Es war einmal… und ist noch immer

In Włodzimierz Odojewskis „Verdrehte Zeit“ kollidieren Vergangenheit und Gegenwart miteinander

Von Daniel HenselerRSS-Newsfeed neuer Artikel von Daniel Henseler

Besprochene Bücher / Literaturhinweise

Die Zeit ist das große Thema von Włodzimierz Odojewskis Roman Verdrehte Zeit. Alles kreist um die eine Frage: Verläuft die Zeit wirklich linear, sodass endgültig hinter uns liegt, was geschehen ist? Oder ist es möglich, dass das Vergangene plötzlich an die Tür klopft und Ereignisse von früher noch einmal aufrollt, ja aufdrängt – aber dieses Mal vielleicht mit einem ganz anderen Ausgang?

Wacław Konradius, der Ich-Erzähler in Odojewskis Roman, steht vor einem Rätsel. Dieses ist vor ein paar Tagen aus heiterem Himmel in sein Leben getreten und beschert ihm nun schwerste Angstattacken. Konradius, um die 45 Jahre alt, führt in den 1960er-Jahren ein bescheidenes Leben als wissenschaftlicher Mitarbeiter in einer Warschauer Bibliothek. Als er neulich abends nach Hause kam, stand eine Frau im Treppenhaus und sprach ihn mit „Roman“ an. Sie habe ihm einen Brief mit einem Auftrag zu übergeben. „Roman“ ist während des Krieges 20 Jahre zuvor Konradius’ Deckname gewesen, als dieser im Untergrund gegen die deutsche Besatzung aktiv war. Konradius meint, in der Frau Małgorzata zu erkennen, die zu jener Zeit derselben konspirativen Gruppe angehört hatte. Aber das ist eigentlich völlig unmöglich, denn diese Frau hier vor seiner Wohnung hat sich äußerlich nicht im Geringsten verändert, und zudem ist doch Małgorzata damals bei der Aktion umgekommen. Im Brief aber wird Konradius aufgefordert, am nächsten Tag an einem ihm bekannten Ort zu erscheinen und einen bestimmten Auftrag auszuführen. Unterzeichnet mit „Walter“. Doch auch Walter, der damalige Anführer der Gruppe, lebt ja gar nicht mehr.

Nun beginnt ein quälendes Vexierspiel, das Konradius psychisch an den Rand des Abgrunds führt und das im Grunde den gesamten Roman ausmacht. Mit wachsender Verzweiflung versucht Konradius herauszufinden, was hinter diesem unerklärlichen Einbruch der Vergangenheit in sein Leben steckt. Er befolgt die Anweisung des Briefes und begibt sich an den besagten Ort. Dort trifft er unvermittelt auf einen Toten, der jedoch wenig später wieder verschwindet. Worum ging es eigentlich im damaligen Auftrag? Um die Beseitigung eines Geheimagenten oder eines Spitzels? Je mehr Konradius nun den Spuren nachgeht, je mehr er sich in die verflossenen Geschichten begibt, umso mysteriöser wird die Angelegenheit. Als Leser machen wir Konradius’ Suchbewegung mit. Auch wir sehen uns gezwungen, mögliche Erklärungsansätze zu prüfen. Dabei schwankt man ständig: Gibt es überhaupt eine rationale Erklärung für das, was Konradius hier erlebt? Und wenn ja, warum und wozu geschieht das alles? Muss man es als einen Traum Konradius’ auffassen, entstammt alles bloß seiner Einbildung? Werden wir Zeugen, wie ein Mensch in den Wahnsinn abgleitet? Handelt es sich vielleicht einfach um eine etwas heftigere Midlife-Crisis? Oder muss man das als einen ganz besonders raffinierten Kriminalroman lesen? Vielleicht als eine fantastische Erzählung in guter romantischer Tradition? Letztlich geht es in der Geschichte um nichts Geringeres als um Verrat.

Es ist gerade die Stärke des Romans, dass er alle diese Fragen beharrlich in einer wohl austarierten Schwebe hält. Wenn Konradius meint, eine logische Erklärung gefunden zu haben, taucht sogleich ein neues Element auf, das nicht in das sich abzeichnende Muster passen will. So tastet sich Konradius in seinem Kampf ums Begreifen mühsam voran, gepeinigt von seelischen und körperlichen Schmerzen. Er entwirft Hypothesen, nur um sie wenig später wieder zu verwerfen. Die Geschehnisse wollen sich nicht zu einem klaren Bild fügen. Die Sprache hält immer nur provisorische Begriffe parat, die das von Konradius Erlebte umschreiben könnten: „Zufall“, „Rätsel“, „Scherz“, „Gedächtnislücke“, „Provokation“. Aber keines dieser Wörter vermag zu bestehen.

