Fäulnis im Paradies

Cormac McCarthys „Der Feldhüter“ erscheint erstmals in deutscher Übersetzung

Von Sylvia HeudeckerRSS-Newsfeed neuer Artikel von Sylvia Heudecker

Besprochene Bücher / Literaturhinweise

Das deutsche Publikum kennt Cormac McCarthy als Lieferanten von Drehbuchvorlagen. Obwohl der 1933 in Providence, Rhode Island, geborene US-Amerikaner mit starken irischen Wurzeln schon seit über 50 Jahren als Schriftsteller aktiv ist, hat ihm erst das 21. Jahrhundert Ruhm gebracht. Bekannt wurde McCarthy durch die erfolgreichen Verfilmungen von No Country for Old Men durch die Coen-Brüder 2007 – das Buch war nur zwei Jahre vorher erschienen — oder The Road, der 2009 mit Viggo Mortenson in der Hauptrolle ins Kino kam. Jetzt liegt mit Der Feldhüter McCarthys Erstlingswerk von 1965 in deutscher Übersetzung vor. Der erfahrene Leser und noch mehr der Kinogänger wird im Feldhüter die süffige filmische Erzählführung vergebens suchen. Spröde und enigmatisch gibt sich McCarthys Erstling. Nur mühsam bekommt der Leser angesichts des fulminanten Sprachgestus die Füße auf den Boden des Geschehens. Wer jedoch Gefallen an einer Literatur findet, die erst aufs zweite oder dritte Lesen verständlich wird, dem erschließt sich hier eine Welt voller Lebenshunger, Naturschönheit und dem magischen Versprechen, dass in all dem Chaos doch Ordnung herrscht.

Mit seinem Debüt überzeugte Cormac McCarthy seinerzeit den renommierten Random House Verlag und fand dort in Albert R. Erskine einen kongenialen Lektor. Diese Partnerschaft stand unter erfolgversprechenden Vorzeichnen: Erskine hatte viele Jahre mit William Faulkner, dem Doyen der amerikanischen Literatur gearbeitet. In ihm fand McCarthy weit vor dem Kontakt mit Random House den Spiritus rector seines Erzählens in Der Feldhüter. Das Setting einer Geschichte in einem ländlichen, bigotten Amerika, in dem sich das Individuum zwischen existenzieller Einsamkeit und sozialer Kontrolle zu behaupten sucht, gestaltet auch McCarthy. Geographischer Angelpunkt des Geschehens ist die fiktive Gemeinde Red Branch im Blues- und Whiskystaat Tennessee. Der Name Red Branch stammt von der legendären Sammlung früher irischer Erzählungen, die blutrünstige, mythische Geschichten über die Konflikte starker Männer ausbreiten. Männer, wenngleich weniger heldenhaft, doch ähnlich schlitzohrig und ruchlos wie ihre Vorbilder, prägen auch McCarthys Provinzwelt, in der Gewalt ebenfalls auf der Tagesordnung steht.

Der Feldhüter erzählt die Geschichte des Schnapsschmugglers Marion Sylder und seiner Verbindung zu dem jungen John Weseley Rattner. Zwischen ihnen entwickelt sich eine Vater-Sohn-Beziehung, nachdem Marion Sylder bei einem Unfall mit seinem Auto in den Fluss stürzt, John Weseley ihm hilft und so vor der Polizei rettet. Mit dem alten Arthur Ownby steht eine dritte Figur im Geschehen, die aus der Distanz beobachtet, aber nur selten eingreift. Ownby lebt in und mit der Natur; seine Behausung ist eine heruntergekommene Hütte an einer völlig verwilderten Apfelplantage. Als Begleiter duldet er nur einen Hund. Die drei Männer repräsentieren drei Generationen, aber nicht in direkter Abstammungslinie. So wie in Der Feldhüter nichts gerade und einfach ist, so sind es vor allem nicht die menschlichen Beziehungen.

„Uncle Arthur“ und John Weseley gehören zu einem Clan. Der alte Mann hatte vor Jahren gesehen, wie Marion Sylder einen Toten in einem wassergefüllten Becken an seinem Apfelhain versenkte. Arthur Ownby wusste nicht, dass es sich um Kenneth Rattner, Johns Vater handelte und er kannte auch nicht die Umstände des Ereignisses. Rattner hatte sich von Sylder per Anhalter mitnehmen lassen und bei günstiger Gelegenheit versucht, diesen zu erschlagen. Beim Abwehren des Angriffs verletzte Sylder Rattner tödlich und entsorgte anschließend die Leiche. Dass Uncle Arthur den Toten kannte, ist eine ironische Wendung der Geschichte. Die andere ist, dass gerade Sylder, der Johns Vater umbrachte, für den Jungen zum Vaterersatz wird. Die Figuren des Romans sind blind für die Kräfte und Strukturen, die ihr Leben bestimmen. Sie durchschauen nicht, was mit ihnen und um sie herum passiert, und wie armselig und trist ihr Leben ist. Haltlos sind sie alle, ausgeliefert den gesellschaftlichen Zwängen, in ständiger Bewegung, um dem Arm des Gesetzes zu entgehen. Und doch versuchen sie mit aller Macht und durchaus auch mit Waffengewalt, ihren Traum vom Leben zu leben. Keine der Figuren, die McCarthy interessieren, kann sich an einen anderen Menschen binden. Die tragische Ahnungslosigkeit der Figuren spiegelt sich in der Verweigerung des Autors, dem Leser die Orientierung im Geschehen zu erleichtern. Die Zeitebenen wechseln ebenso wie die Perspektiven, aus denen erzählt wird. Die Figurendeixis ist tendenziell mehrdeutig und frustriert jenen Leser, der sich nicht mit Rätselraten aufhalten will. Das Pathos der Naturbeschreibungen wirkt außerdem mehr als einmal dick aufgetragen und man könnte dem Roman vorwerfen, er gerate hier aus dem Gleichgewicht.

