Der sprachgewaltigste Autor deutscher Literatur im Zeitalter des Barock

Zum 400. Geburtstag von Andreas Gryphius

Von Manfred OrlickRSS-Newsfeed neuer Artikel von Manfred Orlick

Besprochene Bücher / Literaturhinweise

Der Schlesier Andreas Gryphius (1616–1664) war eine Zentralgestalt des deutschen Barock. Sein lyrisches und dramatisches Werk bildete einen Gipfel in der deutschen Literatur des 17. Jahrhunderts. Sein Leben war von Kriegselend und menschlichem Leid überschattet, die der Dreißigjährige Krieg und die konfessionellen Auseinandersetzungen über ganz Europa gebracht hatten. Seine persönlichen Eindrücke und Schicksalsschläge flossen dabei in seine Werke ein, die sich durch eine bildreiche und auf Verständlichkeit ausgerichtete Sprache auszeichnen. Und doch ist heute von ihm nur noch eine Handvoll Gedichte bekannt, die aber fester Bestandteil von Lyrik-Anthologien sind. Der größte Teil seines Werkes dagegen ist zum Beschäftigungsfeld von Germanisten und Literaturwissenschaftlern geworden. Wer also war dieser Andreas Gryphius, dem die deutsche Literatur so viele Impulse zu verdanken hat?

Am 2. Oktober 1616 im protestantischen Glogau (heute Głogów) als jüngster Sohn eines Archidiakons geboren, waren seine gesamte Kindheit, die Jugend sowie die ersten Schaffensjahre in die Wirren des Dreißigjährigen Krieges eingebettet. Der Vater starb, als der Junge gerade fünf Jahre alt war. Ein Jahr später heiratete die Mutter Michael Eder, einen Glogauer Lehrer. Trotz der familiären Katastrophe und der Kriegsereignisse konnte Andreas Gryphius das evangelische Gymnasium besuchen. 1628 ereilte ihn ein weiterer schwerer Schicksalsschlag: die Mutter verstarb an Schwindsucht. Im Zuge der Zwangsrekatholisierung Glogaus wurde das protestantische Gymnasium aufgelöst und Michael Eder musste die Stadt verlassen. Im polnischen Grenzdorf Driebitz bekam er eine Pfarrstelle. Der zwölfjährige Andreas konnte seinem Stiefvater jedoch bald nachfolgen und erhielt von ihm Privatunterricht. Erst ab 1632 war es ihm möglich, wieder eine Schule zu besuchen: das Gymnasium des polnischen Ortes Fraustadt (heute Wschowa). Hier trat er erstmals als Autor an die Öffentlichkeit mit dem lateinischen Epos „Herodis Furiae, et Rachelis lacrimae“ (Der Zorn des Herodes und die Tränen der Rachel), das 1634 in Glogau gedruckt wurde.

Von 1634 bis 1636 konnte Gryphius seine Schulbildung am Akademischen Gymnasium in Danzig vollenden. Die Ostsee-Stadt gehörte damals zu den bedeutendsten und reichsten Städten Europas; in ihr erhielt Gryphius mannigfaltige Anregungen. Und spätestens an diesem Ort muss es gewesen sein, wo er das „Buch von der Deutschen Poeterey“ von Martin Opitz kennenlernte, der damit die deutsche Sprache gleichberechtigt neben dem vorherrschenden Latein als Kunstsprache etabliert hatte. Diese Schrift war für Gryphius wohl die entscheidende Anregung, statt in lateinischer  Sprache in der deutschen zu dichten. Im Sommer 1636 kehrte er nach Fraustadt zurück. Aber schon bald ging er nach Schönborn bei Freystadt (heute Kożuchów), wo er die Stelle eines Erziehers auf dem Gut der Familie des hochgelehrten und angesehenen Grafen Georg von Schönborn übernahm. Der junge Hauslehrer profitierte dabei vom Umgang mit dem bedeutenden Rechtsgelehrten und hatte die Möglichkeit, dessen umfangreiche Bibliothek zu benutzen. Während seines Danziger Aufenthaltes waren bereits erste auf Deutsch verfasste Sonette entstanden, die Gryphius nun fortsetzte und für den Druck vorbereitete. In den schließlich im polnischen Lissa (heute Leszno) gedruckten „Sonneten“ (1637) fand der 20-jährige Dichter schon einen neuen, eigenen Ton.

