„Zahnfarbene Aura“ mit „gleißender Wut“ und Hund

Über Sarah Kuttners Roman „180° Meer“

Von Anne Amend-SöchtingRSS-Newsfeed neuer Artikel von Anne Amend-Söchting

Besprochene Bücher / Literaturhinweise

Manche Bücher erregen allein durch Epitexte die Aufmerksamkeit ihrer angehenden LeserInnen: Sarah Kuttner halte sich nicht mit Stilfragen auf – so Ursula März in ihrer Rezension vom 28. April 2016 in der „Zeit“. Dass die damit einhergehende „neue Lockerheit“ auf die Verwendung von „zeitgenössischem Jugenddeutsch“ zurückzuführen sei, bezweifelt März jedoch mit einem sehr drastischen Beispiel, das genauso neugierig auf Kuttners Text macht wie der Hinweis auf einen „tröstenden Hund“ in der Rezension von Philipp Haibach („Die anderen 50 Prozent finden Sarah Kuttner top“, in: „Die Welt“). Wie locker ist Sarah Kuttners Sprache und was hat es mit dem Hund auf sich?

Kuttners Ich-Erzählerin Juliane/Jule lebt in Berlin, ist Anfang 30, groß und dünn, hat stark gelocktes Haar und verdingt sich als Soulsängerin in einer Bar. Im Gegensatz zu ihrer zielorientierten Klavierbegleitung Daniel „macht“ sie nur „Wege ohne Ziel“. Beim Singen bleibt Jule distanziert, täuscht den Soul nur vor, wobei sie sich selbst als „Prostituierte der menschlichen Emotionen“ etikettiert. Auch privat liegt einiges im Argen: Während die depressive Mutter ohne Unterlass am Telefon nervt, fordert Tim, ihr Freund, sie auf, zumindest zeitweise aus seinem Leben zu verschwinden. Bei all dem bleibt Jule erstaunlich indifferent, packt ihren Rucksack und fliegt nach London zu ihrem Bruder Jacob. Von dort aus möchte sie unbedingt das Meer sehen, denn davon ist sie besessen, in erster Linie von der horizontumspannenden Kraft eines grauen Meers im 180°-Halbrundblick. Nach ein paar Wochen in der britischen Metropole zieht Juliane mit dem kleinen Bruno, dem vernachlässigten Hund einer Bewohnerin aus Jacobs WG, nach Eastbourne, mietet ein Hotelzimmer und beginnt nun das Geld auszugeben, das ihr Vater für sie zurückgelegt hat. Dieser lebt nur wenige Kilometer von ihr entfernt und ist aufgrund eines Krebsleidens dem Tod geweiht. Nach langen Jahren der Stille kontaktiert sie ihn. Der zweite Besuch bei ihm und seiner neuen Ehefrau eskaliert jedoch in einem ungelösten Streit, was umso schwerer wiegt, als der Vater kurze Zeit später Selbstmord begeht. Danach fliegt Jule ohne den Hund in eine ungewisse Zukunft nach Deutschland zurück.

Betrachtet man den Plot isoliert, so ist man geneigt, ihn mit Julia Francks Ultrakurzgeschichte Die Streuselschnecke zu vergleichen. Franck schildert enigmatisch und in höchster Konzentration ein Vater-Tochter-Verhältnis, das sich im Angesicht des Todes – hier der Unterschied zu Kuttner – zum Guten wendet.

In 180° Meer sind die meisten inhaltlichen Entwicklungen indessen auf die postpubertäre Renitenz einer intellektuell recht anspruchslosen Frau zurückzuführen. Sie lässt sich durch ihren Alltag treiben und weist dabei ein zumindest moderates Suchtproblem auf (Cannabis, Zigaretten, Alkohol). Ihr Lebensentwurf, sofern man von einem solchen überhaupt sprechen kann, kontrastiert aufs schärfste mit den Ambitionen ihres Vaters, wie das letzte Gespräch der beiden verdeutlicht. Ein bisschen Tiefendimension gewinnt Jules Charakter durch die obsessive Sehnsucht nach dem Meer sowie nach Höhlen, insbesondere Tims Achselhöhlen. Sie möchte in den Höhlen verschwinden, sehnt sich danach, sich unsichtbar zu machen, wird dabei aber von der Wut auf Mutter und Vater umgetrieben: „Ich brauche diese Wut. Sie hält mich am Leben, ohne sie wäre alles umsonst gewesen. Ohne die Wut wären meine Eltern mit all dem einfach nur ungestraft davongekommen. Ich brauche die Wut als Signal für die Ungerechtigkeit.“ Doch die eigentlich hochgradig dynamische Wut, mit der Jule ihre Persönlichkeit begründet, bleibt ein schales Lippenbekenntnis in der Statik der Gleichgültigkeit. Nur indem die Protagonistin sich zum ersten Mal in ihrem Leben auf ein Tier einlässt, indem sie erkennt, dass der scheue Bruno ihre eigene Bedürftigkeit und „Gestörtheit“ doppelt, gelingt es ihr, ein Quäntchen eigener Emotionalität und damit Lebendigkeit im Abseits der paradoxerweise eher faden Wut zu entwickeln. Als sie den Hund vor der Abreise nach Deutschland zurückbringt, erscheint zumindest die Wut authentisch, die „junge Zornige“ gewinnt graduell an Dynamik.

