Nur ein Sonntagsschwimmer

Pünktlich zum 80. Geburtstag des Nobelpreisträgers erscheint Mario Vargas Llosas Erzählung „Sonntag“ von 1959 erstmals als deutsche Einzelausgabe.

Von Luise CurtiusRSS-Newsfeed neuer Artikel von Luise Curtius

Besprochene Bücher / Literaturhinweise

Miguel liebt Flora, doch diese begegnet seiner Liebeserklärung nur zögerlich. Sonntag mutet zu Beginn wie eine zaghafte Liebesgeschichte an, entpuppt sich jedoch als Abhandlung über Mut und Selbstbehauptung, Gruppenzwang und Konkurrenzkampf. Als Geschichte über zwei junge Männer in einer Gang, die um dasselbe Mädchen rivalisieren, erscheint diese Erzählung thematisch und auch hinsichtlich der Ausgestaltung der Charaktere wie ein Vorläufer zum ersten Roman Vargas Llosas, La ciudad y los perros von 1962, erreicht aber noch nicht dessen literarisches Niveau. 

Miguel überwindet seine innere Nervosität und traut sich trotz Herzklopfen bei einem Spaziergang Flora seine Liebe zu gestehen. Sie ist für ihn ein „himmlische[s] Geschöpf“, eine „figurita celeste“, aber Flora wehrt seinen ersten Annäherungsversuch vorsichtig ab. Miguel ist wie vor den Kopf gestoßen, er vermutet dahinter das Werk Rubéns, seines Rivalen aus der Gang. Als die Gruppe der „Rabengeier“, der „pajarracos“, gleich darauf in einer Bar zusammentrifft, fordert Miguel Rubén zu einem Wettbewerb im Biertrinken heraus, um ein mögliches Treffen Rubéns mit Flora zu verhindern. Dieser ist den beiden jedoch nicht genug. Trotz ihres betrunkenen Zustands und der aufgrund der kalten Jahreszeit schlechten Wetterlage entscheiden sie sich für ein Duell in Form eines Wettschwimmens im Meer.

Dieses Motiv einer gefährlichen Mutprobe als Lösung für einen Streit unter Rivalen ist nicht neu. Warum wird diese Kurzprosa Vargas Llosas also erst jetzt und warum gerade jetzt als Einzelausgabe veröffentlicht? Verbirgt sich dahinter lediglich das Bestreben, anlässlich des Geburtstags des Schriftstellers zu kommerziellen Zwecken sein gesamtes Schaffen zu präsentieren? Oder erkennt der Verlag gerade in dieser Erzählung einen besonderen Wert, den er den anderen Geschichten des Sammelbands Los jefes, in der deutschen Ausgabe Die Anführer, von 1959 abspricht? Falls Letzteres zutrifft, dann fragt man sich warum.

Der Konkurrenzkampf von zwei Jugendlichen um eine junge Frau und der diesbezügliche Versuch einer Selbstbehauptung der Hauptfigur gegen jemand offensichtlich Stärkeren findet sich in ähnlicher Form auch in Vargas Llosas Romandebüt La ciudad y los perros von 1962 wieder, für den der Autor als erster südamerikanischer Schriftsteller mit dem Premio Biblioteca Breve des spanischen Verlags Seix Barral ausgezeichnet wurde und damit die Boomphase der lateinamerikanischen Literatur in Europa einleitete.

In La ciudad y los perros kämpfen in der Kadettenanstalt Leoncio Prado die jungen Kadetten gewaltvoll um die Macht, worunter sich einer als besonders rücksichtslos hervortut, der deshalb von allen nur „der Jaguar“genannt wird. Ausgerechnet mit dessen Ex-Freundin bändelt der eher literarisch brillierende Alberto an, nachdem er sie wiederum dem von allen ausgegrenzten Jungen Arana, genannt „der Sklave“, ausgespannt hat. Auch wenn der Konkurrenzkampf in der Liebe kein vorrangiges Thema des Romans bildet, ähnelt dessen Darstellung der Abneigung zwischen dem Jaguar, Alberto und Arana den Tiraden Miguels gegenüber Rubén in der Erzählung Sonntag. Auch die liebevoll geschilderte, zaghafte und voller Selbstzweifel steckende Annäherung an die weibliche Nebenfigur Teresa durch den Jaguar als ihren jungen Liebeswerber, kommt der Eingangsszene im Park zwischen Miguel und Flora in Sonntag sehr nahe. Wie bei der Figur des Jaguars und des Sklaven finden sich hier außerdem einige Bandenmitglieder mit ähnlichen Rollenbezeichnungen z.B. „el escolar, im Deutschen eigentlich „der Schüler“, in der Übersetzung jedoch „Köpfchen genannt oder „el melanés,“ übertragen in, „der Kanake“.

