Shakespeare ist tot und niemanden interessiert es

Mark Twain geht in „Ist Shakespeare tot?“ der Frage nach, warum der berühmte englische Autor in seiner Heimatstadt praktisch unbekannt war und stellt ihm einen wahrhaft berühmten Autor gegenüber – sich selbst

Von Liane FlemmingRSS-Newsfeed neuer Artikel von Liane Flemming

Besprochene Bücher / Literaturhinweise

Ist Shakespeare tot? War er Sir Francis Bacon? Oder war er Jurist? Gestorben ist William Shakespeare tatsächlich genau 400 Jahre vor Erscheinen der deutschen Übersetzung von Mark Twains Is Shakespeare dead? Zu diesem Jubiläum erscheint, übersetzt von Nikolaus Hansen, das Werk Twains, in dem er sich auf die Spuren von Shakespeares Leben begibt.

Im Original erschien dieses Werk 1909 und sein Verfasser ist seit 1910 tot. Und Twain hat tatsächlich gelebt. Das zu beweisen, ist ihm ein Bedürfnis und so erklärt er in seinem Werk über Shakespeare wie nebenbei, dass sich die Leute in seinem eigenen Heimatort Hannibal sowohl an ihn, als auch an seine Figuren ohne Schwierigkeiten erinnern können. Als Folge liest sich Twains Abhandlung wie eine Spurensuche mit autobiografischen Elementen und könnte semi-autobiografisch genannt werden.

Doch wer erinnert sich in Stratford an William Shakespeare, der dort angeblich viele Jahre seines Lebens verbracht hat? Laut Twain keiner. Das scheint paradox. Denn Mark Twain selbst spricht ehrfurchtsvoll von Shakespeare. Er verleiht im gesamten Buch seiner Verwunderung darüber Ausdruck, dass man die Biografie von so vielen Menschen kennt und genau belegen kann: „Von allen bis auf einen wird man die Lebensgeschichte finden. Bis auf einen – den Außergewöhnlichsten und Gefeiertsten von allen – Shakespeare!“ Weder in Stratford noch im Rest von England wird seinem Tod im Jahr 1616 Aufmerksamkeit geschenkt. Shakespeare war zu Lebzeiten schlicht keine Berühmtheit. Trotz der Fülle an hinterlassenen Schriften wendet man sich ihm erst 60 Jahre später zu. Informationen über sein Leben stammen aus dritter Hand. Verlässliche Beweise, gar einen echten Kronzeugen, gibt es nicht. So wird die Frage des Seins oder Nichtseins des Autors plötzlich spannend.

Wissenschaftler wollen aber Klarheit über die Herkunft der Werke. Es bilden sich zwei Gruppen heraus: die Shakespearianer und die Baconisten. Erstere glauben an Shakespeare als wahren Verfasser seiner Werke. Für Letztere kommt dafür nur Sir Francis Bacon in Frage. Dessen Leben ist klar belegt. Twain eröffnet für sich eine eigene Gruppe, die Brontosaurianer: „der Brontosaurianer weiß nicht so genau, wer von beiden sie [die Werke] geschrieben hat, ist aber recht entspannt und zufrieden der festen Überzeugung, dass Shakespeare es nicht war, und er hegt die Vermutung, dass Bacon es war.“ Man weiß, dass Bacon durch seine juristische Ausbildung die Möglichkeit und das Wissen gehabt hatte, um die Werke, die Shakespeare angerechnet werden, zu verfassen. Und dies ist die zweite große Frage mit der Twain sich beschäftigt: War Shakespeare Jurist?

