Angetreten, um mit den nationalistischen, system- und staatstreuen Traditionen zu brechen

Reinhard Paulsens Kampf gegen den „Geist der Hanse“

Von Christian PeplowRSS-Newsfeed neuer Artikel von Christian Peplow

Besprochene Bücher / Literaturhinweise

„Solange die Menschen in Europa bei „Vive la France“, „God save the Queen“ und „Blühe deutsches Vaterland“ nach der Melodie „Gott erhalte Franz, den Kaiser“ erhabenen Gefühls Haltung annehmen, solange ist noch keine neue Zeit in einem neuen Europa angebrochen!“, lautet das Fazit des Autors am Ende seines Buches. Reinhard Paulsen hat mit seiner Studie zur Schifffahrt, Hanse und Europa im Mittelalter ein wahrlich gewaltiges Werk vorgelegt. Es gilt, eine herausfordernde Wand zu erklimmen und dabei schwindelfrei zu agieren. 1079 Seiten, durch die der Leser auf jeden Fall hindurch muss, um das Gesamtwerk wirklich zu verstehen. Dieses „Hindurchmüssen“ fällt dabei mal mehr, mal weniger schwer. Hier will sich jemand auf jeden Fall Gehör verschaffen und dafür geht er mit dem Kopf durch die Wand. Dabei war es diesmal hilfreich, den Verfasser des Buches persönlich zu kennen. Man mag dies zunächst als Nachteil für eine Rezension empfinden. Schnell könnte der Vorwurf aufkeimen, eine zu große Nähe zum Autor zu haben. Doch erwies sich dies in dem vorliegenden Fall eher als Vorteil. Denn wer den Autor noch nie erlebt oder noch nie einen Beitrag von ihm gelesen hat, und auch noch nie durch ein persönliches Gespräch mit ihm in seine Gedankenwelt und Ansichten eingetaucht ist, der wird bereits nach dem Vorwort – in dem es um die Überwindung von nationalen Forschungszwängen, einem sich Lösen von nationalistischen Sichtweisen und dem Bruch mit „ererbter Wissenschaftsvergangenheit“ geht – noch einmal verwundert auf dem Buchdeckel schauen, um zu überprüfen, ob man tatsächlich das richtige Buch in die Hand genommen hat.

Reinhard Paulsen, der im kommenden Jahr 70 Jahre alt wird, hat mit dem vorliegenden Band eine umfangreichere Variante seiner Dissertation publiziert. Sein ursprünglicher Ansatz, sich mit den Hamburger Schiffen zur Zeit der Hanse auseinanderzusetzen, wurde um einen erheblich größeren Teil zur hansischen Forschungsgeschichte und deren unkritischer und unzureichender Aufarbeitung mit ihrer, nach Paulsen, stark deutsch-nationalen und vor allem nationalsozialistischen Vergangenheit erweitert. Man darf es ruhig so ausdrücken: Paulsens Werk ist auch eine schonungslose Abrechnung mit der historischen wie aktuellen Wissenschaftsgeschichte der Hansegeschichte und der Schifffahrtsgeschichte der Hanse. Dabei schlägt Paulsen einen ungewöhnlichen Weg ein, wenn er zahlreiche Themen in seinem Buch stark emotional untersucht. Ob das einer wissenschaftlichen Arbeit, vor allem bei diesem Umfang, über die gesamte Länge des Textes wirklich gut getan hat, mag der geneigte Leser am Ende selbst entscheiden. Bei aller berechtigten Kritik des Autors und dem wirklich spannenden Gegenstand, der hier akribisch untersucht wurde, führt der sehr häufig durchschimmernde emotionale, polemische und teilweise auch aggressive Unterton immer wieder zu Kopfschütteln.

