Vom Ende zum Anfang

Gustaaf Peeks ungewöhnlicher Roman „Göttin und Held“ setzt neue Maßstäbe im Erzählen von Liebe

Von Miriam SeidlerRSS-Newsfeed neuer Artikel von Miriam Seidler

Besprochene Bücher / Literaturhinweise

Am Anfang steht ein Sarg. Über dem Sarg ein Monitor, der Bilder aus dem Leben der Verstorbenen zeigt. Der für die Trauerfeier engagierte Redner liest einen fiktiven Liebesbrief an die Verstorbene. Szenen am Ende eines Lebens. Der Name der Verstorbenen wird nicht genannt, noch ist sie eine Namenlose. Leerstellen, Andeutungen, Querverbindungen – Gustaaf Peek gelingt es in seinem Roman Göttin und Held mit wenigen Worten ein Stimmungsbild zu erzeugen, eine Situation aufzurufen, die jeder kennt, um sie dann mit einem skurrilen Einfall kippen zu lassen. Die Botschaft: Das Leben ist nicht so einfach, wie es scheint. Es gibt immer noch eine Alternative – und diese führt Peek seinen Lesern vor Augen. So macht sich ein Putztrupp im ersten Kapitel auf, um den verlassenen Sarg aus der Einsegnungshalle zu entführen. Die Tote macht ihren letzten Ausflug. Der Protagonistin Tessa, die ihren Tod mithilfe einer Sterbehilfe-Organisation vorbereitet hat, hätte dieses unerwartete Ende gefallen. Sie ist die „Göttin“ in Peeks Roman, selbstbewusst, unnahbar, sensibel und verwundbar.

Peek erzählt Tessas Lebens- und Liebesgeschichte vom Ende her. In 50 Episoden entsteht nicht nur ihr Porträt, sondern auch das von Marius, dem ‚Helden‘ dieser Liebesgeschichte. Er ist weniger selbstbewusst, dafür aber umso besitzergreifender. Sein Trauma – mit Tessa kein Kind gezeugt zu haben – verfolgt ihn bis kurz vor seinem Tod. So entsteht die Charakterstudie zweier Menschen, die weder miteinander noch ohne einander sein können. Ist das Liebe? Oder doch ‚nur‘ Begehren? Lässt sich beides voneinander trennen?

Wird ein Leben vom Ende her erzählt, dann steht zuerst der alte Mensch im Fokus. Es ist der Schmerz des Alterns, das langsame Loslassen, das den Romanbeginn prägt und sich sehr eindrücklich von anderen Darstellungen des Alterns in der Gegenwartsliteratur unterscheidet. Nicht das langsame Vergessen des Ichs in der Demenz oder das verzweifelte Festhalten an der Jugendlichkeit durch eine überzogene Sexualität bestimmt die Figurengestaltung. Wie sich im Lauf der Lektüre herausstellt, bleiben sich die Figuren auch im Alter treu. Und dennoch  ist auch hier die Schilderung von Ende her durchaus verstörend. Die Beschreibung von masturbierenden jugendlichen Figuren stellt in der Literatur kein Tabu mehr dar. Eine alte Frau, die ihre Sexualität bewusst lebt und erlebt und vom Erzähler dabei beobachtet wird, stellt eine Seltenheit dar. Ein Vibrator, ein imaginierter Taxifahrer, der sie ins Nirgendwo entführt, heiße Wellen, die beim Orgasmus durch ihren Körper laufen; wie die Beerdigungsszene ist auch diese Beschreibung alltäglich und doch fühlt man sich als (junger) Leser dabei ertappt, dass man sich Sexualität im Alter irgendwie anders vorgestellt hat. Dabei sind die Sehnsüchte zeitlos und machen so unaufdringlich bewusst, dass Sexualität in jeder Lebensphase eine bedeutende Rolle spielt. Darüber hinaus kommt ihr, auch wenn sie in Peeks Roman manchmal etwas dominant und aufdringlich wirkt, eine wichtige Funktion zu. Sexualität, so hat es Michel Foucault in Dispositive der Macht formuliert, ist der Knotenpunkt, an dem sich gleichzeitig die Geschicke unserer Spezies und unsere ‚Wahrheit‘ als menschliches Subjekt verknüpfen. Und so nimmt auch die Sexualität in Göttin und Held einen großen Raum ein, weil sie beides kann: die Identität einer Figur unmissverständlich offenbaren, ihre Veränderung im Verlauf des Lebens offenlegen und eine Gesellschaftsdiagnose entwickeln, die unter die Haut geht.

Gustaaf Peeks Protagonisten sind Autoren. Marius ist erfolgreich mit einem Blog über Alltägliches, für den er seine Umwelt beobachtet, sich treiben lässt und seine Impressionen niederschreibt. Kleine Charakterskizzen, wie sie auch Peeks Roman enthält, sind seine Stärke. Tessa schreibt Biografien von Frauen; Sylvia Plath und Simone de Beauvoir faszinieren sie. Erst nach dem plötzlichen Tod von Marius beschließt sie, einen Roman über ihn zu schreiben, doch fällt ihr das schwer, da sie das Gefühl hat, kein rundes Bild des Geliebten entwerfen zu können. „Es war Text und tot und ging an keiner Stelle über Anekdoten hinaus.“, so fasst sie ihre vergeblichen Bemühungen zusammen. Gerade das, was Tessa nicht gelingt, zeichnet diesen Roman aus. Dass Peek es selbst formuliert, lässt den Leser darin das zentrale Thema von Göttin und Held vermuten: Wie kann ein Leben erzählt werden? Wie schildert man etwas so Alltägliches und doch Einmaliges wie eine Liebesbeziehung?

Die 50 Episoden im Roman sind Momentaufnahmen von einer ungemeinen sprachlichen Sogwirkung. In ihnen gelingt es Peek meisterhaft, intime Augenblicke der Beziehung einzufangen und deren Störungen zu beschreiben. Die Unmöglichkeit von Nähe wird in kurzen alltäglichen Dialogen vorbereitet. Einsamkeit wird in Monologen schmerzhaft greifbar. Atemlose, lange Satzreihen lassen den Leser am Glück der Figuren teilhaben. Auch wenn bei der Lektüre von Göttin und Held nicht zu übersehen ist, dass der Autor sein Thema reflexiv durchdringt – beispielsweise zeichnet er in wenigen Sätzen eine bitterböse Satire auf den Literaturbetrieb –, so zieht die rückwärts erzählte Liebesgeschichte den Leser in ihren Bann. Es ist nicht die Frage nach dem Ende, die die Neugier weckt, sondern die nach dem Anfang. Dass es in dieser ungewöhnlich intim und distanziert zugleich erzählten Liebesgeschichte nicht die Liebe auf den ersten Blick sein kann, die am Anfang steht, verwundert indes nicht. Wie es Peek gelingt, die Mosaiksteinchen zweier Leben gekonnt aneinanderzufügen, überrascht am Ende dann doch.

Titelbild

Gustaaf Peek: Göttin und Held. Roman.
Übersetzt aus dem Niederländischen von Nathalie Lemmens.
Deutsche Verlags-Anstalt, München 2016.
336 Seiten, 19,99 EUR.
ISBN-13: 9783421047076

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