Es gibt Quellen, die behaupten, Shakespeare habe in seiner Jugend sowohl die Lateinschule besucht als auch seinem Vater in der Metzgerei geholfen, zahlreiche Nebenjobs gehabt, als Gerichtsschreiber gearbeitet und parallel noch seine Werke geschrieben. Für Anhänger dieser Theorie ist der dadurch gesammelte Erfahrungsreichtum des Autors ausschlaggebend für die Größe seiner Werke. Für Twain ist es verwirrend, dass Shakespeare Zeit gehabt haben soll, große Werke zu verfassen, „wenn er Kälber schlachtete und wilderte und herumtollte und Englisch lernte“. Gebildet müsse der Verfasser der Werke gewesen sein, anders könne man die Fachsprache und die exakte Verwendung von vor allem juristischer Sprache nicht erklären. Doch jegliche Erklärungsversuche dafür sind laut Twain Vermutungen und zwar in einer solchen Fülle, dass sie sich kreuz und quer widersprechen: „Es geht die Kunde, er habe seinen Lebensunterhalt damit verdient, dass er morgens und nachmittags vor den Londoner Theatern die Pferde hielt. Vielleicht tat er das. Wenn ja, dann blieb ihm deutlich weniger Zeit zum Studium der Gesetzestexte und für die Besuche bei Gericht. In jenen Tagen schrieb er großartige Theaterstücke, die jede freie Minute in Anspruch nahmen. Die Legende vom Halten der Pferde sollten wir verwerfen.“

Diesen großen Fragen, ob Shakespeare als gebildeter und vielbeschäftigter Jurist seine Werke verfasste, oder ob sich hinter seinem Namen Francis Bacon versteckte, geht Twain in 13 Kapiteln mit Titeln wie Vermutungen oder Wir haben Grund zu der Annahme nach.

Immer wieder wird diese Abhandlung unterbrochen von Twains eigener Biografie. Brüche sind auch gerade stilistisch deutlich, weil Twain wieder und wieder vom narrativen Teil in die direkte Ansprache seiner Leser übergeht, so die Fiktion völlig bricht. Der Text bekommt fast einen theatralen Charakter, indem die vierte Wand durchbrochen wird. Der Leser sollte sich in jedem Kapitel auf neue Ideen einstellen und wird mit dieser Haltung von Twain durch ein kurzweiliges Lesevergnügen geführt. Die ironische Schreibweise regt dazu an, weiter über Shakespeare nachzudenken.

So berichtet der Autor, der zugleich Erzähler ist, zu Beginn von seinen Schifffahrten auf dem Mississippi, wo er Kapitän Ealer zuhört, der auf skurrile Weise Passagen von Shakespeares Stücken rezitiert und sie mit Seemannsjargon spickt. Ferner erzählt er von seiner Schulzeit, in der er als gerade einmal Dreizehnjähriger eine Biografie über Satan verfasste. Zum Beweis seiner eigenen Großartigkeit führt Twain sogar Zeitungsartikel an, die sein Wirken in der Stadt Hannibal belegen. Die Schwester von Huckleberry Finn ist letztlich eine reale Figur, die Kettenraucher Twain literarisch verewigt und an die er sich noch gut erinnern kann. Er glaubt, dass ähnliche Beispiele auch bei Shakespeare zu finden sein müssten. Gut, weder Bacon noch Shakespeare haben natürlich in Verona gelebt. Die echte Julia dürften beide nicht gekannt haben.

Letztlich sei das aber, laut Twain, auch ziemlich egal. Es komme gar nicht auf den Körper des Verfassers an, sondern auf die großen Werke, deren Ruhm nicht vergehen wird.

Anmerkung der Redaktion: Die Rezension gehört zu den studentischen Beiträgen, die im Rahmen eines Lehrprojekts im Sommersemester 2016 entstanden sind und gesammelt in der Oktoberausgabe 2016 erscheinen.

Ein Beitrag aus der Komparatistik-Redaktion der Universität Mainz

Titelbild

Mark Twain: Ist Shakespeare tot?
Mit einem Nachwort von Leander Haussmann.
Übersetzt aus dem Amerikanischen von Nikolaus Hansen.
Piper Verlag, München 2016.
120 Seiten, 14,00 EUR.
ISBN-13: 9783492057691

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