Wissen von morgen

In Benjamin Bühlers und Stefan Willers Sammelband „Futurologien“ wird vielseitig über die Zukunft nachgedacht

Von Simone Sauer-KretschmerRSS-Newsfeed neuer Artikel von Simone Sauer-Kretschmer

Besprochene Bücher / Literaturhinweise

Der von Benjamin Bühler und Stefan Willer herausgegebene Sammelband Futurologien beschäftigt sich, so der Untertitel, mit Ordnungen des Zukunftswissens. Was das womöglich alles sein kann, skizzieren die Herausgeber in ihrer Einleitung: Sie fragen danach, welche Vorstellungen sich die Gegenwart von dem macht, was kommen wird, und welche Ideen, Traditionen und Methoden der Prognostik sich entwickelt haben, um das Ungewisse, Noch-Nicht-Vorhandene, das Geschätzte, Kalkulierte, Prophezeite oder auch das Erwünschte, kurz: das Zukünftige in eine (erste) Form zu bringen, über die sich schon heute nachdenken und spekulieren lässt. Der Sammelband hat folglich eine Fülle von Ansätzen zu bieten, die einkreisen, womit man rechnen muss, wenn man über die Zukunft sprechen möchte.

Selbstverständlich ist es dabei nicht der Anspruch, eine Subdisziplin der literaturwissenschaftlichen Kulturwissenschaft (oder auch umgekehrt) erschöpfend zu zementieren. Vielmehr erscheint das Buch als lebhafte Denkfabrik, in der sich Beiträgerinnen und Beiträger aus verschiedenen wissenschaftlichen Disziplinen zusammengefunden haben, um tagesaktuelle Fragen über das Morgen den Gewissheiten und Ungewissheiten der Vergangenheit gegenüberzustellen. Im Zentrum der einzelnen Beiträge steht dabei je ein Begriff, der für den Wissenskosmos der Futurologie fruchtbar gemacht werden soll. Zudem sind die meisten Aufsätze so aufgebaut, dass zunächst eine einführende – mal historische oder auch etymologische – Auseinandersetzung mit der Tradition des Begriffs vorgeschaltet wird, um anschließend anhand kurzer Textbeispiele aus Literatur und Philosophie zu veranschaulichen, welche diskursiven Rahmungen das Thema umschließen.

Unterteilt ist der umfangreiche Band in fünf übergeordnete Sektionen, an deren Anfang „Sprechakte und Denkfiguren“ stehen. Nach Uwe Wirths „Konjunktur“ und Benjamin Bühlers „Versprechen“ beschäftigt Stefan Willer sich mit dem „Wunsch“ als noch nicht Anwesendem, aber als erreichbare und erstrebenswerte Vorstellung. „Mit Wünschen lässt sich Zukunft erzeugen“ konstatiert Willer und es wird überaus deutlich, welche Wechselbeziehungen zwischen dem Vorgang des Wünschens und dem nicht festlegbaren Moment seiner Erfüllung bestehen. Die literarischen Beispiele, die er heranzieht, verfolgen den Wunsch als Akt der Sprache bei den Brüdern Grimm, Johann Gottfried Herder und Johann Wolfgang von Goethe, wodurch der Wunsch in verschiedene Kategorien zerlegt, und sodann klar wird, dass es feine Nuancen und Übergänge, beispielsweise zwischen dem Akt des Wünschens oder dem des Hoffens, gibt, die es voneinander zu scheiden gilt. Willers Aufsatz verortet auf diese Weise nicht nur den Wunsch als unverzichtbaren Teil der hier versammelten Futurologien, sondern entdeckt ein Forschungsfeld, das weder ontologisch noch historisch erschlossen scheint. Anschließend beschäftigt sich Claude Haas mit „Suspense“ und Roland Borgards mit „Teleologie“.