Aus dieser frühen Sammlung sind besonders die Gedichte „Vanitas, Vanitatum et Omnia Vanitas“ (auch unter dem Titel „Es ist alles eitel“ geläufig) und „Trawrklage des verwüsteten Deutschland“ (in der späteren Fassung: „Thränen des Vaterlandes“) bekannt geworden, in dem Gryphius die Zerstörungen des Dreißigjährigen Krieges thematisiert:

Wir sind doch numehr gantz/ ja mehr alß gantz vertorben.
Der frechen Völcker schar/ die rasende Posaun/
Daß vom Blutt feiste Schwerd/ die donnernde Carthaun/
Hat alles diß hinweg/ was mancher fawr erworben/
Die alte Redligkeit vnnd Tugend ist gestorben […]

Sie gehören bis heute zum Kanon der deutschen Lyrik. Sein Mäzen Schönborn hatte die Drucklegung unterstützt und krönte Gryphius zum Dichter, ernannte ihn zum Magister und verlieh ihm sogar die Magisterwürde – und, wohl nicht ganz rechtmäßig, den Adelstitel, den Gryphius aber nie benutzte.

Im Sommer 1637 brannte Freystadt mitsamt seinen reichen Bibliotheken nieder. Als Augenzeuge des verheerenden Brandes verfasste Gryphius die Schrift „Fewrige Freystadt“. Dieser dokumentarische Bericht über die Schreckensereignisse sollte der längste von ihm je verfasste deutschsprachige Prosatext bleiben.

Nach dem Tod von Georg von Schönborn (1637) durfte Gryphius ein Jahr später die beiden Söhne seines verstorbenen Mäzens auf deren Kavalierstour durch die Niederlande und anschließend zum Studium an die calvinistische Universität Leyden begleiten. Die Universität war ein beliebter Studienort für protestantische Schlesier und so betrieb Gryphius hier bis 1644 ausgedehnte juristische, medizinische und geografische Studien. An der Universität übernahm er auch Lehraufgaben und beschäftigte sich darüber hinaus mit dem Drama als epischer Gestaltungsform. In den Leydener Jahren konnte Gryphius seinen Ruf als aufstrebender Lyriker festigen – insgesamt fünf Gedichtsammlungen entstanden, darunter die religiösen „Son- und Feyrtags-Sonette“ (1639), die sich auch mit Bibeltexten auseinandersetzten. In die 1643 veröffentlichte Sammlung „Sonette. Das erste Buch“ übernahm Gryphius alle seine Sonette, die er bis dahin verfasst hatte. Nach diesem fruchtbaren Studienaufenthalt in Leyden begab er sich mit einer kleinen Gesellschaft auf eine zweijährige Bildungsreise durch Frankreich und Italien, wobei er unter anderem in Paris, Marseille, Rom, Florenz und Venedig Halt machte. Während der Reise entstand mit „Leo Arminius“ sein erstes Trauerspiel – ein Märtyrerdrama, das den Sturz des Byzantinischen Kaisers Leo V. behandelt. Es wurde 1650 veröffentlicht und gilt als erstes deutsches Drama überhaupt. In der Vorrede des Stückes verweist Gryphius auf das zentrale Thema seines Schaffens:

Indem vnser gantzes Vatterland sich nuhmehr in seine eigene Aschen verscharret / vnd in einen Schawplatz der Eitelkeit verwandelt; bin ich geflissen dir die vergänglichkeit menschlicher sachen in gegenwertigem / vnd etlich folgenden Trawerspielen vorzustellen.

Zurückgekehrt in die schlesische Heimat, heiratete Gryphius am 12. Januar 1649 in Fraustadt Rosina Deutschländer, die Tochter eines angesehenen Kaufmanns. Mit ihr sollte er später vier Söhne und drei Töchter haben, wobei vier der Kinder schon früh verstarben. Sein ältester Sohn Christian Gryphius (1649–1706) versuchte sich später mit bescheidenem Erfolg ebenfalls als Dramatiker; als Herausgeber der Neuausgabe der Werke seines Vaters (1698) erwarb er sich dagegen einen bleibenden Ruf.

1648 erhielt Andreas Gryphius Berufungen als Dozent an die Universitäten Heidelberg, Frankfurt an der Oder und Uppsala, die er jedoch alle ablehnte. Wahrscheinlich hatte man ihm schon das verantwortungsvolle Amt eines Syndikus in Glogau in Aussicht gestellt, das er dann auch ab 1650 innehatte. Als Rechtsberater der Landstände musste er unter anderem deren Interessen gegen die zentralistischen Bestrebungen Habsburgs durchsetzen. Das erforderte großes diplomatisches Geschick, versuchten doch die Habsburger mit aller Kraft, die Gegenreformation voranzutreiben. So kam es zu zahlreichen Schließungen protestantischer Kirchen. Nur den Bau von drei schlesischen Friedenskirchen konnten die Anhänger der Reformation durchsetzen. Eine davon wurde vor den Toren Glogaus errichtet und Gryphius war es vorbehalten, bei der Grundsteinlegung 1651 eine Rede zu halten.

