Irrungen und Wirrungen im Kaukasus

In Alissa Ganijewas neuem Roman soll Hochzeit gehalten werden

Von Daniel HenselerRSS-Newsfeed neuer Artikel von Daniel Henseler

Besprochene Bücher / Literaturhinweise

Die Globalisierung bringt es nicht automatisch mit sich, dass auch in der Literatur die terrae incognitae seltener werden. Die russische Schriftstellerin Alissa Ganijewa arbeitet aber beharrlich daran, Dagestan nachhaltig auf die literarische Landkarte zu setzen. Bereits in ihrem ersten Roman Die russische Mauer (2014) hatte sie sich der russischen Teilrepublik am Kaspischen Meer angenommen und damit eine Region in unser Bewusstsein gehievt, von der man selbst in Moskau nur unwesentlich mehr weiß als etwa in Berlin oder Paris. Ganijewas zweiter Roman Eine Liebe im Kaukasus hat mit seinem Vorgänger einiges gemeinsam; es gibt aber auch ein paar aufschlussreiche Unterschiede zu verzeichnen.

Die junge Dagestanerin Patja hat ein Jahr lang als Gehilfin in einem Moskauer Anwaltsbüro gearbeitet. Anfang des Sommers kehrt sie in ihren Heimatort im dagestanischen Tiefland zurück. Patja ist 25 Jahre alt und ihr gesamtes Umfeld entschieden der Meinung, es sei höchste Zeit, dass sie heirate. Einen Verehrer hat sie auch schon: Timur, mit dem sie sich eine Zeit lang aus der Distanz über die üblichen modernen Kommunikationskanäle ausgetauscht hat. In der Heimat kommt es nun zu einem ersten Treffen. Patja ist vom eingebildeten Timur mit seinem Machogehabe jedoch nur mäßig begeistert und gibt ihm einen Korb. Timur verschwindet aber nicht von der Bildfläche, sondern wird den ganzen Roman hindurch eine Art Schatten bleiben, der Patja immer wieder nachstellt. Patjas Sippe stellt ihr selbstverständlich auch andere Anwärter vor. Die eine Hälfte des Romans, nämlich jedes ungerade Kapitel, bildet die Ich-erzählung Patjas, die von den Ereignissen während einiger Sommertagen berichtet. Sie erlebt nach ihrem Praktikum in Moskau zwar keinen Kulturschock, spürt aber doch die Unterschiede zwischen der modernen Metropole im fernen Norden und den ganz anderen gesellschaftlichen Verhältnissen in Dagestan. Allerdings registriert sie nun auch die inneren Widersprüche in ihrer Heimat deutlicher als zuvor: Dagestan ist zwischen althergebrachten Traditionen und den Herausforderungen der globalisierten Welt zerrissen. Das Verhalten der Menschen ist voller Unvereinbarkeiten, die wiederum den Zwängen der Realität geschuldet sind.

Auch Marat ist gerade eben in die namenlose Siedlung in Dagestan zurückgekehrt. Er ist ein erfolgreicher Anwalt in Moskau und befasst sich dort mit einem Mord an einer oppositionellen Bürgerrechtlerin. Seine Eltern haben für den kommenden 13. August einen Saal mit 1.000 Plätzen gebucht – für Marats Hochzeit. Nur: eine Braut ist weit und breit nicht in Sicht. Eile ist also angesagt, aber Marats Mutter hat schon alles geplant: Marat muss im Grunde genommen nur noch seine Wahl treffen. Das Abarbeiten der Brautliste, die Marats Mutter vorsorglich zusammengestellt hat, gehört zu den amüsantesten Momenten des Romans: Es folgen Besuche und Besichtigungen, Verhandlungen und Diskussionen, Benotungen und Evaluationen. Dieses ,Casting‘ läuft einigermaßen chaotisch ab und droht aus dem Ruder zu laufen. Die Kapitel über Marat – die geraden im Buch – machen die andere Hälfte von Ganijewas Romans aus. Sie sind in der Er-Perspektive gehalten und wirken daher distanzierter als Patjas Bericht. Man kann das als bewussten Kunstgriff der Autorin verstehen: Er führt dazu, dass die Leser stets etwas näher an Patja sind. Zugleich wird damit die Frau deutlicher in ihr Recht gesetzt, als dies in der konservativen Gesellschaft Dagestans zu erwarten wäre. Und tatsächlich: Patja tritt nicht minder selbstbewusst auf als Marat.