Im zweiten Teil stehen „Kulturtechniken und soziale Praktiken“ im Fokus. Die hier versammelte Themenauswahl erscheint disparat und in ihrer Kombination nicht unbedingt sofort einleuchtend. So folgt auf Philip Theisons Beitrag zur „Mantik“ und Maximilian Bergengruens kurze Abhandlung über „Prodigien“ ein Aufsatz von Lena Kugler über „Tiere“, was zunächst für Verwunderung sorgt. Doch Kuglers Ausführungen passen außerordentlich stimmig in die gerade eröffnete Reihe, denn es ist die zukunftsdeutende Funktion so manchen Tieres, die hier von Interesse ist, wobei insbesondere die weissagende Kraft verschiedener Vogelarten vorgestellt wird. Vögel erscheinen durch ihre Sonderstellung als gleichermaßen dem Himmel als auch der Erde zugehörig, prädestiniert dafür, Botschaften zu überbringen oder selbst als Orakel zu fungieren. Dem Raben kommt dabei längst nicht erst mit Edgar Allen Poe eine besondere Rolle zu, auch wenn es sich bei den berühmten Londoner Tower-Raben bloß um eine touristenfreundliche Erfindung handelt. Kugler zeigt, wie Narrative gesponnen werden, aus denen wiederum Traditionen abgeleitet werden, die es in der Realität nie gegeben hat, sodass das vermeintliche Wissen über die Zukunft – je nach Perspektive – als fauler Zauber entlarvt werden kann oder als Fiktion von Fiktionen.

Von den fliegenden Zukunftszeichen geht es weiter zu Micheal Gampers „Experiment“, Gunnar Lenz’ „Planwirtschaft“, Stefan Willers „Weltkulturerbe“ und Matthias Leanzas „Prävention“. Anschließend zeigt Ramón Reichert mit „Data Mining“, welche Erkenntnismöglichkeiten sich zum Beispiel aus den in sozialen Netzwerken gesammelten Daten ableiten lassen, ausgehend von den biografischen oder demografischen Angaben der User. Wie also steht es beispielsweise um das „Bruttonationalglück“ eines Landes, das sich wiederum aus dem persönlichen Glück Einzelner ergibt? Menschen, die über ihre sich verändernden Gefühlszustände posten und die die jeweils passende Musik dazu hören oder auch bestimmte Filme liken oder disliken, kurz: Nutzer, die ihren Konsum bewusst oder unbewusst der Stimmungslage anpassen und darüber öffentlich berichten, erscheinen als Marktforschungsobjekte par excellence, geben Auskunft über Trends und Verhaltensweisen und werden letztlich zur Berechnungsgrundlage für das eigene Kaufverhalten kommender Produkte. Es scheint folgerichtig, dass dieser Abschnitt des Buches mit einem Artikel über „Computersimulation“ endet, den Sebastian Vehlken, Isabell Schrickel, Claus Pias und Anneke Janssen verfasst haben; in ihm finden auch die modernsten Verfahren der Prognosetätigkeit Erwähnung.

Mit „Autoritäten“ ist die dritte Sektion überschrieben, die durcheinanderzuwerfen scheint, was sich womöglich in keine chronologische Ordnung bringen lässt: Die ‚Akteure‘ sind der „Prophet“ von Daniel Weidner, der „Projektmacher“ von Markus Krajewski, Johannes Steizinger mit „Jugend“, Benjamin Bühler mit „Revolutionär“, Stefan Willer mit „Stratege“ und nochmal Willer mit „Zeitreisender“. So bestechend die einzelnen Beiträge hier auch sein mögen, so ist die Auswahl – wie jede Reduzierung – natürlich immer auch kritikwürdig. Den hier vorgestellten Figurentypen hätte es jedoch überaus gut getan, um mindestens eine genuin weibliche Autorität ergänzt zu werden, zumal beispielsweise die weissagende „Zigeunerin“ sogar in der kurzen Vorrede zu diesem Abschnitt erwähnt wird und die Narrative von weissagenden Frauen kulturübergreifend von traditioneller Bedeutung sind. Ebenso hätten Hexen oder Zauberinnen hier einen Platz finden können oder auch Nornen, um nur einige weibliche Autoritäten zu nennen, die in der Literaturgeschichte eine bedeutsame Rolle gespielt haben. Zudem verfügen die weiblichen Zukunftsdeuterinnen ja über ganz spezielle Wissensformen – nicht zuletzt über den Fortpflanzungsprozess und die Weitergabe von Wissenstraditionen an wiederum weibliche Nachkommen –, die ihren männlichen Konterparts lange abgingen.

