Primat ohne Eigenschaften

In ihrem tragikomische Roman „Oh Schimmi“ erlaubt sich Teresa Präauer drei Späße mit ihrem Ich-Erzähler

Von Matthias FriedrichRSS-Newsfeed neuer Artikel von Matthias Friedrich

Besprochene Bücher / Literaturhinweise

„Noch der armseligste Mensch ist fähig, die Schwächen des bedeutendsten, noch der dümmste, die Fehler des klügsten zu erkennen.“ So formuliert es Theodor W. Adorno in seiner Minima Moralia und liefert damit einen Aphorismus, der auch als Motto zu Teresa Präauers drittem Roman Oh Schimmi passen könnte. Hierin geht es um die Figur eines Narren, den seine Unbedarftheit, seine fehlende Erfahrung und seine mangelnde Empathie erst recht dazu befähigen, Einsicht in seine Umgebung zu erlangen. Ein Paradox, zumal die Erkenntnis mitmenschlicher Bedürfnisse eine gewisse Portion Einfühlungsvermögen verlangt. Doch seine Verschlossenheit und sein Unwissen über die Belange seiner Mitmenschen machen aus dem Ich-Erzähler Schimmi eine Außenseiterfigur, die einen unverstellten Blick auf die Dinge und ihr Sein ermöglicht.

Schimmi, seit einem Unfall in früher Kindheit als zurückgeblieben, ja gestört geltend, lebt bei seiner Mutter in einem Hochhaus. Sein Vater, ein hochbezahlter Banker, ist nach dem Unglücksfall auf Nimmerwiedersehen verschwunden; die Mutter hält an ihrem Sohn fest, erlaubt ihm jedoch kaum, die gemeinsame Wohnung zu verlassen. So klammert sich Schimmi an das einzige, was ihn noch im Leben hält – seine Fantasie – und ruft regelmäßig bei Erotik-Hotlines an. Wenn er es doch einmal schafft, seiner dominanten Mutter zu entfliehen, streift er auf der Suche nach Liebe durch die Großstadt und fällt selbstverständlich sofort als exzentrischer Kerl auf. Schimmi besitzt jedoch keinerlei Einsicht in sein Handeln. „Haben?! Kann ich jede“, protzt er gleich zu Anfang des Romans. Hier geriert sich einer zum „Obermakaken“, der alle anderen Männchen aus seinem Revier verdrängen möchte. Dennoch ist er bloß eines, nämlich gefangen in sich selbst, in seiner eigenen tragikomischen kleinen Welt, und damit: ein Affe.

Dies ist der erste grausame Spaß, den sich Teresa Präauer mit ihrem Ich-Erzähler erlaubt. Die Mannsfigur lässt ihre Hüllen fallen und zeigt sich als extrovertierter Primat, der nichtsdestotrotz ein in sich gekehrter, schutzbedürftiger Mensch ist. Das Selbstbewusstsein, das er für sich verbuchen will, entspricht nicht dem, was andere in ihm sehen. Ein derartiger Widerspruch zwischen Eigen- und Fremdbild kann auf lange Sicht nur zu Zank und Händel führen. Als er an einem asiatischen Nagelsalon vorbeikommt, blickt Schimmi durch die Schaufensterscheibe auf die schöne Ninni, die dasitzt „wie auf einem Thron“. Zu diesem Zeitpunkt kennt er ihren Namen noch nicht. Den erfährt er erst, als die Besitzerin des Salons, Yu Mei Chow, zusammen mit ihren Angestellten und Ninni auf die Straße eilt, nachdem er sich die Nase an der Schaufensterscheibe plattgedrückt und mehr oder minder obszöne Lippenbewegungen gemacht hat. Sogleich beginnt Schimmi, über die Euphonie des hellen Vokals I nachzudenken. Gemeinhin als kindlicher Ausdruck von Ekel betrachtet, erhält das I in Schimmis Ohren eine positive Bedeutung: „Letztlich kann man hier ja aus jedem Namen einen mit –i– machen, man braucht nur den Buchstaben hinten anzufügen wie an ein Kosewort. Ich sag, wenn ich eine beglücke, dann eine mit –i–. Oder: Wenn ich eine begatte, dann eine mit –i–.“ In den Augen der anderen mag das Abstoßende etwas sein, von dem sich fernzuhalten ist. Für Schimmi aber ist es die Normalität, denn er ist ein kompletter Außenseiter und kennt kein anderes Leben als dieses beschädigte. Deshalb entwickelt der besagte Laut für ihn eine besondere Anziehungskraft. Dass Ninni gleich zwei I in ihrem Namen trägt, lässt sie gleich doppelt begehrenswert erscheinen. Und das, obwohl sie bloß zur falschen Zeit am falschen Ort ist und mit Schimmi eigentlich gar nichts zu tun haben möchte. Er ist ihr unheimlich.