Wie schon die früheren Bücher Ein Sommer in Venedig und Als der Zirkus kam hat Barbara Schaefer auch Verdrehte Zeit in ein geschmeidiges, flüssiges und makelloses Deutsch übertragen. Ein Markenzeichen von Odojewskis Sprache sind die langen Sätze, die allerdings nicht chaotisch wuchern, sondern stets kontrolliert und mit Bedacht formuliert wirken:

Meine Lage sah ich folgendermaßen: Infolge einer unglücklichen Verkettung von Umständen, durch reinen Zufall – wie auch immer man es im Übrigen nennen will, es bedeutet ohnehin nichts, denn ich werde nie herausfinden, was sich hinter diesem Begriff verbirgt – war ich auf den Grund einer Art Brunnen, dessen Wände hoch und glitschig waren, hinuntergestoßen worden, natürlich ein naiver Vergleich, so empfand ich es, ich versuche nicht einmal, einen anderen Vergleich zu finden.

Der Roman ist seiner Form nach am ehesten als eine Art Tagebuch oder Bericht aus Konradius’ Feder zu lesen. Die beherrschte Sprache, die uns dabei entgegentritt, steht in einem sonderbaren, doch reizvollen Kontrast zum verstörenden Inhalt und der aus allen Fugen geratenen Zeit. In seinem Text fragt Włodzimierz Odojewski nach dem „Realitätsstatus“ der Zeit. Er schöpft dabei auch die Möglichkeiten aus, die ihm die Literatur bietet. Denn Literatur kann mehr mit der Zeit anfangen, als es die Wirklichkeit vermag. Die Literatur dringt in Sphären vor, die von der Normalität des Alltags nicht erreicht werden. Das scheint im Übrigen ein Grundthema von Odojewskis Schreiben zu sein, das man auch in Ein Sommer in Venedig schon beobachten konnte: Im Verschwimmen von Realität und Traumhaftem ist dort eine eigentümliche Poesie entstanden, die man auch in Verdrehte Zeit wiederfindet. Es ist bemerkenswert, dass sich das Poetische selbst in der hier herrschenden beängstigenden Atmosphäre halten kann.

Man darf Odojewskis kurzen Roman auch in einen spezifisch polnischen Kontext stellen: Das polnische Bewusstsein der zweiten Hälfte des 20. Jahrhunderts ist stark von der Okkupationszeit geprägt worden. Überhaupt lässt sich in der polnischen Literatur – deutlicher als in manch anderer „Nationalliteratur“ – eine auffallend dominante Beschäftigung mit der Vergangenheit feststellen, welche besonders die tragischen Elemente der polnischen Geschichte in den Vordergrund rückt (über dieses Thema ist bereits viel gesagt und geschrieben worden). Vor diesem Hintergrund kann man Verdrehte Zeit auch als einen Kommentar auf diese Fixierung auf die eigene nationale Geschichte lesen. An Konradius würde in solcher Interpretation gewissermaßen vorgeführt, wie die andauernde Beschäftigung mit der Vergangenheit aus dem Ruder laufen kann. Der eigentliche Wahnsinn läge dann eben gerade in dieser Vergangenheits-Besessenheit.

Wie die Geschehnisse enden, die Wacław Konradius in seiner gesamten Existenz herausfordern, soll an dieser Stelle nicht verraten werden. Entgegen den Angaben im Buch selbst ist der Roman im polnischen Original zum ersten Mal bereits 1965 (und nicht erst 2002) erschienen. Das mag erstaunen, denn die Sprache wirkt auch heute noch frisch und aktuell, sodass man sie wohl am besten als zeitlos bezeichnen kann. Von Włodzimierz Odojewskis Werk ist relativ wenig ins Deutsche übersetzt worden. Was wir aber von ihm kennen, wird gerade dank der sprachlichen Qualitäten in Erinnerung bleiben. Vor wenigen Wochen ist Włodzimierz Odojewski im Alter von 86 Jahren gestorben.

Titelbild

Wlodzimierz Odojewski: Verdrehte Zeit. Roman.
Übersetzt aus dem Polnischen von Barbara Schaefer.
dtv Verlag, München 2016.
160 Seiten, 18,00 EUR.
ISBN-13: 9783423280785

Weitere Rezensionen und Informationen zum Buch