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Wolfgang Bunzel hat die deutsche Übersetzung von Zolas „Der Experimentalroman“ neu herausgegeben

Von Regina RoßbachRSS-Newsfeed neuer Artikel von Regina Roßbach

Besprochene Bücher / Literaturhinweise

Wolfgang Bunzel stellt sich im Nachwort zur Neuauflage der Übersetzung von Emile Zolas Programmschrift „Der Experimentalroman“ unter anderem die Frage, warum der Text trotz seiner großen Bekanntheit auch unter deutschen Naturalisten erst nach Zolas Tod im Jahr 1902 ins Deutsche übersetzt worden ist. Antworten findet der Germanist  in dem ebenfalls abgedruckten Vorwort des Übersetzers und zugleich Verlegers der Erstauflage Julius Zeitler: Dieser kritisiert Zola scharf und konstatiert, die Theorie habe sich als Irrtum erwiesen, sei gänzlich überholt. Dennoch bleibe sie ein wichtiger Beitrag zur Theorie und Entwicklung des Romans. Die Vorbemerkungen des Übersetzers zeugten davon, so Bunzel, dass der zeitliche Abstand zwischen der französischen Publikation, 1879 als Fortsetzungstext in der Zeitschrift Le Voltaire und 1880 neben anderen Artikeln in Buchform, und ihrer deutschen Übersetzung bereits eine Neubewertung des Textes stattgefunden habe. Er ist zu diesem Zeitpunkt schon nicht mehr Provokation oder bewundertes Manifest, sondern ein Dokument von vielmehr historischem Interesse, dessen Übersetzung keinen Anlass zur Entrüstung mehr darstellt. Neben diesen Gedanken finden sich in dem kenntnisreichen Nachwort zahlreiche weitere interessante Informationen zur Publikationsgeschichte sowie zur Entstehung und Rezeption von Zolas theoretischem Text.

Und wie erklärt sich nun die jüngste Neuveröffentlichung der Übersetzung im Wehrhahn Verlag? Im Nachwort selbst wird auf die schwere Verfügbarkeit des Textes auf Deutsch und seine Vernachlässigung in der wissenschaftlichen Forschung verwiesen: Man wolle diesen „literaturgeschichtlich hochbedeutsamen Text (…) endlich wieder allgemein zugänglich machen und seine Bekanntheit steigern“. Man könnte noch weitere Gründe nennen, warum er gerade heute wieder auf gesteigertes Interesse stoßen dürfte: Die auf den gewachsenen Legitimationsdruck der Literaturwissenschaften zurückzuführende Auseinandersetzung mit der Frage nach dem Wesen und Wert von Literatur hat Zolas Text zu neuer Aktualität verholfen. Die jüngeren Bemühungen um das Forschungsfeld „Literatur und Wissen“ sind ursächlich mit der Frage nach dem Erkenntniswert von Literatur verbunden. Und diese Frage steht auch im Zentrum von Zolas Der Experimentalroman.

Für unsere heutigen Begriffe beinahe überzogen selbstbewusst bemüht sich Zola um die Konkurrenzfähigkeit der Literatur gegenüber den Naturwissenschaften. Die pathetische Art und Weise, mit der er die ‚Methode‘ des Experimentalromans nicht nur zur einzig möglichen Entwicklungsrichtung der Literatur, sondern zugleich zu einer Art Mittel der Weltanalyse und -verbesserung erhebt, kann nur historisch begriffen werden: Als Versuch der radikalen Erneuerung einer bis dahin zu formalistischen Literatur, die laut Zola aus einer Scheu vor einem Vergleich mit anderen Zugängen zur Welt entstanden sei: „Ich bemerkte, dass viele Gelehrte, und darunter die grössten, in ihrer starken Eifersucht auf die wissenschaftliche Gewissheit, die sie festhalten, dermassen die Literatur in das Ideal einschließen wollen.“ Hinzu kommt ohne Frage Zolas für seine Zeit typische Begeisterung für die Wissenschaften im Allgemeinen und den von Comte begründeten und von Taine auf die Kunst übertragenen wissenschaftlichen Positivismus im Besonderen.