Die vierte Abteilung ist mit „Narrative und Gattungen“ betitelt. Auf Christian Zolles’ „Apokalypse“ folgt Hubert Thüring mit „Rettung“, Benjamin Bühler schreibt zur „Utopie“ und Hania Siebenpfeiffer über „Science Fiction“. Zudem finden sich folgende Unterkapitel: Benjamin Bühlers „Manifest“, Falko Schmieders „Überleben“, Sabine Blums „Worst case“, Eva Horns „Klima“ und Nicolas Pethes’ „Posthumanismus“, in dem folgerichtig nicht weniger als die Zukunft des Menschen (oder auch des Menschlichen) in seiner bekannten Form infrage steht. Doch von zentraler Bedeutung ist zunächst nicht der Gegenstand, sondern die Instanz des Wissens, denn wer soll ‚nach dem Menschen‘ wissen, dass der Mensch verschwunden ist, so Pethes. Erzählungen über das Ende des Menschen und die Zeit danach gibt es unter anderem in Form postapokalyptischer Romane, in denen die posthumane Zeitrechnung mit der Natur als wichtigstem Akteur beginnt, die den Menschen überwunden hat. Und selbst wenn es den Menschen in anderer, hybrider Form noch geben sollte, wie etwa in Dietmar Darths Die Abschaffung der Arten (2008), so muss er im posthumanen Sinne nicht mehr als natürlich, sondern „stets als etwas im Rahmen seiner technologischen Bedingungen zu entwerfendes“ gedacht werden.

Die fünfte und letzte Abteilung ist mit „Wissensformen“ überschrieben, ein Begriff, der im Grunde auch in allen anderen Sektionen behandelt wird. Auch hier ist die Verschiedenheit der Zusammenstellung bemerkenswert und spannend: Hania Siebenpfeiffers Aufsatz widmet sich der „Astrologie“, Benjamin Bühler der „Politischen Arithmetik“, Urs Büttner der „Meteorologie“, Armin Schäfer schreibt über„Psychiatrie“, Benjamin Bühler über „Ökologie“, Stefan Rieger über „Nanotechnologie“ und Stefan Willer über „Musik“.

Wissenschaften, Erkenntnismodelle und Künste eint, dass sie zu Narrativen werden können, wenn sie sich anschicken, von der Zukunft zu künden und basierend auf den vermeintlichen Sicherheiten von heute über die Wahrscheinlichkeiten von Morgen spekulieren. Methodisch könnten die Unterschiede zwischen den hier vorgestellten Verfahren unterschiedlicher nicht sein, doch letztlich gewinnt die Überzeugung, dass man ab und zu vielleicht einfach aus dem Fenster schauen sollte, um zu erfahren, wie das Wetter wird. Wissen wird man es sowieso erst im Nachhinein – insbesondere dann, wenn man trotzdem nass geworden ist, obwohl das laut Wetter-App eigentlich gar nicht möglich gewesen sein kann.

Bühlers und Willers Herausgeberschrift ist eine vielseitige und gelungene Annäherung an den Wissenskosmos Zukunft, der ungeahnt viele Bereiche des Hier und Jetzt berührt. So viele, dass man sich am Ende fragt, ob tatsächlich die Zukunft oder nicht vielleicht doch die Gegenwart das größere Rätsel ist.

Titelbild

Benjamin Bühler / Stefan Willer (Hg.): Futurologien. Ordnungen des Zukunftwissens.
Wilhelm Fink Verlag, Paderborn 2016.
490 Seiten, 59,00 EUR.
ISBN-13: 9783770559015

Weitere Rezensionen und Informationen zum Buch