Das Kind muss noch gezeugt werden

Tilman Rammstedts Roman „Morgen mehr“ ist ein Feuerwerk der Phantasie

Von Georg PatzerRSS-Newsfeed neuer Artikel von Georg Patzer

Besprochene Bücher / Literaturhinweise

Es wird eine schwierige Geburt. Beziehungsweise erstmal eine schwierige Zeugung. Denn der Vater, dessen Freundin Claudia sich vor 43 Tagen von ihm getrennt hat, steht am Main, seine Füße sind einbetoniert und Dimitri will ihn versenken. Die Mutter befindet sich in Marseille, ihre Zwillingsschwester Eva ist gestorben und sie fühlt sich verpflichtet, eine Liste von 130 Punkten abzuarbeiten, die Eva hinterlassen hat. Punkt 19 lautet: „Mit einem schwermütigen Franzosen schlafen.“ Das soll jetzt Jean-Baptiste Drieu de la Chapelle sein: „Er hatte seit Tagen alles richtig gemacht mit dieser achtlosen Schwermut, mit dieser kurz angebundenen Entschiedenheit beim Bestellen in Restaurants und natürlich mit den sorgsam eingesetzten Lachfalten“. Zum Glück entscheidet die Mutter kurz vor dem entscheidenden Akt, dass sie hier „vollkommen falsch lag, in diesem Bett, mit diesem Mann, auf dieser gewollten Flucht in ein Abenteuer“. Und sie sagt in ihrem Schulfranzösisch: „Mir scheint, das Wetter hat sich verbessert“, zieht sich an und geht.

Dem Vater des ungeborenen Erzählers, gekidnappt von Dimitri, einem Möchtegerngangster, der eigentlich Uwe heißt, gelingt es, sich zu befreien: Er muss so stark niesen, dass es ihn vom Grund des Mains hochschleudert – der Beton um seine Füße hatte nicht gehalten. Sie treffen drei Auftragskiller in Pelzmänteln und finden in ihrem Auto einen Koffer, dem Gangsterboss Dr. Rolf nachjagt. Im Auto sitzt außerdem ein 12-jähriger Junge, ein Naseweis mit einem Notizbuch und 100.000 Mark im Rucksack. Sie treffen Claudia und ihren Mann Fridtjof – und außerdem ein Schaf. Und auf dem Eiffelturm schließlich auch die Mutter.

Man kann Rammstedts Roman Morgen mehr nicht nacherzählen, es ist ein atemraubendes Feuerwerk von Fantasie und Skurrilitäten, abstrusen Wendungen und grotesken Unglaubwürdigkeiten, mit einem guten Schluss: Dr. Rolf stirbt, Uwe-Dimitri wird an seiner Stelle Obergangster, die Auftragskiller gehen in Pension, Vater und Mutter des Erzählers treffen und verlieben sich. Am Schluss setzt Rammstedt noch ein unerwartetes I-Tüpfelchen. Sein süffiger Roman hat aber auch ernste Untertöne: die endlos tiefe Traurigkeit bei der überlebenden Zwillingsschwester, die Rolle des Zufalls im Leben aller, die Chancen, die man ergreifen könnte und oft nicht tut, das unglückliche Getriebensein, die Rollen, die man sich aussucht. Morgen mehr ist eine grandiose tour de force, ein Buch auf mehreren Ebenen, witzig und nachdenklich zugleich.

Titelbild

Tilman Rammstedt: Morgen mehr. Roman.
Hanser Berlin, Berlin 2016.
223 Seiten, 20,00 EUR.
ISBN-13: 9783446250963

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