Sarah Kuttners Stil, ihre „neue Lockerheit“ (Ursula März) also, erweckt an vielen Stellen den Eindruck ungefilterter mündlicher Rede. Er ist teilweise idiosynkratisch und zeigt außerdem, dass die Autorin eine Vorliebe für bestimmte Wörter hat (herausragendes Beispiel: „verbummeln“, meistens fürchtet die Protagonistin den „Hund zu verbummeln“). Einige Sätze am Rande grammatikalischer Korrektheit („Um in einer riesigen Stadt wie London nicht dauernd verbummelt zu gehen, ist es, auch als Einheimischer, trotz Smartphone sinnvoll, einen Stadtplan dabeizuhaben“.) wirken genauso befremdlich wie manche sprachliche Bilder allein („Wieder kratzt ein bisschen Selbstverachtung an meiner Tür, aber ich bin bekifft genug, um sie einfach zu ignorieren, statt sie zu reiten“; „[…] goss ich all meine Kaputtheit über Tim aus“; „ich kugle den schönen Gedanken noch ein wenig in meinem Kopf herum“) oder in Kombination („aber ich möchte viele Nägel mit Köpfen machen, um mich daran zu hindern in letzter Sekunde den Schwanz einzuziehen“). Und spätestens dann, wenn zu allem Überfluss das Wörtchen „okay“, einer der hässlichsten Importartikel aus dem Englischen, konjugiert wird („so als ob das übergelaufene Fass nun wieder einen okayen Wasserstand hätte“) und das Attribut „bio“ eine Steigerung erfährt („Wir hätten in diverse andere, bio-re Kaffeeläden […] gehen können“) ist die ästhetische Wertigkeit der „prosaischen Hervorbringung“ (Philipp Haibach) infrage zu stellen.

Allerdings sticht aus dem stilistisch mitunter schrägen Text das titelgebende (graue und düstere) Meer als einerseits starkes, andererseits auch wieder banales textkonstitutives Symbol heraus. Es darf im übertragenen Sinne auch als Häusermeer oder „Flut an Menschen, deren Anonymität mich wahlweise tragen oder verschwinden lassen könne“, daherkommen. Hier ruft alles nach psychoanalytischer Interpretation, doch die Protagonistin wendet sich mit Vehemenz dagegen. Interpretationen anzubieten und diese im selben Atemzug zurückzunehmen – dies scheint typisch für den gesamten Text und gilt in ähnlicher Form für die Wut, den Hund und die schlechte Kindheit. Vieles leuchtet kurz auf, wird aber nicht entwickelt. Auf diese Weise stellt sich ein gewisser Grad an Unbestimmtheit ein, der an sich nicht schlecht wäre, wenn er nicht mit mangelnder Kohärenz verwechselt werden könnte. Oder ist es auch hier wieder Gleichgültigkeit oder gar Absurdität? Dass Kuttner ein längeres Zitat direkt von Albert Camus übernommen hat, scheint für letzteres zu sprechen.

„Meine Aura ist irgendwie zahnfarben. Nicht offwhite, nicht creme. Nicht einmal neutral beige“ – so beurteilt die Protagonistin sich selbst. Diese Einschätzung lässt sich auf den Roman im Ganzen beziehen. „Zahnfarben“ meint zum einen streckenweise interessant, zum anderen heißt es: Würde man sich nicht auf den Text einlassen, hätte man nicht allzu viel verpasst.

Titelbild

Sarah Kuttner: 180 Grad Meer. Roman.
S. Fischer Verlag, Frankfurt a. M. 2016.
272 Seiten, 18,99 EUR.
ISBN-13: 9783100024947

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