Den Sprachereignissen auf der Spur

Rüdiger Görner setzt sich mit Lyrik auseinander

Von Erhard JöstRSS-Newsfeed neuer Artikel von Erhard Jöst

Besprochene Bücher / Literaturhinweise

Kein Zweifel: Rüdiger Görner ist belesen, und er stellt mit seinem Buch Wortspuren ins Offene seine Belesenheit umfassend unter Beweis. Mit seinen komparatistischen Diskursen untersucht er historische und poetologische Dimensionen von Gedichten. Er möchte Wege aufzeigen, wie sich der Leser dem Lyrischen nähern kann, und er begibt sich deshalb auf die Suche „nach dem impliziten Sprachgefühl, das im jeweiligen Gedicht zur Form findet“. Die Bandbreite des lyrischen Materials, das Görner dem Leser seiner Studien präsentiert, ist enorm; es stellt sich allerdings die Frage, ob er ihn mit seiner Suche nach den literarischen Sensorien nicht überfordert. Zur Verwirrung trägt auch bei, dass in das Buch alles Mögliche hineingepackt wurde, was der Autor in jahrzehntelanger Auseinandersetzung mit der Lyrik zu Papier gebracht hat: „Wissenschaftliche Abhandlung steht neben Vortrag, Essay neben Nachworten zu Anthologien, Kommentare zum Charakter des Lyrischen finden sich neben Kritiken, das aber in der Hoffnung auf ein Gespräch der diskursiven Formen über die Essenz des Gedichts.“ Es wurden sogar Rezensionen „aus der kritischen Praxis“ aufgenommen: „Lyrische Zeichen des Frühjahrs 1998“, „Lyrik im Jahre 2000“, „Lyrik im Frühjahr 2001“, „Lyrische Frühjahrskollektion 2002“, „Ohne Seidenwurzel durch den Winter (2003)“, „Weltklage. Zu Paulus Böhmers großem Zyklus Kaddish“, „Lyrik der DDR (2009)“ [sic!)], „Neue Gedichte von Uwe Kolbe (2012)“, „Evelyn Schlags neue Gedichte (2002)“.

Herausgekommen ist ein labyrinthisches Sammelsurium, in dem sich der Leser, sogar der kenntnisreiche Literaturwissenschaftler, verirren kann. Görners Aufsätze können sowieso nur von Experten rezipiert werden. Dabei scheint es, als ob sich das Buch mit seiner ansprechenden Aufmachung und dem reizvollen Umschlagbild The Open Window von Juan Gris an alle Leser richten möchte, die sich für Lyrik interessieren. Das Buch wird ihnen aber nicht helfen, „dem für die lyrische Komposition so wesentlichen Zusammenspiel von Wörtlichkeit und syntaktisch-metrischen Transformationen“ auf die Spur zu kommen. Görner weist in seinem Vorwort „Prolyricon. Eine Zusprechung“ darauf hin, wie schwer es ist, „lyrische Sensibilität“ zu erreichen, was wohl nicht nur für den Schriftsteller, sondern auch für den Leser gilt: „Wer es versäumt hat sich beizubringen, hörend zu schreibend [sic], kann es zumindest in der Lyrik zu nichts bringen.“

Die meisten Beiträge zu dem Buch Wortspuren hat Rüdiger Görner bereits in Zeitschriften, Sammelbänden und Zeitschriften veröffentlicht, auch den Aufsatz „Poetik der Zeit“, den er an den Anfang gestellt hat. Dieser demonstriert, wie und in welcher Weise der Autor sein Wissen in Szene setzen möchte: Weit ausholend präsentiert er einen Parforceritt durch die abendländische Philosophie, Literatur- und Geistesgeschichte. Von Augustinus bis Martin Heidegger werden Namen und Fragen aufgezählt, die „selbst zum Horizont der nach-existentialistischen Zeitphilosophie geworden“ sind „und damit auch einer Kunst, die sich dem Bewusstmachen von Zeitwerten verschrieben hat und von Marcel Proust und Thomas Mann bis Giorgio de Chirico, John Cage und Samuel Beckett reicht, besonders aber in der Lyrik der (Nach-)Moderne beziehungsreiche Formen entwickeln konnte.“ Zwar sind die vorgetragenen Überlegungen in der Regel nicht neu, aber durchaus reizvoll. Ein Beispiel:

