Schuld und Sühne?

Der Thriller „Geronimo“ von Leon de Winter

Von Martina NeuendorffRSS-Newsfeed neuer Artikel von Martina Neuendorff

Besprochene Bücher / Literaturhinweise

Pünktlich zur Frankfurter Buchmesse, auf der die Niederlande Gastland sind, legt Leon de Winter einen neuen Roman vor, dessen Thematik sich um die Ereignisse nach den Anschlägen auf das World-Trade-Center dreht, die sich am 11. September zum 15. Mal gejährt haben.

Es geht um die Aufspürung und Tötung von Osama bin Laden, einen aberwitzigen Plan, ihn durch einen Doppelgänger zu ersetzten und zu entführen und damit den Befehl des Präsidenten („kill“) nicht ausführen zu müssen. Diesen Plan schmieden alkoholisierte militärische Spezialkräfte, die Teil des Unterfangens sein sollen, auf einer Geburtstagsfeier.

Haupterzähler des in zwei Teile gegliederten Romans ist Tom Johnson, ehemaliges Mitglied einer solchen Spezialeinheit, noch CIA-Mann und ebenfalls Gast besagter Feier. Der Roman ist von Telefonaten zwischen Tom und seiner Ex-Frau eingeleitet und abgeschlossen, sie bilden quasi Epilog und Prolog, in denen Tom ankündigt, alles aufzuschreiben, „um die Sache für mich rund zu machen“. Anlass der Telefonate, denen das noch Aufzuschreibende vorausgeht, ist der Todestag der gemeinsamen Tochter, die an den Folgen eines islamistischen Terroranschlags verstorben ist. Tom war in dieser Zeit nicht für seine Familie da und hat damit eine große Schuld auf sich geladen, seine Ehe scheitert. Die Geschichte wird also in Toms Rückblick erzählt. Das Bemühen, eine genaue zeitliche Linie der Ereignisse wiederzugeben gibt dem Roman in großen Teilen etwas protokollhaft Beobachtendes. Außerdem nimmt der Erzähler mehrere andere Perspektiven ein. Den meist sehr kurzen Kapiteln sind präzise Orts- und Zeitangaben sowie der Name der Person vorangestellt, deren Perspektive eingenommen wird. Aus diesen Gründen ist der Roman, von Hanni Ehlers gewohnt gut übersetzt, nicht so flüssig zu lesen, wie wir es von der Prosa de Winters kennen. So sind die Kapitel, die der Haupterzähler in Ich-Form schreibt, länger und haben einen narrativeren Charakter als jene Kapitel, die aus fremder Perspektive erzählt werden. Entsprechend flüssiger sind sie zu lesen. Die erzählerische Struktur wird ansonsten von dem Bemühen um Klarheit und dem Unvermögen des Erzählers, die Dinge „rund zu machen“, der daraus resultierenden Kürze der Kapitel wie auch durch die häufige Verwendung von Abkürzungen aus Militär- und Geheimdienstsprache, gestört.

Dabei beschleicht den Leser genau wegen des Bemühens um genaues Nacherzählen und um Klarheit ständig ein Gefühl des Zuviels an überflüssiger Information. Aber nicht etwa die aberwitzige Was-wäre-wenn-Osama-bin-Laden-noch-lebte-Konstruktion und die nicht zuletzt durch Zufall und Verrat aus dem Ruder laufende Entführung machen dieses Zuviel aus. Im Internet (nach eigenem Bekunden de Winters erste Recherchequelle) konnte und kann man um die Terroranschläge von 9/11 und bin Ladens Tötung auf den Befehl „capture or kill“ hin vermutlich weit absurdere Thesen und Verschwörungstheorien finden. Der Thriller selbst ist in diesen Punkten stringent: Unter der Beteiligung mehrerer Geheimdienste verschwinden nach und nach alle Beweise und Zeugen, die die Wahrheit der Geschichte stützen könnten. Das ist gut und stimmig gelöst.

Der Erzähler Tom – rastlos und getrieben von seinem zerstörerischen grenzenlosen Schuldgefühl – macht während eines Aufenthalts in einem afghanischen Militärlager die Bekanntschaft mit einem afghanischen Mädchen. Apana ist die Tochter eines Dolmetschers, der bei einem Einsatz getötet wird. Tom teilt mit ihr die Liebe zur Musik – genauer zu Bachs Goldberg-Variationen, bei beiden ausgelöst durch eine Art Erweckungserlebnis. Er nimmt sich des Mädchens an, vielleicht auch, um die Schuld gegenüber seiner Familie besser ertragen zu können oder sogar, um stellvertretende Wiedergutmachung zu leisten. Nachdem er schwer verletzt wurde, wird Apana von den Taliban entführt. Wieder ist Tom nicht da, um zu beschützen. Wegen ihrer Liebe zur Musik (auch hier fühlt sich Tom verantwortlich, weil sie durch ihn zu dieser Musik fand) wird sie von den Taliban verstümmelt. Und eben dadurch wird Apana eine Grenzgängerin zwischen den Kulturen bzw. Religionen. Sie strandet als Bettlerin im pakistanischen Abbottabad, dem Ort an dem sich Osama bin Laden versteckt hält. Dort erfährt sie Mitleid und Barmherzigkeit von Christen und Muslimen und nimmt unbefangen an den religiösen Riten beider Religionsgemeinschaften teil. Einer dieser Barmherzigen ist das „Ungeheuer“ bin Laden, den ein „zitterndes verwaistes Bettlermädchen“ erkennt. Er ist in diesem Roman ausgestattet mit Attributen westlicher Dekadenz, konsumiert z.B. Eiscreme, Marlboro und Viagra, und auch wenn dies vielleicht dazu dienen soll, ihn als Menschen mit menschlichen Schwächen zu beschreiben, wirkt es in dieser Ausprägung dennoch recht unmotiviert.

An diesem Ort findet Tom das Mädchen nach langer Suche und als wäre die wunderbare Zuwendung und Barmherzigkeit, der Trost der Musik nicht genug, widerfährt Apana während des Gebets auch noch ein Wunder, bevor auch sie spurlos verschwindet. Dem Erzähler Tom bleibt nur, auf der ganzen Welt vergeblich nach ihr zu suchen und nach der Erlösung von seiner Schuld.

Der Versuch, einen politischen Thriller mit einer Geschichte von Schuld und Sühne, von Wundern und Erweckungserlebnissen so eng zu verbinden und in eine Romankonstruktion zu zwingen ist wohl immer gewagt. So absurd der Plot ist, so abenteuerlich die Geschichte sich entwickelt, diese Seite des Romans ist stimmig. Soll er aber auch eine Botschaft über die Unmöglichkeit vollkommener Vergebung und Versöhnung sein? Und ist das in diesem Roman gelungen? Ich meine: Nein. Die religiöse Metaphorik um Opfer, Märtyrer, Wunder, auch um die Macht der Musik ist einfach viel zu viel und wird in diesem Zuviel in Teilen zu Kitsch.

Ein Beitrag aus der Redaktion Gegenwartskulturen der Universität Duisburg-Essen

Titelbild

Leon de Winter: Geronimo. Roman.
Übersetzt aus dem Niederländischen von Hanni Ehlers.
Diogenes Verlag, Zürich 2016.
448 Seiten, 24,00 EUR.
ISBN-13: 9783257069716

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