Bunzel bezeichnet die Abhandlung über den Experimentalroman treffend als „Schlussstein eines über mehrere Jahrzehnte entfalteten Literaturprogramms“. Ausschlaggebend für das Entstehen des Textes war sicher Zolas Lektüre der Introduction à l’étude de la médécine experimentale des französischen Mediziners Claude Bernard, in der er wohl die letzten Anregungen zur Übertragung naturwissenschaftlicher Methodik auf die Literatur gefunden hat und aus der er ganze Passagen zitiert. Ohne hier Zolas zuweilen etwas unstrukturierte und redundante Argumentation in Gänze wiedergeben zu wollen, sei doch der Kerngedanke kurz umrissen: Er beruht vor allem auf Bernards Definition des Experiments und auf der Gleichsetzung des Schriftstellers mit einem Experimentator. Auch bei einem wissenschaftlichen Versuch stehe am Beginn die geniale Idee des Forschers, weshalb die Persönlichkeit des Forschers/Autors keineswegs in Abrede gestellt werden solle. Eine Versuchsanlage sei immer eine Konstruktion bzw. Fiktion. Es gehe im Verlauf des Experiments dann darum, den weiteren Verlauf der Dinge unter möglichst realitätsgetreuen Bedingungen zu simulieren. Der experimentelle Roman unterscheide sich vom naturwissenschaftlichen Experiment in keiner Weise, so lange man sich nach Festlegung der Ausgangspunkte an die Beschreibung eines ‚realistischen‘ Handlungshergangs halte:

„Kurz, das ganze Verfahren besteht darin, dass man die Tatsachen der Natur entnimmt, dann den Mechanismus der Tatsachen studiert, indem man durch die Modifikationen der Umstände und Lebenskreise auf sie wirkt, ohne dass man sich je von den Naturgesetzen entfernt. Am Ende hat man die Erkenntnis, die wissenschaftliche Erkenntnis des Menschen in seiner individuellen und sozialen Betätigung.“

Auf diese Weise wird die Literatur bei Zola zum eigenständigen Medium der Erzeugung von Wissen und erhält einen praktischen Zweck. Sie führt vor Augen, wie sich Menschen mit bestimmten Erbanlagen in bestimmten sozialen Umfeldern und historischen Momenten verhalten und wird zum Indikator für Fehler und Gefahren des Systems. 

Wenn Zola eine Zukunft beschwört, in der alle Gesetze menschlichen Handelns aufgedeckt sein werden – aufgrund des „absoluten Determinismus in den Existenzbedingungen der natürlichen Erscheinungen“, der „für die lebenden Körper ebenso gut [gelte], wie für die starren“ –, knüpfen sich heute daran ganz andere politische und moralische Gedankengänge als zu Zeiten Zolas. So klingen seine Worte für uns mal nach Science Fiction, mal nach diktatorischen Weltherrscherfantasien, mal nach prophetischen Vorausdeutungen auf ein gänzlich ‚mechanisiertes‘ Zeitalter. In Sachen Literatur wirft Zola zahlreiche hoch aktuelle Fragen auf: nach der Bedeutung von Sprache und Form, der Rolle des Autors und der Moral in der Kunst. Wenn wir also eine penible Befolgung seiner Methode des Experiments im heutigen Roman wohl kaum ernst nehmen würden, so ist der Text selbst doch insbesondere für die Literaturwissenschaft ein immer noch enorm kreatives und inspirierendes Denkexperiment.

Ein Beitrag aus der Komparatistik-Redaktion der Universität Mainz

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Émile Zola: Der Experimentalroman. Eine Studie.
Mit einem Nachwort herausgegeben von Wolfgang Bunzel.
Wehrhahn Verlag, Laatzen 2014.
96 Seiten, 10,00 EUR.
ISBN-13: 9783865253576

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