Eine Geschichte des Menschen im Kleinen

Über die Neuedition von Johann Karl Wezels „Robinson Krusoe“ und Konjunkturen der Aufklärungs-Forschung

Von Michael AnselRSS-Newsfeed neuer Artikel von Michael Ansel

Besprochene Bücher / Literaturhinweise

Ich kann mich nicht erinnern, während meines Studiums eingehender von Johann Karl Wezel gehört zu haben, obwohl die Epoche der Aufklärung damals zu den am intensivsten bearbeiteten Forschungsgegenständen gehörte. Gelesen immerhin hatte ich den Namen dieses eigenwilligen Autors in der Literaturgeschichte Gerhard Kaisers, die 1976 unter dem Titel Aufklärung, Empfindsamkeit, Sturm und Drang in zweiter, überarbeiteter Auflage erschienen war. Wezel kommt zwar nur am Rande auf etwa einer Druckseite im Kapitel Epik neben Wieland vor, wird aber immerhin als bedeutender Romancier und Verfasser von Herrmann und Ulrike vorgestellt. Die dort erzählte Geschichte lasse „ein Gemälde der deutschen Gesellschaft entstehen, das in seiner Breite und milieugetreuen Lebendigkeit an Fieldings Tom Jones (1749) erinnert, im deutschen Roman jedenfalls kein Gegenstück besitzt“. Da hätte ich aufhorchen sollen – habe es aber leider nicht getan. Daran änderte auch die Lektüre von Wezels bis heute bekanntestem Roman Belphegor nichts, der 1978 in der Reihe der Haidnischen Altertümer bei Zweitausendeins erschienen und von Kaiser wohl etwas vorschnell als „literarisch [schwache] Leistung“ beiseite gewischt worden war.

Vielleicht ist diese Kritik insofern symptomatisch für die damalige Aufklärungs-Forschung, als sie keinen wirklich angemessenen Zugang zu Wezel gefunden hat. Mir jedenfalls ging es so. Vielleicht waren die 1970er-Jahre zu sehr von einem optimistischen, die prinzipielle Reformfähigkeit von Staat und Gesellschaft voraussetzenden Bild der Aufklärung geprägt, um den pessimistischen Skeptiker und Empfindsamkeits- bzw. Sturm und Drang-Kritiker Wezel oder generell jene im letzten Jahrhundertdrittel in die Phase ihrer Selbstkritik tretende Epoche unvoreingenommen würdigen zu können. Als Indizien dafür lassen sich Titel der damaligen Forschung anführen, die Wezel als Exponenten des Anderen, der Krise oder Nachtseite der Aufklärung präsentierten und damit gewissermaßen aus der geistigen Topographie seiner Zeit exterritorialisierten. Ein weiteres gravierendes Handicap war der Umstand, dass die große Bedeutung des in der zweiten Hälfte des 18. Jahrhunderts reüssierenden Anthropologiediskurses als zentraler Bezugspunkt nicht nur für die Literatur, sondern auch für die Medizin, Psychologie, Geschichtswissenschaft, Ethnologie und Pädagogik damals nur am Rande wahrgenommen wurde. Da Wezel in vielfältiger Weise an diesem Diskurs partizipierte, musste dies einer substanziellen Beschäftigung mit seinem Werk abträglich sein.

Es ist jedenfalls unbestreitbar, dass die Wezel-Forschung seit den 1990er-Jahren ihre wichtigsten Impulse von jenen oftmals fächerübergreifend forschenden Kollegen erfahren hat, die den vielfältigen Spuren der Anthropologisierung des Denkens seit den 1750er-Jahren nachgegangen sind. Einige von ihnen arbeiteten bzw. arbeiten als Herausgeber sowie Bearbeiter der von Klaus Manger edierten Wezel-Gesamtausgabe in acht Bänden (Jenaer Ausgabe) mit, deren hier anzuzeigender Teilband 2.2 von Wolfgang Hörner und Jutta Heinz unter Mitarbeit von Jochen Zwick besorgt wurde. Seit Mitte der 1960er-Jahre sind zwar einige wichtige Romane Wezels und sogar eine dreibändige Auswahl seiner Kritischen Schriften meist in Form der damals beliebten Faksimile-Ausgaben vorgelegt worden, aber keine dieser Editionen kann auch nur annähernd an die als kritische Studienausgabe konzipierte Jenaer Ausgabe heranreichen. Teilband 2.2 bietet wie alle Bände einen nicht modernisierten Text beider Teile des 1779/80 publizierten Wezelschen Robinson Krusoe. Neu bearbeitet, vier Abbildungen der Titelvignetten und Vorsatzblätter und einen ausführlichen Kommentar, der separat für jeden Teil über Textgestalt, Entstehung und Veröffentlichung, Wirkung sowie Quellen und Gehalt informiert und mit einem Stellenkommentar und Hinweisen zu den Abbildungen schließt. Eine Bibliographie zu Primärliteratur, zeitgenössischen Quellentexten und Forschungsliteratur sowie ein nützliches Personenregister mit historischen Lemmata von „Adelung“ bis „Zollikofer“ runden den Band ab.