Bereits während seiner westeuropäischen Bildungsreise hatte sich Andreas Gryphius verstärkt der Dramatik zugewandt. In den Jahren zwischen seiner Reiserückkehr und der Übernahme des Glogauer Amtes entstanden weitere Trauerspiele: „Ermordete Majestät oder Carolus Stuardus“, „Cardenio und Celinde“, die beide jedoch erst 1657 gedruckt wurden. In „Ermordete Majestät oder Carolus Stuardus“ gestaltete Gryphius dabei ein fast zeitgenössisches Ereignis: die letzten Stunden des zum Tode verurteilten englischen Königs Karl I., der 1649 von den Republikanern hingerichtet worden war. Durch die Wiederherstellung der Monarchie und die Bestrafung der Königsmörder im Jahre 1660 sah sich der Autor zu einer zweiten Fassung der Tragödie (1663) veranlasst.

Trotz des zeitraubenden Syndikus-Amtes, in dem Gryphius auch viel zum Wohle seines Landes unterwegs war, hatte er den Dichterberuf nicht gänzlich aufgegeben. So entstand zwischen 1657 und 1659 das Trauerspiel „Papinian“, in dem der Dichter und quasi praktizierende Jurist dem römischen Rechtsgelehrten und Märtyrer Aemilius Paulus Papinianus (142–212) ein literarisches Denkmal setzte. Außerdem versuchte sich Gryphius als Komödiendichter mit den Lustspielen „Absurda Comica oder Herr Peter Squenz“ (1658) – das „Schimpf-Spiel“ gehört heute zu den am meisten gespielten deutschen Barockkomödien – und „Horribilicribrifax“ (1663). Diese Stücke wurden meist auf kleinen schlesischen Schulbühnen aufgeführt. Darüber hinaus bereitete Gryphius seine bis dato vollendeten Werke für den Druck einer Gesamtausgabe vor: „Freuden- und Trauer-Spiele auch Oden und Sonnette“ (1657 und 1663).

Unter seinen Zeitgenossen genoss Gryphius hohes Ansehen und so wurde er im Jahre 1662 von Herzog Wilhelm IV. von Sachsen-Weimar in die „Fruchtbringende Gesellschaft“ aufgenommen, mit dem Gesellschaftsnamen „der Unsterbliche“. Am 16. Juli 1664 verstarb Gryphius während einer Versammlung der Glogauer Landstände durch einen Schlaganfall.

Pünktlich zum 400. Geburtstag des Barockdichters ist bei S. Fischer die Taschenbuchausgabe „Andreas Gryphius – Das große Lesebuch“ erschienen. Der Herausgeber und Schriftsteller Uwe Kolbe hat in dieser Auswahl die schönsten und wichtigsten Texte des Dichters versammelt. Den Auftakt machen natürlich die bekannten Lissaer Sonette, gefolgt von weiteren ausgewählten Sonetten und Oden. Das folgende Gedicht (in 50 Versen) „Gedancken/Vber den Kirchhoff und Ruhestätte der Verstorbenen“ (1657) ist eine realistische und sprachgewaltige Beschreibung des Kontrasts zwischen Beständigkeit und Vergänglichkeit. Als Beispiele für Gryphiusʼ dramatisches Schaffen wurden das Trauerspiel „Leo Armenius“ und die bäuerliche Doppel-Komödie „Verlibtes Gespenste Gesang-Spil / Die gelibte Dornrose – Schertz-Spil“ aufgenommen. Der Dichter hatte die beiden Stücke zu einem musikalischen Schäferspiel ineinander verflochten und mit niederschlesischer Mundart gespickt. Zwei Prosatexte, „Fewrige Freystadt“ und „Brunnen-Discurs“ (eine Leichenrede auf seinen Mäzen Schönborn), beschließen die gelungene Auswahl.

In seinem Nachwort „Vergänglichkeit und Dichterglück“ gibt Kolbe einen kompakten Überblick zu Leben und Werk von Andreas Gryphius. Dabei weist er mit Nachdruck daraufhin, dass die Festlegung des Barockdichters auf die historischen Umstände wie den Dreißigjährigen Krieg oder die Gegenreformation eine wohl zu einseitige Sichtweise ist. Unbestritten waren diese Faktoren prägend für Gryphius, doch der frühe Tod der Eltern und die Erfahrung, in jungen Jahren auf sich allein gestellt zu sein, dürfen nicht außer Acht gelassen werden. Nicht zu vergessen eine lebenslange Wissbegierde, eine tief verankerte Frömmigkeit und ein überragendes dichterisches Talent.

Titelbild

Andreas Gryphius: Das große Lesebuch. Fischer Klassik.
Herausgegeben von Uwe Kolbe.
Fischer Taschenbuch Verlag, Frankfurt a. M. 2016.
397 Seiten, 14,99 EUR.
ISBN-13: 9783596906253

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