Selbstbildnis einer postsowjetischen Gesellschaft

Georgische Gegenwartsliteratur: Eine Anthologie. Herausgegeben von Gippert und Tandaschwili

Von Mariam KarsanidzeRSS-Newsfeed neuer Artikel von Mariam Karsanidze

Besprochene Bücher / Literaturhinweise

Die vorliegende Anthologie präsentiert sieben Texte georgischer Autoren der postsowjetischen Generation und ist die erste Sammlung zur georgischen Gegenwartsliteratur, die von Prof. Manana Tandaschwili und Prof. Jost Gippert herausgegeben wurde. Drei Jahre später erschien der zweite Band „Techno der Jaguare. Neue Erzählerinnen aus Georgien“ (siehe literaturkritik.de 10.10. 2013 Rezension von Natalia Shchyhlevska). Der Dritte Band „Zwischen Orient und Okzident“ (2015) stellt Theaterstücke heutiger georgischer Schriftsteller und Schriftstellerinnen dar. Es ist ein großes Verdienst der Herausgeber, dem deutschsprachigen Lesepublikum eine Auswahl der georgischen Gegenwartsliteratur zugänglich gemacht zu haben.

Der vorliegende Band ist zweisprachig und die Übersetzung durch Anastasia Kamarrauli ist hervorragend. Der Band enthält sieben Texte von sechs Schriftstellern, die in der Sowjetzeit geboren und groß geworden sind. Sie gehören zur sogenannten „verlorenen Generation“ der 80er-90er Jahre und erlebten die schwierigsten Zeiten der jüngsten Vergangenheit Georgiens mit: die nationale Bewegung, die 1990 zur Unabhängigkeit Georgiens führte, die Tragödie des 9. Aprils, Bruch des Sowjetimperiums, Euphorie, Hungersnot, ethnische Konflikte, den Bürgerkrieg und den Krieg in Abchasien. Im Gegensatz zu den Texten der weiblichen Erzählerinnen, die auf die Innenwelt gerichtet und meistens ohne zeitliche und örtliche Angaben erzählt sind, blicken die Romanausschnitte auf die historische Entwicklung Georgiens in den letzten 30 Jahren: die Transformation einer Gesellschaft aus einem sowjetischen in einen postsowjetischen Staat, Kriegstrauma und Integrationsprobleme.

Die Texte sind chronologisch angeordnet und wurden durch die Herausgeber mit einem plakativen Titel zur besseren Einordnung versehen.

80er Jahre:

Basa Dschanikaschwili und Dawit Turaschwili erzählen über die 80er Jahre des Sowjetimperiums. Sie ermöglichen den Lesern, sich mit der komplizierten Beziehung zwischen Wahrheit und Lüge, Gut und Böse in einer Sowjetgesellschaft auseinanderzusetzen.

Basa Dschanikaschwilis Auszug aus dem Roman Absurdistan stellt mit feinem Humor ein fiktives Land Absurdistan (= das Land der Absurdität) aus der Tauwetterperiode dar. Der Leser bekommt Einblicke in eine Epoche, in der die Bürger Absurdistans Angst vor dem bösen Westen hatten und in der Menschen unter chronischem Informationsmangel litten. Es gab nur wenige, die Dank der westlichen Radiosender wussten, dass die sowjetische Armee in Afghanistan kämpfte und Kritiker in psychiatrischen Kliniken oder in vom Staatsapparat geführten Arbeitslagern (Gulag) eingesperrt wurden.

Vier Kapitel von Dawit Turaschwilis Jeans-Generation erzählen über spätsowjetische Jugendliche und deren Streben nach Freiheit. Sie träumten, das „Reich des Bösen“ verlassen zu können. Hintergrund ist eine gescheiterte Flugzeugentführung am 18.11.1983 unter Schewardnadses Regierung in Tbillissi, die damals Aufsehen erregte und noch heute in Georgien heftige Diskussionen hervorruft. Durch seine Investigationen eröffnet der Autor neue Einblicke in die Motive der Studenten, die damals als Banditen zu Tode verurteilt wurden. Er zeigt auch, wie „gerecht“ das Reich des Bösen unter Schewardnadses Führung war. Tragisch wird es, wenn der Leser weiß, dass Schewardnadse nach dem Fall der Sowjetunion zum Präsidenten Georgiens gewählt wurde.

