Von Bayreuth bis Bangkok

Sibylle Berg erzählt in „Wunderbare Jahre“, warum das Reisen immer weniger hilft

Von Dietmar JacobsenRSS-Newsfeed neuer Artikel von Dietmar Jacobsen

Besprochene Bücher / Literaturhinweise

Wenn einer eine Reise tut, dann kann er – wie das Sprichwort weiß – etwas erleben. Bei Sibylle Berg kommen die Lust auf Abenteuer, die Neugier auf das Fremde und das Interesse an der Welt jenseits des Heimatlich-Engen in Wunderbare Jahre freilich gedämpfter daher. Denn in den in diesem Band versammelten 19 Reportagen – die meisten sind überarbeitete Kolumnen der Autorin aus den letzten zwei Jahrzehnten, versehen mit aktualisierenden Postskripta und leider hier und da etwas zu nachlässig redigiert –, steckt mehr als naive Weltbesichtigung durch die angesichts all des Exotischen weit aufgerissenen Augen einer Touristin. Man zögert deshalb auch ein bisschen, sie ,Reiseberichte‘ zu nennen, weil sie unterm Strich die Lust aufs Reisen eher nehmen.

Kreuz und quer über den Globus führen die einzelnen Texte den Leser. Mal sitzt Berg – der das Sitzen an diesem hartbestuhlten Ort einige Mühe bereitet – im Bayreuther Festspielhaus, mal in einer Kabine auf einem jener Ozeanriesen, deren Motoremissionen „denen von 350.000 Autos entsprechen“, oder sie kehrt an ihren Geburtsort Weimar zurück, freilich nur, um die thüringische Kleinstadt nach kurzer Zeit fluchtartig wieder zu verlassen. Pakistan, Südafrika und Thailand besucht sie – Italien gar zweimal, doch kommt es ihr beide Male nicht mehr so schön vor wie damals, als sie es neu entdeckte mit dem ersten Auto und dem ersten „vermeintlichen“ Freund. Tempi passsati.

Sibylle Berg ist keine Autorin, die schreibt, damit man sich mit ihren Sätzen wohlfühlt. Statt der üblichen Begeisterung für Land und Leute, wie sie für konventionelle Reise (ver-)führer typisch ist, stößt man bei ihr in der Regel eher auf Bestürzung bis Entsetzen. Manchmal formuliert sie ihr Unbehagen auch ganz direkt mit der ihr eigenen Mischung aus frechem Witz, politischer Unkorrektheit und Lust an der Provokation. Und sie verschließt nicht die Augen, wenn ihr Armut, Elend und Trostlosigkeit begegnen.

Im Gegenteil, gerade dann entstehen ihre erschütterndsten, eindringlichsten Texte: Etwa wenn sie den Lebensweg einer jungen, rechtlosen Frau aus Bangladesch verfolgt, ausnahmsweise die Ich-Perspektive aufgibt und sich ganz in den Schmerz und die Ausweglosigkeit dieses Schicksals, das für viele steht, hineinversetzt. Dann fällt auch plötzlich der Zynismus der Autorin weg, ihre mit gesteigerter Ironie unterfütterte Art der Weltbetrachtung, die gewöhnlich Spaß macht, manchmal aber auch nerven kann.

Man kann Wunderbare Jahre von vorn lesen oder von hinten, in einem Zug oder häppchenweise. Man kann das Buch – wunderbar bebildert von Isabel Kreitz, deren Comiczeichnungen mehr leisten als nur zu ,illustrieren‘ – nach der Lektüre im Regal verschwinden lassen, aber auch mit auf die nächste Reise nehmen, um eigene Eindrücke mit jenen der Autorin zu vergleichen. Tut man Letzteres, wird man Sehenswürdigkeiten, Orte und Menschen sicherlich ein wenig anders erleben, weil Bergs Texte hinter die plakative Oberfläche des Exotischen genauso dringen wie hinter die Oberflächlichkeit jener Reisenden, auf deren Agenda ,Spaß‘ steht und sonst nichts. Für solche ist „Italien […] immer noch reizend“, denn „wenn man die 40 % jugendlicher Arbeitsloser wegdenkt, kann man noch ans Mittelmeer“.       

„Es gibt einen Konsens mittelständischer Bildungsbürgerträume, zu dem zählen der Besuch der Chinesischen Mauer, einmal Nibelungen in Bayreuth, die Liebe zu Frankreich und eine Reise mit dem Orient-Express. Danach kann man sterben“, heißt es an einer Stelle. Sibylle Berg hat das alles schon durch. Gestorben ist sie trotzdem noch nicht. Denn auch wenn ihr die heutige Welt überwiegend als ein kalter Ort erscheint und die Menschen überwiegend nur noch an sich selbst interessiert, so sie es sich denn leisten können – die Neugier darauf, was jenseits ihrer eigenen Alltagswelt passiert, hat die Kolumnistin trotzdem nicht verloren.

Titelbild

Sibylle Berg: Wunderbare Jahre. Als wir noch die Welt bereisten.
Carl Hanser Verlag, München 2016.
190 Seiten, 18,00 EUR.
ISBN-13: 9783446253599

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