Patja und Marat lernen sich erst in der Mitte des Romans kennen, und auch das nur zufällig. Eine ,Paarbildung‘ zwischen den beiden hat nämlich niemand auf dem Radar gehabt. Das ist nicht ohne eine gewisse Ironie, und Ganijewa nimmt hier entsprechend auch die dagestanischen Traditionen mit ihren arrangierten Ehen sowie der Dominanz der Clans und Familien über das Individuum ein wenig aufs Korn. Marat und Patja verlieben sich ineinander und das hat Folgen. Davon wird schließlich die zweite Hälfte des Romans handeln.

Wie schon in Die russische Mauer zeichnet Ganijewa auch in diesem Roman ein Porträt des heutigen Dagestans. Manches wird einem deshalb bekannt vorkommen: Die fast unüberblickbare Anzahl an Figuren, die Vielfalt der Ethnien, die Widersprüche zwischen Tradition und Moderne, aber auch die verschiedenen Strömungen des Islams: gemäßigte wie radikale – zusätzlich angereichert mit Geister- und Aberglauben. Auch Ganijewas Humor, dem hie und da ein grotesker Ton beigemischt ist, lässt sich wieder vernehmen. Dieser Stil erwächst vielleicht zwangsläufig aus den Widersprüchen des Alltags. Hier dürften auch die tragikomischen Szenen des Romans ihre Ursache haben. Eine Liebe im Kaukasus weist aber auch ein paar neue Merkmale auf: Es gibt nun einen eigentlichen Plot, den man erfassen und nacherzählen kann. Die Handlung dreht sich vorwiegend um die Suche nach der Braut beziehungsweise dem Bräutigam. Der Roman ist allein schon deshalb klarer strukturiert als der Erstling. Ganijewa hat zudem eine Figur in den Roman eingebaut, die als eine Art heimliche Hauptgestalt, als ein Fluchtpunkt der vielen Interessen und Wünsche, funktioniert. Es handelt sich dabei um den einflussreichen, aber umstrittenen Halilbek. Über ihn wird zu Beginn berichtet, er sei verhaftet worden und sitze nun im Gefängnis. Halilbek ist im Verlauf des ganzen Romans zwar physisch abwesend, aber gleichwohl stets gegenwärtig, denn viele Gespräche und Diskussionen kreisen um ihn. Jeder hat eine Meinung zu Halilbek, jeder fühlt sich verpflichtet, Position zu beziehen. Dabei weiß im Grunde genommen niemand so richtig, ob es nun besser ist, für oder gegen Halilbek einzutreten. Das sagt sehr viel über die Verflechtungen, Loyalitäten und Abhängigkeitsverhältnisse in der komplexen dagestanischen Gesellschaft aus. Halilbek ist als Figur ein geschickter Schachzug der Autorin. Denn gerade in ihm – oder vielmehr: im Verhältnis der Menschen zu ihm – erreicht Ganijewas Buch Ernsthaftigkeit und Tiefe.

Lesenswert ist der Roman auch wegen seiner zahlreichen Anspielungen an die Kultur- und Literaturgeschichte sowie die religiösen Traditionen des Kaukasus. Was letztere betrifft, so gibt die Übersetzerin Christiane Körner in ihrem Nachwort willkommene Hilfestellung. Einem ,westlichen‘, aber auch einem durchschnittlichen russischen Leser blieben diese Komponenten ansonsten verborgen. Körner erinnert an die verschiedenen Strömungen des Islams in Dagestan, darunter die sufistischen Elemente, welche die religiöse Identität bis heute prägen – auch wenn ihnen von Seiten der fundamentalistischen Ausrichtung des Wahhabismus eine starke Konkurrenz erwachsen ist. Körner legt dar, wie sich bestimmte sufistische Motive wie etwa der Wein beziehungsweise der Rausch, das Meer, der Punkt oder die Figur des al-Hidr durch das ganze Buch hindurchziehen und eine Art Untergrundströmung bilden, die dem Geschehen einen zusätzlichen Resonanzraum verleihen. Al-Hidr (oder al-Chidr) ist im Islam eine Art ewiger Reisender, ein Gottesknecht oder Gottesfreund, den besonders die Sufis verehren. Ganijewa lehnt ihren Halilbek eng an diese Gestalt an. Man fühlt sich hier im Übrigen auch an den „Jurodivyj“, den Narr in Christo aus der russisch-orthodoxen Tradition, erinnert.