Georgisch-Abchasischer Krieg 1992/93

Beso Chwedelidse nahm als Kriegskorrespondent im Krieg 1992/93 in Abchasien teil. In seiner Erzählung Der Geschmack von Asche, die hier vollständig abgedruckt wurde, versucht er eine apolitische Beschreibung des Krieges. Dazu wählt er als Erzähler einen polnischen Reporter, der kurzfristig für seine erkrankte Kollegin einspringt und in Georgien landet, einem Land, von dem er noch nie etwas gehört hatte und der bis dahin nur über Mode und Jugendkultur geschrieben hatte. Zu seinem Unglück und aus Naivität landet er mitten im Kriegsgebiet: in Sochumi, in der Hauptstadt Abchasiens. Von dort schreibt er Briefe an seine Mutter. Er entkommt am 14.09.1993. Wer die Ereignisse damals verfolgte und noch in Erinnerung hat, weiß, dass es am 27.09. zu einem Massaker in Sochumi kam, wo fast alle georgischen Zivilisten (über 7000) von abchasischen Separatisten und ihren Verbündeten aus Russland, Tschetschenien und Armenien umgebracht wurden. Dieses Massaker hätte der Journalist, der sich mit Georgiern dort aufhielt, nicht überlebt.

Hintergrund ist der erwähnte Krieg in Abchasien: Nach dem Zerfall der Sowjetunion forderten viele Abchasier einen unabhängigen Staat auf einem Territorium, in dem sie nur 18% der Bevölkerung ausmachten (laut eines Zensus aus dem Jahre 1989). Am 23. Juli 1992 erklärte sich die Autonome Republik Abchasien für unabhängig, was zu einem blutigen Bürgerkrieg zwischen abchasischen Separatisten und der georgischen Armee führte. Der Krieg forderte zunächst auf beiden Seiten schwere Opfer. Alle überlebenden Georgier (über 50% der Bevölkerung Abchasiens, in Zahlen: 250 000) mussten Abchasien verlassen, nur ein kleiner Teil kehrte später wieder zurück. Die OSZE hat offiziell die Verbrechen an der georgischen Bevölkerung Abchasiens als ethnische Säuberung anerkannt. Seit 2008 haben nur vier Staaten die Unabhängigkeit Abchasiens anerkannt, trotzdem ist heute Abchasien mit ca. 241 000 Einwohnern de facto unabhängig von Georgien.

90er Jahre: postsowjetisches Georgien

Aka Mortschiladse und Sasa Burtschuladse schildern ein pessimistisches Bild Georgiens nach dem Bürgerkrieg. In den 90er Jahren verließ über eine Million Georgier das Land. Für ein Land mit ca. vier Millionen Einwohnern ist das ein bedeutender Anteil. Aka Motschiladses Terzo Mondo erzählt vom Kulturschock, indem er einen in Georgien Gebliebenen nach Berlin kommen lässt, um seinen ausgewanderten Freund zu treffen. In Passive Attack versucht Sasa Burtschuladse ein ungeschminktes Bild der in Georgien gebliebenen Generation zu zeichnen, die keine Kraft findet, um gegen die graue Realität zu kämpfen und in Alkohol und Drogen einen Ausweg sucht.

Der Auftakt zum 21. Jahrhundert: Krieg zwischen Russland und Georgien

Lascha Bugadse: Literaturexpress. Die Übersetzung von Nino Haratischwili ist getrennt erschienen und wurde von Leonie Reckwerth im Mai 2016 für literaturkritik.de rezensiert. Hier sei nur erwähnt, dass es um einen jungen, unbekannten Schriftsteller geht, der die Chance bekommt, sich mitten in Zeiten ethnischer Konflikte mit Schriftstellern dieser rivalisierenden Ethnien zu treffen. Er selbst ist aber von den Vorurteilen gegen andere Ethnien derart beherrscht, dass kein Dialog möglich ist.

Sasa Burtschuladses adibas thematisiert das zivile Leben im Schatten des russisch-georgischen Krieges, der am 8.08.2008 begann. Es ist ein apokalyptisches Bild der georgischen Kultur.

Damit zeichnet die Anthologie eine Linie zwischen einer Zeit der Unterdrückung, in der die Georgier wussten, was sie wollten und wofür sie kämpften, und einer Zeit, in der die georgische Kultur sich in Auflösung befindet und niemand mehr weiß, wohin es gehen soll.

Titelbild

Manana Tandaschwili / Jost Gippert (Hg.): Georgische Gegenwartsliteratur. Eine Anthologie georgisch-deutsch.
Reichert Verlag, Wiesbaden 2010.
394 Seiten, 26,00 EUR.
ISBN-13: 9783895007767

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