Das vorliegende Buch ist formal in zwei große Bereiche eingeteilt: Teil 1 = Text, Teil 2 = Anhänge und Register. Dass der Anhang mit knapp 265 Seiten so umfangreich geworden ist, hat einen guten Grund: Paulsen hat hier sehr fleißig alle möglichen Quellenbelege, dazu Diagramme, Karten und so fort, die in seiner Arbeit Verwendung finden, zusammengetragen und zum Teil mit wichtigen Vergleichsdaten versehen und diese gegenübergestellt. Schnell lassen sich Einträge beispielsweise zu Schiffen in den Hamburger Kämmereirechnungen und im Hansischen Urkundenbuch, Preisangaben und Kaufkraft des Geldes aber auch Merkmale von Liburnen und Koggen oder frühen Münzen mit Schiffsabbildungen nachschlagen. Ferner dient der Anhang als Beleggrundlage für den Textteil. Das bedeutet, wenn im Haupttext eine Quellenstelle in den Fußnoten zitiert wird, erfolgt dies sehr häufig nicht mit einer direkten Angabe, sondern es wird auf eine bestimmte Tabelle im Anhang verwiesen. Man mag diesen zusätzlichen Schritt der Nachweisführung als umständlich empfinden, zumal, wenn man gerne zügig den entsprechenden Quellenverweis gehabt hätte. Bei der umfangreichen Arbeit, die der Autor in diesen Teil der Arbeit gesteckt hat, ist es aber nur allzu verständlich, dass er diesem Anhang eine so große Aufmerksamkeit zukommen lassen will. Das von Paulsen gewählte Vorgehen hat nämlich einen großen Vorteil. Der Anhang weist den Charakter eines Nachschlagewerkes auf und kann für sich genommen in dieser Funktion genutzt werden. Das heißt, wer sich in Zukunft zu den Hamburger Schiffen, zu Schiffen im Hansischen Urkundenbuch und ähnlichem schnell und übersichtlich informieren und die dazugehörigen wichtigsten Quellen einsehen will, kann dies direkt und thematisch über den Anhang machen und muss nicht umständlich im Textteil die Fußnoten nach einer Belegstelle absuchen.

Der Textteil selbst startet mit einer sehr ausführlichen Einleitung, die akribisch auf die bevorstehende Lektüre vorbereitet. Es wirkt fast ein wenig so, als würde man durch die Einleitung regelrecht an die Hand genommen. Dadurch drängt sich der Eindruck auf, der Autor müsse einen bereits hier am Anfang des Buches unbedingt von dem überzeugen, was er im Folgenden darstellen will. Anschließend folgen einige Vorüberlegungen, die ebenfalls als Grundlage für das Gesamtverständnis des Werkes dienen sollen. Hier geht es zum Beispiel um Wert-, Preis- und Währungsfragen und damit verbunden die sehr spannende Diskussion, ob bestimmte konstante Kosten rekonstruiert werden können. Paulsen fragt zu Recht kritisch danach, mit welchen Geld- beziehungsweise Objektwerten in dieser Zeit überhaupt gearbeitet wird. Sehr gut gelungen ist die Einführung zu den Kämmereirechnungen der Stadt Hamburg, die zugleich für die Behandlung der Hamburger Schiffe im Dienst der Hanse eine Hauptquelle im Buch darstellt; eine bis heute wichtige Quelle, deren Wert kaum überbewertet werden kann. Direkt im Anschluss steigt Paulsen in den ersten großen Untersuchungsteil zu Hamburgs lokalen und regionalen Schiffen sowie zu Hamburger Seeschiffen im europäischen Kontext ein. Hier werden alle in den Quellen greifbaren Schiffstypen beziehungsweise Schiffserscheinungen (Flöße, Kähne, Schuten, Prahme, Ewer, Schnicken, Kreier, Koggen, Liburnen, Holke und weitere) akribisch analysiert und ins Verhältnis zur europäischen Schiffsentwicklung im 14. und 15. Jahrhundert gesetzt. Paulsen kann darüber hinaus deutlich zeigen, dass es zahlreiche neue Schiffstypen im 15. Jahrhundert und auch spezifische, nur in Hamburg gebaute Wasserfahrzeuge gab. Eine sehr wichtige Erkenntnis, die aus der vorliegenden Studie abgeleitet werden kann und der nachdrücklich zuzustimmen ist, lautet, dass bereits die zeitgenössischen Schiffstypenzuordnungen sehr vage sind. Es war in der Seeschifffahrt der Hanse eben nicht immer eindeutig klar, um welchen „Schiffstyp“ es sich wirklich handelt, zumal identische Namen für baulich unterschiedliche Wasserfahrzeuge Verwendung fanden. Hier sollten Historiker und Archäologen gemeinsam anknüpfen, um viele bis heute noch verbliebene strittige Fragen zu den „Schiffstypen und -formen“ zu klären. Daneben bereichert Paulsen seine Ausführungen durch eingeschobene Exkurse, so zum römischen Schiffbau, zu China, Europa und den Anfängen des Artilleriewesens in Hamburg. Paulsen hat dabei weitgehend sehr gründlich gearbeitet und filtert seit Jahrzehnten bestehende Folgefehler endlich heraus. Ärgerlich ist dagegen die Übernahme eines klassischen Fehlers durch Paulsen: der angebliche Einsatz von Bliden und Treibendem Werk auf den Schiffen. Gillian Hutchinson hat bereits 1994 deutlich festgestellt, dass diese Form des Waffeneinsatzes auf den Wasserfahrzeugen praktisch unmöglich war. Positiv anzumerken sind die kritischen Denkanstöße, die Paulsen der Forschung zur europäischen Schifffahrtsgeschichte mit auf den Weg gibt. Dazu zählen Diskussionen über Beplankungsformen und -arten, die eindimensionale Vereinnahmung der Kogge, vor allem durch die deutsche Forschung, oder auch die Frage nach einem europäischen Grundtyp bei den Schiffsformen: „Die Entwicklung der größeren Schiffstypen in den ca. 300 Jahren des Spätmittelalters kann zusammenfassend als ein Prozess der Konzentration und Vereinheitlichung verschiedenster lokaler und regionaler Schiffsarten und Traditionen beschrieben werden.“ Dass Paulsen an einigen Stellen wichtige Forschungen nicht bekannt sind (beispielsweise fehlt bei der Betrachtung der Galeeren das Werk von Michael von Rhodos) oder auch ältere Forschungsergebnisse nicht erwähnt, mag man ihm verzeihen. Was aber befremdlich wirkt, ist die eingangs angedeutete polemische und sehr emotionale Auseinandersetzung mit Forschungsgegenständen und vor allem mit anderen Forschern. Hier werden dann Belehrungen und Einschätzungen vergangener Historiker vorgenommen und ihre „wissenschaftlichen Fehlleistungen“ pauschal angeprangert. Eine kritische Auseinandersetzung mit älteren Forschungsinhalten ist immer lobenswert und selbstverständlich erwünscht, doch Paulsens überbordende Belehrungen wirken an einigen Stellen deplatziert, da man das Gefühl nicht loswird, dass nur der Autor allein alles richtig weiß und die von ihm ins Visier genommenen Forscher durchweg falsch liegen. Gerade wenn es um das Thema „Kogge“ geht, scheinen bei Paulsen alle Dämme zu brechen. So muss er sich den Vorwurf gefallen lassen, dass er sein Werk auch dafür missbraucht, um einen Privatfeldzug gegen den Archäologen und ehemaligen Leiter des „Deutschen Schiffahrtsmuseums“ Detlev Ellmers zu führen – eine Auseinandersetzung, die bereits in einem kontroversen Beitrag in den Hansischen Geschichtsblättern von 2010 einen ersten Höhepunkt erreichte. Dieses „Mit dem Kopf durch die Wand“ des Autors führt dann aber auch zu absurden Situationen. So übt Paulsen Kritik an der Art und Weise der Auslesung von Siegeln oder daran, dass Forscher sich zu Motiven und Einschätzung eines historischen Schreibers äußern, um dann im Folgenden selbst diese Wege zu beschreiten. Paulsen erlaubt sich Schritte, die er anderen Forschern verbietet. Wenn man Fairplay einfordert, dann sollte dies auch für alle beteiligten Parteien gelten.

