber was, wenn – wie Nietzsche formuliert – dem eifrigen Helfer „Geist und Wille“ dessen, dem zu helfen er sich anschickt, „verborgen ist“. Dann wird Unheil angerichtet. Auch für Asta Arnold, die ihr gesamtes Arbeitsleben mit Helfen verbracht hat, enthält der Drang, anderen in ihrer Hilflosigkeit beizustehen, etwas Zwiespältiges. Auf der einen Seite weiß sie: „helfen ist geil und macht geil: machtgeil.“ Andererseits aber wird sie aufgrund ihrer jahrzehntelangen Erfahrungen auch von Zweifeln gequält: „Aber hat das Elend mit dem Helfen angefangen? Oder umgekehrt das Helfen mit dem Elend? Helfen, helfen, helfen, und warum? Ist es uns, war es mir, wirklich immer nur ein Bedürfnis? Oder wollte ich, ohne dass es mir klar gewesen wäre, noch etwas anderes beweisen?“

Dass der mehr als zwei Jahrzehnte lang als Krankenschwester in aller Welt unterwegs gewesenen Asta in ihrer eigenen Bedrängnis auf dem Münchner Flughafen aber niemand beisteht, sie selbst auch jede mögliche Hilfe ablehnt, ist die der Geschichte innewohnende bittere Ironie. Die Helferin will sich partout nicht helfen lassen, nicht zurückfinden in ein Leben, das ihr wie die vielen Worte, die sie sich andauernd vorspricht, vollkommen fremd geworden ist. So bleiben am Ende ein paar Luftschlösser, die schnell wieder vergessen werden, ein letzter Gedanke an die Schwester, der sie einmal großes Unrecht angetan hat, ohne es je wiedergutzumachen, und das Bedauern über die vielen ungerauchten Zigaretten, die sie noch in ihrer Tasche hat. Kein schöner Schluss – aber viele wunderbare Erzählungen, die überleben werden.

Titelbild

Katja Lange-Müller: Drehtür. Roman.
Kiepenheuer & Witsch, Köln 2016.
216 Seiten, 19,00 EUR.
ISBN-13: 9783462049343

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