Kindesverlust

In ihrem Roman „Boy“ begleitet Wytske Versteeg eine trauernde Mutter nach dem Tod ihres Sohnes

Von Merle SimonRSS-Newsfeed neuer Artikel von Merle Simon

Besprochene Bücher / Literaturhinweise

Die niederländische Autorin Wytske Versteeg erzählt uns in ihrem dritten Roman die Geschichte des Jungen Boy, welcher sich immer weiter von seinen Adoptiveltern und seinem Umfeld distanziert, bis eines Tages nur noch seine Leiche zurückbleibt.

Nach vielen Versuchen ein eigenes Kind zu bekommen, adoptiert die namenlose Protagonistin mit ihrem Mann Mark einen Jungen namens Boy aus einem nicht näher bestimmten afrikanischen Land. Das Ehepaar bietet ihrem Adoptivsohn eine bessere Welt, doch trotz aller Bemühungen wächst die Distanz zwischen diesen und Boy. Auf eine bescheidene und höfliche Art und Weise bleibt er unnahbar für sie und auch in der Schule gelingt es ihm nicht, sich aus der Rolle des Außenseiters zu befreien. Nach seinem Tod erfährt die Mutter, dass seine einzige Vertraute die Theaterlehrerin Hannah war, der er vor seinem Tod einen Zettel zusteckte, auf welchem „Ich kann nicht mehr“ stand. Daraufhin erachtet die Protagonistin diese als schuldig und reist ihr nach Bulgarien hinterher, wo die ehemalige Lehrerin mittlerweile ein Aussteigerleben in einer verlassenen Gegend führt. Die Mutter gibt sich dort als freiwillige Helferin aus und erhofft sich so, das Vertrauen Hannahs zu gewinnen, um eine Antwort auf den Tod ihres Sohnes zu finden. Bei ihrer Suche nach der Wahrheit ist die trauernde Mutter bereit alles zu tun, um sich zu rächen. 

Das in drei Kapitel geteilte Buch begleitet Boys Mutter in den Jahren nach seinem Tod. Im ersten spricht die namenlose Protagonistin selbst und erinnert sich an ihren Sohn. Durch die Perspektive der Mutter schafft es Versteeg, den Leser an die verzweifelte Frau heranzuführen. Die als Psychiaterin tätige Ich-Erzählerin verbindet ihre Emotionen mit greifbaren Erklärungen und ermöglicht es den Lesern auf diese Weise, ihrem Kummer zu folgen. So analysiert sie den Prozess des Loslassens und stellt fest, dass dieser viel mehr für das Umfeld wichtig zu sein scheint, als für die trauernde Person selbst: „Man wollte, dass ich meiner blutig-rohen Trauer eine Form gab, die präsentabel war. Man wollte, dass das angefahrene Tier ihren Blicken entzogen und sein Geschrei etwas gedämpft wurde“. Auch schildert sie die Absurdität, die sich nach Boys Tod hinter allem Alltäglichen für sie verbirgt, und hält fest, dass es keine Chance gibt, einen solchen Kummer jemals zu überwinden. Und genau das vermittelt auch die Sprache Versteegs, die den Leser den Schmerz als ewigen Begleiter spüren lässt.

Im zweiten Kapitel sind bereits vier Jahre seit Boys Tod vergangen und doch schließt der zweite Abschnitt des Buches nahtlos an den ersten Teil an. Die Mutter bestätigt, dass die Trauer noch immer nicht verschwunden ist und sie es noch immer nicht geschafft hat Loszulassen, sondern ganz im Gegenteil: „der Tod täglich mehr Raum beansprucht“. Immer weiter entfernt sie sich von ihrem Leben, ihren Mitmenschen und ihrem Ehemann. „Sein Tod hat diejenigen, die wir einmal waren, ausgelöscht“. Die Sprache wird immer bedrückender, erzeugt fast schon eine Sogwirkung und als die Protagonistin sich dazu entschließt, der vermeintlich schuldigen Theaterlehrerin hinterher zu reisen, wirkt sich das erleichternd auf den Leser aus, da sich die Trauer und der Schmerz endlich ein Ventil suchen.

Im letzten Kapitel ändert Versteeg die Erzählperspektive. Die Mutter berichtet nicht mehr selbst, sondern ein unpersönlicher Erzähler, welcher diese vertraut anspricht. Von außen beobachtet er Hannah und die Protagonistin, die auf engstem Raum zusammenleben. Die Spannung steigert sich immer weiter und der Leser beobachtet zusammen mit dem Erzähler die Mutter, welche jeden Tag aufs Neue auf die Wahrheit wartet. Sie wirkt wie ein lauerndes Tier, immer wachsam, angespannt und auf ein einziges Ziel fokussiert: den Angriff auf Hannah. 

Wytske Versteeg hat einen Roman geschrieben, der das Unaussprechliche in Worte verpackt. Mit ihrem Einfühlungsvermögen schafft sie es, die Trauer, Depression und Schuldgefühle einer sonst so strukturierten und starken Frau zu beschreiben, der von heute auf morgen der Boden unter den Füßen weggezogen wird. Die verschiedenen Blickwinkel des Romans zeigen die Vielschichtigkeit der Themen Tod sowie Trauer auf und Versteeg schlussfolgert, dass nicht, wie leichtfertig behauptet, geteiltes Leid halbes Leid darstellt, sondern „diese Art Kummer kein Brot ist, das man in Scheiben schneiden und teilen kann“.

Anmerkung der Redaktion: Die Rezension gehört zu den studentischen Beiträgen, die im Rahmen eines Lehrprojekts im Sommersemester 2016 entstanden sind und gesammelt in der Oktoberausgabe 2016 erscheinen.

Ein Beitrag aus der Komparatistik-Redaktion der Universität Mainz

Titelbild

Wytske Versteeg: Boy.
Übersetzt aus dem Niederländischen von Christiane Burckhardt,.
Verlag Klaus Wagenbach, Berlin 2016.
237 Seiten, 10,90 EUR.
ISBN-13: 9783803127556

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