„Der poetische Raum des Textkörpers versammelt Zeitwerte; in ihm staut sich Werden und Vergehen. Durch die Gestalt oder Form des Werkes lassen sich diese meist erkennbar unterschiedlichen Zeitwerte als ein Jetzt fassen. Im Wiederlesen, Wiederhören, Wiederbetrachten erhält sich dieser Jetzt-Charakter des Kunstwerks, steht aber in unvermeidlichem Wiederspruch [sic!] zu der zwischen der ersten und wiederholten Wahrnehmung vergangenen ‚natürlichen‘ oder ‚alltäglichen‘ Zeit.“

Görner konstatiert, dass „die Verräumlichung und Verkörperlichung der Zeit […] in der literarischen und bildkünstlerischen Moderne zu einem Hauptanliegen“ wurde und weist ganz nebenbei darauf hin, dass es seiner Meinung nach „zu den häufig bemerkbaren Versäumnissen einer kulturwissenschaftlich ausgerichteten Literaturforschung gehört, zwischen der Untersuchung räumlich-körperlicher Verhältnisse in Texten und ihrer Behandlung der Zeit zu unterscheiden.“

In dem Vortrag „Dichten aus dem Geist der Historie“ unternimmt Görner den Versuch, „das Europäische in Schillers Lyrik“ zu erkunden, in dem Aufsatz über den „Gelegenheitsdichter“ Eduard Mörike geht es um das „Abgründig-Anakreontische“. Interessante Aspekte bietet die Studie „Zur Motivik in Franz Grillparzers Lyrik“. In dem Aufsatz über Theodor Fontane geht Görner den Fragen nach, ob es „so etwas wie ein ‚balladeskes Weltbild‘“ gibt und ob die Ballade heute ein bloßes Relikt und auch als solches allenfalls in Form der Moritat und des Bänkelsangs im Stile Bertolt Brechts und Paul Dessaus erträglich“ ist. Anregend sind die Ausführungen „Gedicht als Landschaft“ zur Lyrik von Georg Trakl, wobei es verwundert, dass Franz Fühmanns brillantes Buch Der Sturz des Engels in den Anmerkungen fehlt.

Zu Beginn des zweiten Absatzes in dem Aufsatz, der sich mit der „Sprache des Späten in der Lyrik Hermann Hesses“ befasst, liest man: „Bis heute gilt: Wer als Kritiker etwas auf sich hält, umgeht Hesses Lyrik. Denn nach landläufigem Urteil hafte ihr etwas peinlich Naives, geradezu Anti-Modernes, kitschig Neoromantisches an.“ Man kann diese Aussage auch als Beweis dafür nehmen, dass die Kritiker einem Gruppenzwang unterliegen: Sie müssen sich mit „landläufigen Urteilen“ vom Publikumsgeschmack distanzieren. Denn Hesses Gedichte erfreuen sich bekanntlich einer großen Verbreitung. Nach Görner ist das „Irritierende“ an diesen Gedichten, „dass sie viel vom Spiel reden, ohne selbst neue Regeln zu wagen, dass sie sich den ästhetischen Kriterien der Moderne entziehen, keine Strukturprobleme im Sinne von Hugo Friedrich stellen“. Es sei die Schwäche von Hesses lyrischem Schaffen, dass seine rhythmisch-metrischen Strukturen wenig Variationen aufweisen, dass es „motivisch begrenzt“ sei, dass es „in sich geschlossen“ wirke, „ohne je hermetisch zu sein“.