Mit einem Jugendbuch hat Wezels Roman wenig zu tun, obwohl Textpassagen des ersten Teils in dem Periodikum Pädagogische Unterhandlungen. Philantropisches Lesebuch für die Jugend erschienen waren. Gewiss hat Wezel wegen seines mit Joachim Heinrich Campe ausgetragenen Prioritätsstreits bezüglich der Neufassung des Robinson-Stoffs mit der Behauptung in der Vorrede des zweiten Romanteils, diesen ganz unabhängig von seiner Vorlage entworfen zu haben, ein wenig übertrieben. Dennoch ist ihm mit der Umsetzung seiner Absicht, „eine Geschichte des Menschen im Kleinen“ zu erzählen, ein origineller, für die zivilisationstheoretischen und geschichtsphilosophischen Diskurse der späteren Aufklärung höchst signifikanter Text gelungen. „Sonach war [sic!] Robinson alle Stände der Menschheit nunmehr durchwandert: er war Jäger, Fischer, Ackersmann, Hirte gewesen“. Während diese Entwicklungsschübe zunächst allein anhand der titelprägenden Hauptfigur durchexerziert werden, setzt der im zweiten Teil referierte dynamische Zivilisationsprozess eine von mehreren Schüben gespeiste Bevölkerung der Insel voraus. Zum Zeitpunkt von Robinsons Rückkehr koexistieren dort eine Despotie, eine Monarchie, eine Aristokratie, eine Republik und ein paternalistischer Naturzustand, während am Romanende ein verheerender Krieg in einem Zustand völliger Anarchie so lange wütet, bis die Pest die letzten Überlebenden auslöscht. Hier wird in Anbetracht der zu berichtenden großen Ereignisfülle notgedrungen sehr schablonenhaft und stark zeitraffend erzählt. Der Wert dieses Erzählens liegt allerdings nicht in seiner sachlichen Differenziertheit, sondern in seiner intendierten, Theorie ansprechend-narrativ aufbereitenden Anschaulichkeit begründet, die laut Wolfgang Hörner „in Form der durch Literatur vermittelten Erfahrung Material zum Selbstdenken zur Verfügung stellen und in interessanter Form aufbereiten“ möchte.

Wezels Robinson Krusoe partizipiert an einer Vielzahl relevanter zeitgenössischer Diskurse. Es geht um Naturzustand und Herrschaftsvertrag, um die Entstehung sozialer und ökonomischer Ungleichheit, um Arbeitsteilung und Entfremdung, um Geographie und Handel, um Kolonialisierung und Ethnographie, um den Zusammenhang von Klima und Kultur, um Naturalientausch und Geldwirtschaft, um Urbanisierung und Kriegsführung, um Religion als Projektion und Machtfaktor, um Luxus und zivilisationsbedingte Degeneration und natürlich um vielfältige Interdependenzen zwischen diesen hier additiv gereihten Themen. Dabei modifiziert Wezel den rationalistischen Optimismus der Aufklärung mit der Auffassung, dass keineswegs Verstand und nüchternes Nachdenken nützliche Erfindungen hervorgebracht hätten, sondern „Zufall, Noth, Leidenschaft, Witz“, und dass die Zufalls- und Leidenschaftsbedingtheit der Zivilisation alle Vorstellungen unaufhörlicher Perfektibilität als gefährliche Wunschträume entlarve. Ob man daraus wie Arno Schmidt die Schlussfolgerung ziehen kann, Wezel sei ein Menschenhasser gewesen, soll hier nicht diskutiert werden. Auf jeden Fall versteht man heute angesichts des skizzierten, in vielerlei Hinsicht epochenrelevanten Ideenreichtums allein dieses philosophischen Romans nicht mehr, weshalb die ältere Forschung immer das vermeintlich Abseitige Wezels betonen zu müssen glaubte, der angeblich – so kann man in einer immer noch viel zitierten, 1981 erschienenen Monographie über deutsche Robinsonaden im 18. Jahrhundert nachlesen – „die Durchsetzbarkeit jedweden aufklärerischen Theorems“ bestritten und „sich damit […] gegen Aufklärung überhaupt“ positioniert habe.

