Filme mit den Augen des Literaturwissenschaftlers sehen

Markus Kuhn vereint zwei vermeintlich getrennte Bereiche zu einem gewinnbringenden Analysemodell

Von Dafni TokasRSS-Newsfeed neuer Artikel von Dafni Tokas

Besprochene Bücher / Literaturhinweise

Bevor man sich den verschiedenen Medien im Film und den Wechselwirkungen derselben widmen kann, muss man sich eine theoretische Frage stellen, von der jeder Umgang mit Filmmaterial ausgeht: Welches Werkzeug braucht der Filmwissenschaftler, wenn er sein Material bearbeitet? Der erste Gedanke ist für gewöhnlich nicht die Erzähltheorie, denn diese wird traditionell der Literaturwissenschaft zugeordnet. Dabei ist es nur logisch und absolut auffällig, dass beispielsweise multiperspektivisches und unzuverlässiges Erzählen nicht nur in literarischen Werken zur Anwendung kommt, sondern auch in Filmen. Hier werden durch Handkamera- und Ich-Kamera-Filme, durch Zeitmodulation und kinematografisches Rückwärtserzählen, Analepsen und Prolepsen weitere Analyseebenen eröffnet, die Markus Kuhn in seinem Grundlagenwerk Filmnarratologie. Ein erzähltheoretisches Analysemodell aufzeigt.

Längst ist die Erzähltheorie nicht mehr nur Gegenstand der Literaturwissenschaften, sondern wird von verwandten Geisteswissenschaften methodisch adaptiert und individuell angepasst. In der Filmwissenschaft existieren narratologische Studien zwar seit den 1980er-Jahren, allerdings sind lediglich in Frankreich und Amerika ausführliche Arbeiten zu diesem Thema publiziert worden. „Wer erzählt? Wer spricht? Wer zeigt?“ –  das ist nicht dreimal die gleiche Frage, sondern zeigt in ersten Ansätzen die Komplexität der Diskussion auf. Kuhns Dissertationsschrift ist die erste deutschsprachige erzähltheoretische Adaption für den Bereich Filmwissenschaft und lehnt sich, anknüpfend an die Discours-Narratologie, an Gérard Genettes Discours du récit von 1972 und Nouveau discours du récit von 1983 an. Narrativität definiert Kuhn als transmedial angelegt und argumentiert von Seymour Chatmans Konzept des cinematic narrator ausgehend, entwickelt dieses jedoch weiter.

Die Monografie ist übersichtlich gegliedert, terminologisch – wenn auch fast einzig an literaturwissenschaftlichem Vokabular orientiert – im Sinne einer systematischen Filmanalyse ausdifferenziert und zeichnet sich durch eine hohe Kohärenz aus. Nach einer eingehenden Klärung der methodischen Grundlagen und der aktuellen Forschungslage wird das erste Kapitel „Von der sprachbasierten zur transmedialen Narratologie“ eingeleitet, indem die größten Problemfelder der Filmnarratologie erklärt werden. Kuhn gibt zunächst einen transparenten Einblick in narratologisch textbasierte Theorien, bei denen er zwischen vorstrukturalistischen, klassisch-strukturalistischen und poststrukturalistischen Erzähltheorien unterscheidet, und erläutert ergänzend hierzu filmische Forschungsansätze, in denen transmediale Narratologie und Theorien zur filmischen Narration (Seymour Chatman, David Bordwell und Kristin Thompson) dominieren. Die post- und neoklassische Narratologie zeichnet sich nach Kuhn durch eine heterogene Begriffsbildung und einen Methoden-Pluralismus aus. Statt diesem Weg zu folgen, entscheidet er sich für eine Filmnarratologie in der Tradition Genettes. Bordwells, Chatmans und Edward Branigans filmtheoretische Ansätze kritisiert er als wenig narratologisch und bemängelt das Fehlen einer einheitlichen Sprache der Filmnarratologie.

Kuhn definiert in diesem ersten Kapitel die Narrativität in ihrem gesamten möglichen Spektrum, leitet über zur spezifischen Ausformung der Narrativität im Film und nimmt dabei Bezug auf verschiedenen Ebenen fiktionalen und faktualen Erzählens sowie auf die narrative Vermittlung im Film, insbesondere in Bezug auf die Frage, welche möglichen Erzähler es im Film geben kann. Daraus entwickelt sich das dritte Kapitel, das narrative Kommunikationsebenen, visuelle und sprachliche Erzählinstanzen, diegetische Ebenen, den impliziten Autor und den impliziten Zuschauer behandelt und dabei auch die Frage nach dem idealen Rezipienten und kollektiver Autorschaft stellt.