Schimmis Verhalten Ninni gegenüber führt zu einem Problem, das den ganzen Roman bestimmt. Die taktile Dimension des Erotischen ist Schimmi nämlich vollkommen fremd. Er verlässt sich auf Ersatzhandlungen, die ihm zumindest einen flüchtigen Ausbruch aus seiner Einsamkeit bieten. Seiner Fixierung auf das I liegt ein Verständnis der Liebe als Konstrukt zugrunde. Er baut sich seine Ninni so zusammen, wie sie ihm gefällt. Und obwohl sie im Verlauf der Handlung gewaltig an Strahlkraft einbüßt, sogar einen regelrecht verwahrlosten Eindruck hinterlässt, ist er ihr immer auf den Fersen. Das hat etwas Täppisch-Unverbesserliches, doch ausgerechnet die Idealisierung, die ja von vornherein nicht die besten Voraussetzungen für eine geglückte Kontaktaufnahme bietet, löst nach und nach den Knoten. Schimmi ist keine Figur, die sich entwickeln kann oder wird; er wird auf ewig seine Objekte der Begierde vergöttern, anstatt mit ihnen zu kommunizieren und eine Beziehung zum Du aufzubauen. Lassen sich in seinen Streifzügen durch die Stadt, der allmählichen Ablösung von seiner Mutter und der Aufklärung seiner Herkunft noch Elemente des Bildungsromans ausmachen, so ist es nicht möglich, diese Bruchstücke zu einer coming of age-Erzählung zusammenzufügen.

Dies ist der zweite Spaß, den sich Teresa Präauer mit ihrem Ich-Erzähler gestattet. Sie entwirft kein Szenario des Erwachsenwerdens, sondern das einer allmählichen Infantilisierung. Sie dreht die typische Initiationsgeschichte einfach um. Zu Beginn wird zwar schnell offensichtlich, wie, wo und warum Schimmi lebt; hier schildert Präauer also die persönliche Ausgangslage ihres Protagonisten. Aber sie macht gleich mit dem Höhepunkt weiter: Schimmi, der sich als Stammesoberhaupt, als Meister im „Verdrängungskampf“ der Arten behaupten zu meinen scheint, hat es nicht mehr nötig, sich weiter zu differenzieren, durch sein Amt als Oberphilosoph der Evolution hat er ja schon Einblick in die Idee des guten Lebens erhalten. Schimmi muss von diesem Gipfel heruntersteigen und schauen, wie es in den Niederungen und im Unterholz der Existenz aussieht. Nicht die Vervollkommnung ist hier das Ziel, sondern die Besinnung auf die eigenen Wurzeln. Gerade die wollen ja die typischen Protagonisten des Bildungsromans hinter sich lassen. Er kann zwar zeitweise dem Hotel Mama entfliehen, aber auf dem Weg in die Freiheit holt ihn seine Vergangenheit ein. Durch eine abenteuerliche Verkettung von Umständen erfährt er, wer sein Vater ist und wo er lebt. Da die Aufklärung seiner Herkunft allerdings einem Verrat an seiner Person gleichkommt, bleibt ihm nur noch eine Person, an die er sich klammern kann: Ninni höchstpersönlich. Doch da sie von ihm alles andere als entzückt ist, schlüpft er in ein Affenkostüm und versucht, sie undercover für sich zu gewinnen: eine Szene, die zum Schreien komisch ist und auf direktem Wege in den Wahnsinn führt. Damit ist Schimmi an der Talsohle angekommen und der Gipfel bloß noch eine verschwommene Erinnerung.

Schimmis Trip im Affenkleid ist den Zuschauerinnen und Zuschauern des letztjährigen Bachmannpreises schon bekannt. Damals erkannte die Jury zu Recht, dass der Text mehr anspricht als die bloße Darstellung einer männlichen Figur im Habit eines gescheiterten Pick-Up-Artisten. „Du Affe!“ Beschimpfungen wie diese werden oft geäußert, wenn es darum geht, eine bestimmte Eigenschaft oder Idiosynkrasie eines Mitmenschen ins Lachhafte zu verkehren. Teresa Präauer nimmt das wörtlich, wenn sie ihren Antihelden in das Fell eines Schimpansen steckt. Die erste Silbe des Tiernamens bringt Schimmi mit sich selbst in Verbindung: Schimmi der Schimpanse. Genau so, wie er alles andere auf seine eigene Person bezieht, es verdreht und ins Absurde führt.