Eigentlich könnte das Buch an dieser Stelle (auf Seite 259) gut enden. Wie bereits angedeutet sind die Erkenntnisse zu den Hamburger Schiffen, zu den Seeschiffen im 14. Jahrhundert, zur europäischen Schiffsentwicklung im 14. und 15. Jahrhundert, die Ausführungen zur Umstellung des Schiffbaus im Nord- und Ostseebereich sehr solide herausgearbeitet. In Verbindung mit dem umfangreichen Anhang hätte Paulsen eine wichtige Publikation für die Forschung zur Schifffahrtsgeschichte beigesteuert und die seit Walter Vogels Buch von 1915 bestehende Lücke in der Forschung zur Schifffahrtsgeschichte der Hanse nachhaltiger füllen können (Günter Krause konnte diese mit seinem Buch zur Handelsschifffahrt der Hanse von 2010 eindeutig nicht erreichen).

Doch Paulsen will mehr. So folgt im Textteil ein zweiter großer Block, der eigentlich allein zwischen zwei Buchdeckel gehört und eine eigenständige Publikation verdient hätte. Es ist Paulsens gnadenlose Abrechnung mit der, nach seiner Auffassung noch immer mit Nationalismus und Chauvinismus durchsetzten Wissenschaftsgeschichte zur Hanse. Auf den folgenden 372 Seiten setzt sich Paulsen neben dem mittelalterlichen europäischen Schiffswesen vor allem wieder mit der unkritischen Forschungsvergangenheit – gemeint sind die deutschen Forschungsbilder – zur Hansegeschichte und ihrer deutsch-nationalen Überhöhung, sowie mit der Funktion der „Hansekogge“ auseinander und plädiert nachhaltig dafür, nicht nur die Kogge endlich als europäische Erscheinung wahrzunehmen, sondern auch eine gemeinsame europäische Schifffahrtsgeschichte zu erarbeiten. Diese Forderung ist definitiv zu unterstützen! Paulsen holt dafür weit aus. Er beginnt bei Caesar und der atlantischen Schifffahrt, setzt sich mit den keltischen und normannischen Schiffen auseinander und kritisiert die konstruierte „Friesenorientierung“, also Vorherrschaft einer angeblichen „friesischen Schifffahrt“, und damit einhergehend Aspekte eines verzerrten Friesenbildes. Weiter zeigt Paulsen im Umgang mit der Hanse- und Schifffahrtsgeschichte eine deutsche Sackgasse auf, die seiner Ansicht nach durch nationale Vereinnahmungen und Enge sowie durch begrenzte Wahrnehmung der Forscherzunft bestimmt wird. Es mag daher nicht verwundern, dass Paulsen auch hier wieder ordentlich gegen einen Großteil der Forscher zur Schifffahrtsgeschichte austeilt. Für Detlev Ellmers stellt Paulsen fest, dass dieser deutsch-nationale Sichtweisen ausarbeitet und dazu eine parteiische Forschung betrieben hat, die im Ergebnis doppelt falsche und tendenziöse Antworten lieferte. Paul Heinsius‘ Beitrag zum Schiff der hansischen Frühzeit, auf dessen Basis man den Fund in Bremen als Kogge identifizierte, sei geprägt von deutsch-nationaler Überlegenheitsideologie und Günter Krause wird gar eine „wissenschaftliche Fehlleistung“ attestiert. Paulsen vermittelt dabei den Eindruck, als wisse er genau, was andere Forscher hätten eigentlich schreiben und sagen wollen, um ihnen dann natürlich eine unzureichende Arbeit zu unterstellen. Doch nicht nur die Schifffahrtshistoriker, die sich mit der Seeschifffahrt der Hanse auseinandergesetzt haben stehen unter Kritik. Paulsen unterzieht die gesamte Hansehistoriographie der letzten 150 Jahre einer äußerst kritischen Analyse und liefert Einblicke in die nach seiner Ansicht politisch motivierte Forschung, was noch in den jüngsten Publikationen zu finden ist. Dabei startet Paulsen bei Dietrich Schäfer als ideologischer Leitfigur einer nationalistischen Forschung und zeigt die dramatischen und unentschuldbaren Entgleisungen (völkische und nationalsozialistische Ausrichtung) eines Fritz Rörigs im Dritten Reich. Nach Paulsens Darstellung war Fritz Rörig kein vergeistigter