Ausführlich beschäftigt Görner sich mit dem „Dialoggedicht bei Yvan und Caire Goll“. Wie auch bei anderen Interpretationen lässt er dabei ein „lyrisches Ich“ agieren und schiebt eingeklammerte Zitate in die Sätze ein: Eine Vorgehensweise, die schon manchem Deutschlehrer beim Korrigieren von Schüler-Aufsätzen in den Wahnsinn getrieben hat. Ein prägnantes Beispiel: „Claire Golls Ich im Gedicht „Schlaflosigkeit“ will zu dieser den toten Geliebten beweinenden „Amsel“ mutieren; es nimmt die fünfte Morgenstunde aus der „Ode“ auf („Um fünf verläßt das Gespenst seinen Posten“), in der es sich jedoch sogleich selbst als Opfer sieht, tödlich verwundet von der „blauen Feder“.“ Im „Versuch über W. H. Auden“ konstatiert Görner, dass dieser Lyriker, der im Zeitalter der „sich bekämpfenden Ideologien“ lebte, „der Barde der Beinahe-Aussteiger“ war, „ein Grenzgänger zwischen Genuß und Abstinenz“, der „die politisch-religiösen Dogmen aushorchen“ wollte.  Im folgenden Aufsatz verliert Görner „Nach-Worte über die melancholisch-lyrische Formlust des Alexander Lernet-Holenia“, ein Schriftsteller, der „als Exzentriker und Anachronist“ in kauzigem „Gehabe mit Monokel und Rittmeistergesinnung“ auftrat. Seine Gedichte seien „eine Poesie der Verweigerung“, sie seien ihm „geistige Überlebenshilfe, kostbare Anker in der Welt der Gewöhnlichkeiten, exzentrische Formgesten geradezu in Zeiten zunehmender Geschmacksnivellierung“ gewesen. In dem Kapitel „Im ‚sanglosen Sirren der Fledermäuse‘“ beschäftigt sich Görner mit der „Poetologie in den Gedichten Hans Keilsons“, der „viel Ungeheuerliches, Unerhörtes erfahren, Erinnertes durcharbeiten“ musste, „um zu seinen Gedichten zu finden.“ Es folgen „Bemerkungen zum poetischen Prozess am Beispiel von Nicolas Born“ mit zum Teil verblüffenden Erkenntnissen, zum Beispiel: „Das Ich des Gedichts gleicht somit der Summe aller Du-Fiktionen.“ Auch das poetische Weltbild Peter Rühmkorfs wird „unter besonderer Berücksichtigung seines Gedichts ‚Tagelied‘“ eingehend untersucht und führt unter anderem zu dem Ergebnis, dass sein Schreiben „nach einem Weltbild ohne Weltanschauung“ sucht.

Der Aufsatz „What were those caryatids bearing?“ beschäftigt sich mit dem mythopoetischen Verfahren von Ted Hughes, der „der Schamane und Druide unter den englischen Dichtern“ war. Er verkörperte nach Görner „den chthonischen Dichter, der das Elementare in seinen Gedichten und szenischen Texten feierte, als ein Gewaltereignis, das inmitten der Zivilisation aufbrechen kann und mit dem jederzeit zu rechnen ist.“ Der Dichter, der angeblich „Widerstandskräfte gegen die zivilisatorische Entfremdung mobilisieren“ wollte, setzte das Gedicht „dabei als Mythos-Regenerator ein und das mit einer Verve, die an Botho Strauß’ Anschlag auf die „sekundäre Welt“ in seinem notorischen Großessay Anschwellender Bocksgesang erinnert.“ Der Leser ist von diesem Einsatz ebenso beeindruckt wie von Görners tiefgreifender Erkenntnis: „Die Frage, was die Karyatiden am Erechteion der Akropolis eigentlich tragen, was ihre Evokation im Gedicht leisten soll, ist eine Grundfrage von Hughes, die er nicht nur retrospektiv an Sylvia Plaths Dichtung richtete, sondern auch an sich selbst und seine Verwendung mythischer Bilder.“ Görner behauptet zudem, dass „die mythopoetischen Verfahren von Pound und Hughes“ darin miteinander verwandt seien, „daß sie das mythologische Narrativ brechen und in ein poetisches Perspektiv verwandeln, das auf einzelne Szenen oder Bilder eingestellt wird“. Vielleicht finden sich Literaturwissenschaftler, die sich die Mühe machen, diese Behauptung zu überprüfen, auch wenn sie Gefahr laufen, am Ende Görners Folgerung zuzustimmen, wonach es unmöglich sei, „für Hughes eine probate Kategorie im Kontext der britischen Gegenwartslyrik zu finden.“