Der Text des anzuzeigenden Bands folgt der Erstausgabe der beiden Romanteile von 1779/80 und ist sorgfältig emendiert sowie redigiert; ein einziger Satzfehler ist auf Seite 148 stehen geblieben („Vert-heidigungsstand“). Beigegeben sind außerdem zwei für die Rezeption relevante Varianten: die stark gekürzte Einleitung zur Zeitschriftenfassung und ein Auszug aus der Vorrede des Verlegers zur Neuauflage des zweiten Romanteils, die 1795 vermutlich ohne Wissen Wezels von Johann Gottfried Dyk unter dem Titel Robinson’s Kolonie oder: Die Welt im Kleinen herausgebracht wurde. Nicht nachvollziehbar ist, warum die in den ersten drei Quartalen der Pädagogischen Unterhandlungen erschienenen Textteile nicht abgedruckt oder wenigstens durch einen Variantenapparat rekonstruiert werden, zumal dies vermutlich kein allzu aufwändiges Unterfangen gewesen wäre. Die Kommentarteile führen prägnant und instruktiv in die zu behandelnden Fragestellungen ein und kontextualisieren Wezels Werk in entstehungs-, wirkungs- und literatur- sowie ideengeschichtlicher Hinsicht.

Weniger innovativ als diese Kommentarteile ist der Stellenkommentar, weil Robinson Krusoe schon im Jahr 1979 in einer von Anneliese Klingenberg kommentierten und mit einem ausführlichen Nachwort erschlossenen Edition publiziert worden ist. Allerdings geht die auf Klingenbergs Vorarbeiten zurückgreifende Neukommentierung weit über deren Radius hinaus und erschließt unter Bezugnahme auf das in der Bibliographie ausgewiesene zeitgenössische Korpus an Wörterbüchern (Johann Christoph Adelung), Erd- (Anton Friedrich Büsching) und Reisebeschreibungen (Georg Forster), geschichtsphilosophischen (Gottfried Herder), ökonomischen (Adam Smith) und medizinisch-anthropologischen (Samuel-Auguste Tissot) Schriften Wezels stupende Gelehrsamkeit – die in Klammern beigefügten Namen markieren nur die Bekanntesten der jeweiligen Werkgruppen. Manchmal schießt die Kommentierfreude über ihr Ziel hinaus und verirrt sich im Bereich der Interpretation. So ist es z.B. nicht nachvollziehbar, weshalb der Blick des in einer Jagdszene getöteten, nach dem ersten Schuss auf seine zerschmetterte Klaue schauenden Löwen eine Anspielung auf das allegorische Tier der abendländischen Hieronymus-Darstellungen sein soll.

Ein Bereich ist allerdings bei der Kommentierung zu kurz gekommen. Die Geschichte des Kolonialismus seit dem 15. Jahrhundert wird nahezu ausgegrenzt. Das ist insofern problematisch, als der Robinson-Stoff selbst eine nicht nur von Wezel, sondern auch von den meisten seiner Zeitgenossen nicht hinreichend reflektierte Parabel der überseeischen Expansionsgeschichte Westeuropas darstellt. Es sei nur daran erinnert, dass der Grund zur verhängnisvollen, mit dem Schiffbruch endenden Seereise des von „Projektirsucht und Neigung zum herumschweifenden Leben“ beherrschten Robinson darin besteht, es dem König von Spanien gleichzutun und aus Afrika Menschen für den Gewinn maximierenden Einsatz im Tabak- und Zuckerrohranbau auf seinen Plantagen in Brasilien zu versklaven. Unter diesen Vorzeichen ist es nicht gleichgültig, dass Robinson selbst von einem Piraten als Sklave in das souveräne Marokko verschleppt wird, dessen mächtiger, von 1672 bis 1727 herrschender Sultan Mulai Ismail Engländer und Spanier vertrieben, sich innerstaatlich gegen rivalisierende Stämme durchgesetzt und einen florierenden Handel mit Westeuropa geführt hatte. Das erfährt man im Kommentar nicht. Und es ist wenig hilfreich, wenn Guinea dort als ein „für seine Gewürze, Sklaven und Elfenbein berühmtes Land in Westafrika“ bezeichnet und hinzugefügt wird, damals sei „die ganze westafrikanische Küste […] Guinea genannt“ worden, weil das Staatsgebiet des heutigen Guinea(-Bissau) erst Mitte des 19. Jahrhunderts durch die Franzosen kolonialisiert wurde.