Phantast, sondern diente dem „Dritten Reich“ als Wissenschaftsmanager und Propagandist. Er macht deutlich, dass auch die Nachfolgegenerationen sich eigentlich nie richtig von den Rörig’schen Ausfällen befreit hätten, und dass wir selbst heute noch von der deutsch-nationalen Sicht früherer Forschergenerationen beeinflusst sind und nicht ausreichend die hansischen Lehrmeinungen hinterfragen, um nationalistische Blockaden zu überwinden, wie Paulsen es immer wieder einfordert. So weist er auch in Ahasver von Brandts Betrachtungen zur „Hansekogge“ Verflechtungen der Hanseforschung mit politischem Wissenschaftsmanagement, nationalistischer Forschungskonkurrenz und öffentlichem Interesse nach. Selbst die in der DDR betriebene Forschung, die gerne ihren propagandistisch reklamierten Antifaschismus zur Schau stellte, sei in Hansekreisen nur „reine Heuchelei“ gewesen. Bis heute erkennt Paulsen bei vielen Forschungen zur hansischen Geschichte eine instrumentalisierende Hansesicht („der deutsche Nationalismus überlebte in den Köpfen und Herzen“), die in einer „euronationalistischen“ Betrachtung der Hansegeschichte mündet. Paulsen mag ja all diese Wahrnehmungen einer modernen deutsch-nationalen Sicht (Vereinnahmung) tatsächlich feststellen, aber es scheint fast so, als impliziert er dies auch für einen Großteil der aktuellen Generation von Hanseforschern. Das würde bedeuten, dass selbst gegenwärtig an deutschen Universitäten, bei der Beschäftigung mit der Hanse oder der nordeuropäischen Schifffahrtsgeschichte, eine überhöhe deutsch-nationale Überlegenheit im Unterricht mit den Studierenden propagiert oder gelehrt wird. Gegen diese Unterstellung sollten sich zeitgenössische Hanseforscher in aller Deutlichkeit verwahren. Wie sehr Paulsen gerade dieser Abschnitt seiner Arbeit auch emotional bewegt, zeigt die Sprache und Argumentation seines Textes. Immer wieder benutzt er Sperrungen bei Verben und Satzteilen zur Unterstützung seiner Aussagen. Diese Sperrungen – die sich in der gesamten Arbeit finden, hier aber besonders häufig auftreten – lässt man sich bei Ortsbezeichnungen und Forschernamen noch gefallen, doch wirken sie ab einem gewissen Punkt störend. Paulsen scheint seinen Worten nachhaltig optisch Ausdruck verleihen zu wollen. Das hat wenig mit überzeugender wissenschaftlicher Argumentation zu tun. Es wirkt wie die eine richtige Meinung, die nun mit dem Vorschlaghammer in den Leser eingeprügelt wird. Um nicht falsch verstanden zu werden – die von Paulsen aufgeführten Betrachtungen und Diskussionen sind unglaublich wichtig und sollten eine hohe Rezeption erfahren, zumal Paulsen Lösungsansätze liefert, die auf jeden Fall Gehör finden sollten. Ihm ist darin zuzustimmen, dass es keine „hansische“ Schifffahrt gab. Es ist auch vollkommen richtig, dass es keinen „hansischen Geist“ gab, sondern viele Sonderwege der Einzelstädte. Er hat vollkommen Recht, dass wir die Ausweitung der Hanse in Richtung Osten nicht als „unternehmerische Überlegenheit“ der Hansekaufleute überhöhen, sondern den „Drang nach Osten“ als aggressive Eroberungspolitik ansprechen sollten. Es muss auch noch einmal Paulsens Forderung deutlich unterstrichen werden, dass die Kogge endlich als europäische Erscheinung wahrgenommen und eine gemeinsame europäische Schifffahrtsgeschichte erarbeitet werden sollte. Man sollte daher die Lektüre des Buches nicht beenden, bevor man Paulsens Plädoyer für einen anderen Umgang mit Geschichte gelesen hat. Ob man Paulsen in allen Punkten folgen und zustimmen möchte, muss jeder für sich entscheiden. Aber die Art und Weise, wie Paulsen seinen eigenen Standpunkt in Abgrenzung zu anderen Forschern deutlich macht, ist berechtigterweise zu hinterfragen und zu kritisieren.