Dies ist der dritte Spaß, den Teresa Präauer ihren Ich-Erzähler erdulden lässt. Er ist nämlich ganz und gar nicht das ungehobelte Stück Holz, als das die anderen ihn gerne sehen möchten oder ihn gar bemitleiden. Er ist die armselige Kreatur, die die Fehler der Klügsten erkennt; er sieht, in welchem kaputten System er sich befindet; er geriert sich manisch als primum movens, in dessen Händen alle Fäden zusammenlaufen – und tritt dabei ausschließlich auf als ein Ich, das nicht mehr Herr im eigenen Hause ist, sondern durchströmt wird von den Diskursen, die seine Lebenswelt modulieren. Wie ein Kind, das seinen eigenen Weg Schritt für Schritt erkämpfen muss, will Schimmi Freiräume für sich herausspielen. In einer langen Szene begeht er jenes Verbrechen, das schon vielen die Unbedarftheit ihrer frühen Jahre genommen hat: Er schleicht sich in Mutters Vorratskammer (wohlgemerkt: als erwachsener Mann), stiehlt Süßigkeiten und stopft sich voll, bis er fast platzt. Sein gargantuesker Anfall bringt das Zimmerchen gehörig in Unordnung; und Schimmi sieht bloß „noch eine Chance, die Sache geradezurichten. „… Noch eine Schangse, Schimmi, noch eine Schangse. Nutze sie, wie es die Marktwirtschaft dich gelehrt hat!“ Hier wäre vorstellbar, dass er versucht, den Raum möglichst unberührt zu hinterlassen, doch er tut das Gegenteil, klettert die Leiter hinauf bis zu den höchsten Regalen und frisst weiter, ehe er „Step by Step“ wieder hinabsteigt.

Diese Stelle ist charakteristisch für das Thema, das Präauer in diesem Roman umzutreiben scheint. Es geht darum, eine Figur zu erschaffen, die in ihrer Unbedarftheit das verlogene Umfeld, in dem sie aufgewachsen ist, als solches demaskiert. Das ist sicherlich kein neuer erzählerischer Griff, doch Präauer schafft es, Schimmi als Primat ohne Eigenschaften zu präsentieren, den alle Diskurse seiner Zeit durchlaufen. Doch bei ihm stößt das Gerede über Fortkommen, Weiterentwicklung und ökonomische Selbstverwirklichung an seine Grenzen. Schimmi macht mit seiner Geschichte deutlich, welche schlichten evolutionären Faktoren sich hinter jedem noch so aufgeblasenen Marketing-Sprech verbergen. Hier fährt Präauer eine interessante Doppelstrategie: Ginge es ihr lediglich darum, Schimmi als lächerlichen Wüstling vorzuführen, müsste sie die Geschichte seiner Herkunft nicht erzählen. Schimmis Vater, der in der Finanzwelt tätig ist, kennt sich bestens mit dem Neoliberalismus aus, er bereist die Krisenregionen der Welt und schaut, welche „Emerging Markets“ dort auszumachen sind. Schimmi tut es seinem Vater gleich, wenn er durch die Stadt stromert und nach Frauen im Allgemeinen und Ninni im Besonderen Ausschau hält. Er macht die Suada der Werbeindustrie für sich fruchtbar; er schaut, wer sich besitzen lässt; er kolonialisiert das Schlachtfeld der Liebe – so scheint es zumindest. Denn erst, als er in das Affenkostüm steigt, wird deutlich, wie vergeblich seine Anstrengungen sind. Es nützt Schimmi nichts, sich zu verstellen, um das zu bekommen, was er möchte.

Mit ihrem Roman liefert Teresa Präauer eine Persiflage auf das Do-It-Yourself-Larifari der Selbstverwirklichungsgesellschaft. Obwohl es Schimmi sowohl an Eigen- als auch an Fremdverständnis mangelt, ist er in der Lage, sich und seine Umgebung zu verstehen. Erst als er das Affenfell überzieht, wird ihm in einer Art performativer Selbsteinsicht klar, wo sein Platz in dieser alles durchwirkenden Marktwirtschaft liegt. In einem solchen Moment könnte er vermutlich innehalten und aussteigen. Aber nein. Seine Tragik liegt gerade darin, alles bis zum Ende durchexerzieren zu wollen. Deshalb spielt er weiter, bis es zu spät ist: „Ich komme jetzt aus diesem Kostüm nicht mehr heraus.“ Und so lässt er es an. Er hat sein Selbstbild zugunsten eines Fremdbildes verzerrt, das ihm ohnehin nur als Flackern von Bildschirmen, in Form diffus retuschierter Figuren auf Werbeplakaten oder in der Gestalt seines Banker-Vaters erreicht hat. Die unglückliche Verquickung von Liebe und Marktwirtschaft hat ein ohnehin beschädigtes Leben noch weiter beschäftigt, und das Traurige daran ist: Aus Sicht von Schimmis Mitmenschen ist dies nicht weiter bedauerlich, sondern die urkomische Konsequenz aller Ereignisse.

Titelbild

Teresa Präauer: Oh Schimmi. Roman.
Wallstein Verlag, Göttingen 2016.
204 Seiten, 19,90 EUR.
ISBN-13: 9783835318731

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