Der Feldhüter entstand, als die Schriftstellergeneration der ‚angry young men‘ von sich reden machte. Sie waren jene, die nach dem Zweiten Weltkrieg aufbegehrten gegen jegliche Konvention, die mit aller Kraft nach Befriedigung und Befreiung suchten, die aber nicht selten in ihrer Sucht nach Entgrenzung ins Verderben gerieten. Vor allem in Großbritannien sind ihre literarischen Vertreter zuhause, Harold Pinter oder James Osborne. Mit dem Schauspieler James Dean fand der Typus des einsamen Antihelden ein noch heute weltweit bekanntes Gesicht. Wer Cormac McCarthys Erzählintention verstehen will, liest am besten von dieser zeithistorischen Warte aus.

Nur in der wilden Natur und als Jäger finden die gesetzesfernen Außenseiter etwas, das man inneren Frieden nennen könnte. In den Bergen, Wäldern und Flüssen empfinden sie sich im Einklang mit dem Sein. Was sie anzieht, ist eine magische Kraft, die der Wildnis eigen ist und die in der geheimnisvollen „Wampus-Katze“ Gestalt gewinnt. Nur in den Weiten der nahezu unberührten Landschaft erfahren diese Männer sich selbst, wenn sie jagen und ein Tier erlegen. Sie spüren „den alten, wilden Drang des Blutes […] mit Macht und Verzweiflung, das Pulstrommeln der unwiderruflichen Tat.“ Die Jagd verleiht ihnen Kontrolle über das eigene Tun. Für einen kurzen Augenblick vereinen sich höchste Lebendigkeit und tiefste innere Ruhe im Akt des Tötens. Diese unproduktive Ambivalenz spiegelt sich auch im Zustand des Apfelhains. Wo der Mensch einst die Vegetation hütete, um in idyllischer Umgebung Nahrung zu gewinnen, herrscht jetzt Unordnung und Widrigkeit. „An den Bäumen hingen Äpfel, kaum größer als ein Daumennagel und grün, ein schillerndes, feuriges Grün, ein tödliches Grün wie der Leib von Schmeißfliegen.“ Arthur Ownby wahrt diesen unkultivierten Zustand. Seiner Rolle als wütender, alter Wächter des heruntergekommenen Gartens ist der Titel des Romans geschuldet. Das Original The Orchard Keeper befeuert die Assoziationsmacht des Ausdrucks – die deutsche Übersetzung Der Feldhüter verschenkt diesen Schatz vollkommen. Wo im Englischen der Garten Eden, Verlockung und süße Versprechung aufscheinen, entstehen hier Bilder von soldatischer Bewaffnung, Auftrag und Pflicht.

Sieht man von dieser gravierenden Unzulänglichkeit ab, erweist sich die Übersetzung von Nikolaus Stingl als überaus versierte Arbeit. Stingl hat bereits mehrere Romane McCarthys ins Deutsche übertragen. Er kennt das Tempo und den Rhythmus der amerikanischen Vorlage genau und ihm gelingt es, den letztlich schwer überschaubaren Erzählfluss mit all seinen Untiefen, Strudeln und Strömungen so in Bewegung zu setzen, dass er auch in deutscher Sprache mitreißend wird.

Der Feldhüter ist ein literarisches Erlebnis, das den Geist seiner Entstehungszeit wortgewaltig lebendig werden lässt. Dem heutigen Leser wird die Sprache dennoch eher fremd bleiben. Wer allerdings für ihre Magie empfänglich ist, dem erschließt sich in den Lebenskämpfen kleiner Leute eine wuchtige Weltdeutung, die auf Kontingenz, Naturfaszination und existenzieller Einsamkeit fußt.

Ein Beitrag aus der Redaktion Gegenwartskulturen der Universität Duisburg-Essen

Titelbild

Cormac McCarthy: Der Feldhüter. Roman.
Übersetzt aus dem amerikanischen Englisch von Nikolaus Stingl.
Rowohlt Verlag, Reinbek bei Hamburg 2016.
287 Seiten, 14,00 EUR.
ISBN-13: 9783499267987

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