Lediglich die Trennung von visueller (VEI) und sprachlicher Erzählinstanz (SEI) aufgrund der Tatsache, dass einige Filme nicht nur über Bild und Ton erzählen, sondern auch Erzählerstimmen (Voice-Over) oder Zwischentitel nutzen, ist ein fragwürdiger Ansatz, der die Wechselwirkung und Parallelität beider Instanzen nicht ausreichend in die Filmanalyse integriert, zumal Analyseaspekte wie etwa das Potenzial des musikalischen Narrativs in Filmen völlig unterschlagen wird. Filmisches Erzählen ist gerade nicht nur an personifizierbare und bildimmanente Erzähler gebunden, da Bilder und Geschichten aus transmedialer Perspektive nicht nur produziert, sondern auch präsentiert werden. Hinzu kommt der überraschende Fakt, dass die narrative Funktion des Dialogs kaum thematisiert wird, was gerade da interessant wäre, wo Figuren in Filmen selbst zur Erzählinstanz werden, ganz einfach indem sie miteinander sprechen. Nur in den Teilen der Arbeit, in denen er zum narratologischen Distanz-Begriff im Film kommt, nennt er Beispiele für szenische Dialoge, die die Fiktionalität und Künstlichkeit bestimmter filmischer Situationen evozieren. Gerade an diesen aufregenden Stellen bleibt Kuhn nicht ganz bei den Dialogen, sondern rutscht sehr schnell wieder in die Erzählinstanz, die er explizit von den Dialogpartnern abkoppelt. Immerhin setzt der Autor die Erzählinstanz in den Plural, womit ein großer Schritt hinsichtlich des Zugangs zum Filmmaterial getan ist. Außerdem geht er anders als André Gaudreault und François Jost nicht von einem grundlegenden Dominanzverhältnis eines mega-narrateur filmique gegenüber dem sous-narrateur verbal aus und hebt damit veraltete Hierarchien auf, die sich durch seine Analyse in die folgenden unterschiedlichen Ausformungen aufteilen: disparat, komplementär, polarisierend und überlappend.

Diesem Kapitel folgt ein viertes, sehr ausführliches, in dem Fokalisierung und Perspektivierung, deren Relation intensiv diskutiert wird, ganz im Sinne des Genette’schen Modells ihre Darstellung finden und innerhalb eines feinen terminologischen Apparats weitergedacht werden. Das Problem sei, dass die Trennung Genettes zwischen Erzählinstanz und Fokalisierungsinstanz im Film nicht in gleicher Weise funktioniere wie in der Literatur – „nur metaphorisch“ – und Fokalisierung im Film daher vor allem als „Relation des Wissens zwischen Erzählinstanz und Figur“ zu verstehen sei.

Kuhn nimmt hier wertvolle diskursive Umdeutungen vor, die für das Verständnis von Filmen mehr als nützlich sein können und die dazu führen könnten, dass die Monografie auf lange Sicht zu einem Standardwerk avancieren könnte. Zeitmodulation im Film, komplexe Kommunikations- und Ebenenstrukturen werden daraufhin ebenso erläutert wie an etlichen Beispielen verdeutlicht. Narratologisch textbasierte Analysebereiche wie etwa Ordnung, Dauer, Zeitpunkt oder Frequenz des Erzählens überträgt Kuhn direkt auf den Film. Und das funktioniert hervorragend. Auch die Genette’schen Einteilungen in Null-Fokalisierung, interne und externe Fokalisierung finden konsequente und überzeugende Anwendung im Bereich Film. Für den Film La Mala Educatión (2004) weist Kuhn nach, dass die VEI den Filmdreh als diegetische Realität präsentiert. Dies stellt der Autor tragendes Verfahren des Films heraus. Des Weiteren gestaltet Kuhn das Modell des „visuellen Ebenenkurzschlusses“ aus, das sich dadurch auszeichnet,

dass eine visuelle Erzählinstanz […], die kein Element der diegetischen Welt ist, […] Geschichten durch kinematographisches Zeigen erzählt, die durch spezifische sprachliche und nicht-sprachliche Markierungen intradiegetischen Erzählinstanzen, Figuren, Medien oder Kommunikationssystemen zugeordnet werden, von diesen aber nicht oder nur in Auszügen sprachlich erzählt oder audiovisuell kommuniziert werden.

Der ein oder andere Neologismus, Okularisierung beispielsweise als Ersatz des filmwissenschaftlich etablierten Begriffs Point-of-View, ist dagegen etwas gewöhnungsbedürftig. Darüber hinaus befremdet Kuhns Versuch, Elemente der Mise-en-scène zur VEI zu zählen, da, wie er sich selbst eingesteht, Elemente „primär keine narrative, sondern eine symbolische, charakterisierende, dramaturgische, metaphorische, atmosphärische oder metonymische Funktion haben“. Studierenden der Film- und Literaturwissenschaft sei die Lektüre dieses wissenschaftlich wie praktisch anwendungsorientierten und im Hinblick auf die Filmbeispiele spannenden Werks dennoch gleichermaßen nahegelegt. Das Buch leistet einen aktuellen, verständlichen und trotzdem nicht trivialen Beitrag zu narratologischen Forschungsbereichen und akzentuiert mit einer großen Zahl an Beispielen die Vorteile einer transmedialen Narratologie.

Titelbild

Markus Kuhn: Filmnarratologie. Ein erzähltheoretisches Analysemodell.
De Gruyter, Berlin 2013.
410 Seiten, 24,95 EUR.
ISBN-13: 9783110307276

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