Zwischen der im Original 1959 erschienenen Erzählung und dem späteren großprosaischen Erstlingswerk von 1962 lassen sich also offensichtliche inhaltliche Parallelen ausmachen. Wenn man sich jedoch davon erhofft, in Sonntag schonauf die experimentelle Erzählstruktur zu stoßen, die Multiperspektivik und die Anachronie in der Erzählform, die den Roman La ciudad y los perros so durchgehend spannend gestalteten, dann sucht man hier vergebens. Die literarischen Innovationen der Neuen lateinamerikanischen Literatur, die zwischen den 60er und 90er Jahren einen Boom auf dem europäischen Absatzmarkt erlebte, lassen sich in der Erzählung noch nicht erkennen. Leider, könnte man sagen, denn Sonntag fehlt es an der literarischen Vielfalt der späteren Romane. Die auffallende Verwendung von Umgangssprache im Dialog zwischen den Bandenmitgliedern in der Erzählung ist zwar vielleicht schon ein Verweis auf die Intention der späteren Boom-Autoren, die gesprochene Sprache von jeglicher artifiziellen Verfälschung zu befreien, um ein authentisches Bild der Wirklichkeit zu vermitteln: Was in Die Stadt und die Hunde jedoch zu ebendieser Illusion beiträgt, wirkt in Sonntag noch etwas platt und unbeholfen. Die Erzählung ist vor allem dialogisch und weniger narrativ konstruiert und beide Strukturteile kontrastieren qualitativ miteinander. Die Dialoge sind nicht nur inhaltlich schlicht gehalten, sondern auch mit sehr schnellen Sprecherwechseln und sehr knapp gehaltenen Sprecherkennzeichnungen verbunden. Die Charakterisierung der einzelnen Sprecher ist dadurch fast nur inhaltlich und aus ihren Namen zu erschließen, lediglich über Miguel erfährt der Leser etwas mehr, da die Geschichte aus seiner personalen Perspektive erzählt wird. Gegenüber dem sehr ausschweifenden überladenen Stil der narrativen Passagen wirken die Dialoge daher weniger realitätsnah als schlicht schmucklos. So ist die längere Schwimmszene durch ihre klimaktische Satzkonstruktion sehr künstlerisch gestaltet und spannend erzählt, man bekommt als Leser spürbar eine Gänsehaut angesichts des ungewissen Ausgangs. Die Qualität dieser narrativen Schilderung hebt jedoch die flapsigen Dialogstrukturen nur noch zentraler hervor. Da hilft es auch nicht, wenn die Übersetzung den schlichten Tonfall der Dialoge an einigen Stellen in die erzählerischen Passagen zu übertragen versucht, und das Verb vomitar statt mit erbrechen mit der vulgären Form kotzen übersetzt. „Kaum auf dem Klo, musste er kotzen“ (S. 25) wirkt neben Sätzen wie „Miguel […] wollte nur an Floras Gesicht denken, den Flaum auf ihren Armen, der an sonnigen Tagen flimmerte wie ein Wald goldener Fädchen“ (S. 47) nur zusätzlich albern kontrastiv.

Auch das Ende ist enttäuschend. Bei einem Schlusswort nach einem abenteuerlichen Schwimmwettkampf im Meer lässt sich doch auf etwas mehr Tiefe hoffen, als mit „Vor ihm erstrahlte eine goldene Zukunft“ (S. 60) konnotiert ist. Stattdessen fühlt man sich an die Banalität erinnert, mit der Erfolgsautorin Joanne K. Rowling den siebenbändigen spannungsvoll literarisch durchkonstruierten Machtkampf ihrer Zaubererwelt beendete, indem sie nach dessen Finale ein schlichtes „Everything was well“ setzte. Und das ist schade, denn ein derart simpler und abrupter Schluss der Erzählung wird der Behandlung der in unserer heutigen Leistungsgesellschaft sehr aktuellen und auch komplexen Themen wie Gruppenzwang und Selbstbehauptung nicht gerecht. Sollte die thematische Relevanz also der Grund für eine deutsche Neuausgabe gewesen sein, dann ist deren narrative Verarbeitung nur unzureichend betrachtet worden. Der Comiccharakter der Bebilderung von Kat Menschik illustriert nur den Gesamteindruck: Sonntag bleibt leider als Frühwerk erkennbar.

Anmerkung der Redaktion: Die Rezension gehört zu den studentischen Beiträgen, die im Rahmen eines Lehrprojekts im Sommersemester 2016 entstanden sind und gesammelt in der Oktoberausgabe 2016 erscheinen.

Ein Beitrag aus der Komparatistik-Redaktion der Universität Mainz

Titelbild

Mario Vargas Llosa: Sonntag.
Übersetzt aus dem Spanischen von Thomas Brovot.
Insel Verlag, Frankfurt a. M. 2016.
64 Seiten, 16,00 EUR.
ISBN-13: 9783458200185

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