Das Buch von Reinhard Paulsen ist eine solide und sehr akribisch erarbeitete Studie. Das Werk ist aber unbestreitbar eine schwere Kost. Wer sich mit der Schifffahrtsgeschichte der Hanse beschäftigt, sollte auf jeden Fall einen Blick in den ersten großen Textteil des Buches werfen. Der bereits mehrfach gelobte Teil 2 = Anhänge und Register dürfte sich in den kommenden Jahren als wichtige Fundgrube und als Ausgangspunkt für weiterführende Studien erweisen. An den Erkenntnissen, die Paulsen zu den Hamburgischen Schiffen erarbeitet hat, sollte kein Forscher unbemerkt vorbeigehen. Was Paulsens Auseinandersetzung mit der Forschungsvergangenheit zur Hansegeschichte angeht, so bleibe ich bei meiner Meinung. Es war und ist richtig, diese Divergenzen in der Hansehistoriographie in aller Deutlichkeit aufzuzeigen und sie einem breiten Diskurs zu öffnen. Doch hätte Paulsen besser ein eigenes Buch daraus gemacht. Auch wenn die Wechselwirkung deutlich zu erkennen ist und sich beide großen Textteile der Arbeit uneingeschränkt bedingen, dominiert doch der zweite Teil die Gesamtwahrnehmung zu sehr. Paulsen hat sich auch durch den immer wiederkehrenden polemischen Unterton und die stark emotionale Bearbeitung keinen Gefallen getan. So wie man in den Wald hineinruft, so schallt es heraus.

Ein Beitrag aus der Mittelalter-Redaktion der Universität Marburg

Titelbild

Reinhard Paulsen: Schifffahrt, Hanse und Europa im Mittelalter. Schiffe am Beispiel Hamburgs, europäische Entwicklungslinien und die Forschung in Deutschland (Quellen und Darstellungen zur Hansischen Geschichte, N.F. Bd. 73).
Böhlau Verlag, Köln 2016.
1080 Seiten, 135,00 EUR.
ISBN-13: 9783412503284

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