Schließlich sind einige Flüchtigkeitsfehler zu monieren. Mit korrekten Angaben zu Seitenzahlen haben sich die Bandherausgeber offenbar schwergetan. Einerseits entspricht die stark gekürzte Einleitung zur Zeitschriftenfassung nicht „den Seiten 19-21“ der vorliegenden Ausgabe, sondern deren Seiten 18-30. Außerdem sind ausnahmslos alle Fundstellenhinweise, mit denen der Erzähler des zweiten Romanteils in Fußnoten auf andere Textpassagen verweist, dem Seitenumbruch der Neuedition fehlerhaft angepasst, weil sie vermutlich vor dem definitiven Satz vorgenommen und nicht mehr geändert wurden. Die wichtige Rezension des zweiten Romanteils von Albert Georg Walch in der Allgemeinen Deutschen Bibliothek wird offenbar gelegentlich nicht nach ihrer Erstveröffentlichung zitiert, ohne dass die andere Textvorlage erfasst wird. Wenn die einschlägigen bibliographischen Angaben in Band 7 der Jenaer Wezel-Ausgabe korrekt sind, dann enthält der Titelsatz der teilweisen Vorabdrucke des Romans einen Fehler, da diese sodann in den Pädagogischen Unterhandlungen. Philantropisches [sic!] Lesebuch für die Jugend veröffentlicht wurden. Während im Kommentarteil davon die Rede ist, dass eine „russische Übersetzung beider Teile des Buchs […] 1781 in Moskau erschienen sein“ solle, verzeichnet die Bibliographie diesen Titel (Nowoj Robinson Kruze. Moskau 1781) kommentarlos. Und schließlich ist zu ergänzen, dass nicht nur der zweite, sondern über WikiSource auch der erste Teil von Wezels Werk gemäß einem Exemplar der Library of the University of Michigan in digitalisierter Form abrufbar ist. Insgesamt sind das für eine kritische Studienausgabe in dieser Preisklasse nicht wenige Versehen.

Eine Werkausgabe, zumal wenn sie sich wie im vorliegenden Fall als kritische Gesamtausgabe zu präsentieren vermag, leistet der Kanonisierung eines Autors fast immer Vorschub. Sie dokumentiert die Bereitschaft, in den edierten Autor auch im Rahmen eines oftmals nicht kostendeckenden, durch Drittmittel abgesicherten Projekts zu investieren, und stellt die notwendige Basis für ambitionierte Anschlussforschungen bereit. Um diese Aufgaben zuverlässig erfüllen zu können, sollte sich jedoch ihr Erscheinungszeitraum nicht allzu sehr in die Länge ziehen. Damit ist ein neuralgischer Punkt der Wezel-Edition berührt. Sie ist gerade einmal bis zur Hälfte gediehen, obwohl schon vor knapp 20 Jahren mit dem dritten Band begonnen wurde. Insofern wäre es wünschenswert, wenn die noch ausstehenden vier Bände in rascherer Zeitfolge vorgelegt werden und weiterhin mit der dankenswerten finanziellen Unterstützung der Kulturstiftung der Länder und der VG Wort rechnen könnten. Dies wäre nicht nur für die Wezel-Forschung, sondern auch für die Erforschung der Literatur-, Philosophie- und Ideengeschichte der Spätaufklärung ein großer Gewinn, in welche die Bearbeitung des Robinson-Stoffs durch den Schriftsteller-Gelehrten Wezel in komprimierter Form einzuführen vermag.

Angesichts der Dauerkrise Europas bzw. der von vielfältigen Globalisierungsschüben destabilisierten Weltordnung seit dem völkerrechtswidrigen Irak-Krieg haben sich die Zeitläufe im Vergleich zum internationalen Umfeld der eingangs erwähnten Aufklärungs-Forschung der 1970er-Jahre grundlegend geändert. Dies sollte der Wezel-Rezeption nicht eben abträglich sein. Jedenfalls lässt sich der Robinson Krusoe auch als Kommentar zur gegenwärtigen Weltlage lesen – und man kann nur hoffen, dass sie eine andere Entwicklung nimmt als die Geschichte von Robinsons Kolonie am Ende des Romans.

Titelbild

Johann Carl Wezel: Robinson Krusoe. Gesamtausgabe in acht Bänden. Jenaer Ausgabe. Band 2.2.
Herausgegeben von Wolfgang Hörner und Jutta Heinz unter Mitarbeit von Jochen Zwick.
Mattes Verlag, Heidelberg 2016.
327 Seiten, 59,00 EUR.
ISBN-13: 9783868090420

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