Zu den lesenswerten Studien gehört Görners Aufsatz über den Lyriker Thomas Bernhard. Seiner Forderung, „Bernhards Lyrik als integralen Bestandteil seines Werkes zu begreifen, die Deutungswürdigkeit der Gedichte ernst zu nehmen und damit ihren Stellenwert in der deutschsprachigen Lyrik in der zweiten Hälfte des 20. Jahrhunderts neu zu bestimmen“, kann man vorbehaltlos zustimmen.

In dem Aufsatz „Am Sonnenstein des Octavio Paz“ macht Görner Anmerkungen „zum Gedicht als kosmopoetischem Ort und einer Kritik Peter Rühmkorfs“, denen lediglich Lyrik-Spezialisten der besonderen Art eine Bedeutung beimessen werden. Vielleicht erschließt sich diesen auch der Sinn der „Zehn Thesen zur politischen Lyrik“, die Görner aufstellt.

Im dritten Teil seines Buchs geht Görner auf das Thema „Lyrik als literaturkritischer Gegenstand“ ein und legt dar, dass „ein Hauptproblem der Lyrikkritik in der Moderne und Nachmoderne“ darin liege, „dass sie immer wieder neue Beschreibungskategorien zu finden hat, die versuchen müssen, das sprachlich Überraschende, Unerwartete im lyrischen Gebilde zu erfassen und angemessen wiederzugeben.“ „Doch eines soll Lyrikkritik selbst in zeilenknappen Zeiten (von Sendezeiten zu schweigen!) auch weiter bewirken“, fordert Rüdiger Görner: „Den Leser auf den Geschmack nach Lyrischem bringen.“ Ob ihm selbst das mit seinem Buch Wortspuren ins Offene gelungen ist, sei dahingestellt. In seinen Rezensionen, die das Buch abschließen, geben sich Lyriker aus aller Welt ein Stelldichein. Der Leser wird mit so vielen Namen und Aussagen bombardiert, dass ihm schwindelig wird und er nach Abschluss der Lektüre Görners Buch erschöpft beiseite legt. Vielleicht lernt er die genannten Lyrikerinnen und Lyriker dann in unruhigen Träumen kennen: Karl Lubomirski, Primo Levis, Christoph Wilhelm Aigner, Hans Peter Hoffmann, Harald Gerlach, Gennadij Ajgi, Gellu Naum, Franz Josef Czernin, Cvetka Lipus, Uros Zupan, Henning Ahrens, Gerhard Altmann, Dorothea Grünzweig, Christine Bustas, Johannes Kühn, Ulrike Draesner, Norbert Hummelt, Pia Juul, Kazuko Shiraishi, Bettina Balàka, Helga Glautschnig, Semier Insayif, Waltraud Haas, Miodrag Pavlovic, Mirko Bonné und und und. Man vergisst bei so vielen Personen vielleicht ganz seinen Ärger darüber, dass Görners Buch überaus schlampig lektoriert worden ist. Denn bei einer sorgfältig durchgeführten Kontrolle hätte man die vielen Rechtschreib- und vor allem Zeichensetzungs-Fehler wenigstens auf ein erträgliches Maß reduzieren können.

Titelbild

Rüdiger Görner: Wortspuren ins Offene. Lyrische Selbstbestimmungen.
Universitätsverlag Winter, Heidelberg 2016.
327 Seiten, 68,00 EUR.
ISBN-13: 9783825366001

Weitere Rezensionen und Informationen zum Buch