Die Awarin Alissa Ganijewa, die auf Russisch schreibt, ist natürlich auch mit dem Kaukasusbild vertraut, das sich in der russischen Kultur und Literatur seit dem 19. Jahrhundert herausgebildet hat. Bis heute haben sich in der Wahrnehmung des Kaukasus bei den durchschnittlichen Russen Stereotype gehalten, die Ganijewa in ihrem Roman genüsslich durchspielt: etwa die Frage des Brautraubs, die Marina, Patjas Moskauer Freundin, geradezu erwartet, weil sie das (nicht ganz zu unrecht) für eine uralte kaukasische Tradition hält. Es würde sich mit Sicherheit lohnen, Ganijewas Roman noch näher auf seine Intertextualität hin zu lesen. Mit Nikolai Gogols Komödie Die Heirat (1842) hat der Roman nicht nur das Thema gemein, sondern auch ein gewisses groteskes Element. Das farbige kaukasische Kolorit, die Sippengeschichten, aber auch das Schelmenhafte wiederum erinnen an manchen Text des kürzlich verstorbenen abchasischen Schriftstellers Fasil Iskander.

Ein großer Wermutstropfen ist der kitschige deutsche Titel des Romans: Eine Liebe im Kaukasus. Es fragt sich wirklich, wie er zustande gekommen ist. Man stelle sich zum Vergleich einmal Überschriften vor wie: Eine Liebe in den Alpen oder Eine Liebe in Cornwall. Man kommt kaum darum herum, hierbei an Hedwig Courths-Mahler beziehungsweise Rosamunde Pilcher zu denken. Nichts gegen diese beiden Autorinnen – aber es handelt sich doch um eine etwas andere Kategorie von Literatur. Man täte Alissa Ganijewa und ihrer literarischen Kunst unrecht, wollte man sie mit diesen Autorinnen vergleichen. Gewiss: Der Begriff ,Kaukasus‘ ist im deutschen Sprachraum vor allem mit negativen Konnotationen belegt, was durchaus zu bedauern ist. Wenn man das Wort also – um des Lokalkolorits willen – trotzdem in einen Romantitel hinüber retten will, so muss man es wohl mit einem positiven Begriff zusammenbringen. Und dafür ist die „Liebe“ allemal gut. Ob es so abgelaufen ist? – Dabei hätte manches dafür gesprochen, den Originaltitel zu belassen: Ženich i nevesta, „Der Bräutigam und die Braut“. Darin steckt eine Mehrdeutigkeit, die in der Übersetzung verschwunden ist. Im russischen Titel sind noch alle Kombinationen an künftigen Paaren möglich; der deutsche nimmt das Ende faktisch vorweg.

Alissa Ganijewa erweist sich in ihrem zweiten Roman erneut als eine sensible, aber auch kritische Beobachterin der heutigen Gesellschaft Dagestans. Falls sie dieser Thematik künftig treu bleibt, wird sie vor der Herausforderung stehen, ihr auch weiterhin neue Nuancen abzuringen. Ganijewa ist eine begabte und kritische Journalistin und Schriftstellerin: Sollte sie ihren Blick dereinst auf Russland als Ganzes richten, so darf man von ihr gewichtige literarische Beiträge zum Zustand des Landes erwarten.

Titelbild

Alissa Ganijewa: Eine Liebe im Kaukasus. Roman.
Übersetzt aus dem Russischen von Christiane Körner.
Suhrkamp Verlag, Berlin 2016.
240 Seiten, 22,00 EUR.
ISBN-13: 9783518425541

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