Erzählen, bis der Buchfink kommt

Vor „Tagesanbruch“ schildert eine Mutter ihre unerhörte Lebensgeschichte

Von Jürgen RöhlingRSS-Newsfeed neuer Artikel von Jürgen Röhling

Besprochene Bücher / Literaturhinweise

In anderen Büchern, das muss vorangeschickt werden, ist Hans-Ulrich Treichel witziger. Sein großartiger Roman Der Verlorene ist, bei aller Tragik der erzählten Geschichte, in der es um verkorkste Nachkriegserziehung und daraus resultierendes Kinderelend ebenso geht wie um traumatische Kriegserfahrungen der Eltern und das Schicksal, als Heimatvertriebene klarkommen zu müssen, ein Meisterwerk des ebenso leisen wie tiefen Humors. So viel Ironie war selten in der deutschen Gegenwartsliteratur, mit so viel beißender Schärfe hatte noch keiner das Elend einer ganzen Generation offengelegt und dabei gentlemanlike oder doch nur ostwestfälisch-spröde Subtilität gewahrt.

Das Thema der Erzählung Tagesanbruch von Hans-Ulrich Treichel klingt Lesern des „Verlorenen“ vertraut. Eine Mutter erzählt ihrem Sohn die furchtbare, lange verschwiegene Tragik ihres Lebens: Eine Ehe in Kriegszeiten, Flucht aus dem Osten in den letzten Kriegstagen, Vergewaltigung durch Soldaten im Beisein des hilflosen, armamputierten Ehemanns, und zuletzt die demütigende Unmöglichkeit, das Erlittene verarbeiten, ja auch nur irgendjemandem berichten zu können; niemand wollte solche Geschichten hören.

Der Sohn, erwachsen geworden, muss sie schließlich hören. Ob er sie hören wollte oder sich nur nicht dagegen wehren kann, weiß man nicht, denn er ist tot. So lange hat die Mutter gewartet: Erst als der Sohn nach langem Krankenlager tot in ihren Armen liegt, kann sie nach und nach ihre Lebensgeschichte detailreich erzählen. Die nächtlichen Rufe der Vögel teilen die Zeit ein, bei Anbruch des Tages muss alles geschildert worden sein.

Langsam tastet sich Treichels Erzählung vor – oder eigentlich zurück. Die Erinnerung geht rückwärts, von der Gegenwart des toten Sohnes beginnt die Frau mit dem Aufbau des gemeinsamen Geschäfts, ein Klavier wird angeschafft, um ein erfolgreiches bürgerliches Leben zu simulieren, doch niemand kann es spielen. Es kommt die Erinnerung an die Kindheit im Osten, die Ehe, den Krieg, den Flüchtlingstreck, bis zum tragischen Höhepunkt im winterlichen Wald bei Kutno in Polen. Der kriegsbeschädigte Mann schaut ohnmächtig zu, als russische Soldaten über die Frau herfallen, ihr bleibt nur zu erleiden, die Gewalt der Soldaten zu ertragen, den Kopf in den Schnee gepresst, ihr Mund füllt sich mit Schneematsch. Schließlich sollen sie hingerichtet werden, ein Soldat führt sie zur Exekution – und schießt in die Luft. Das Leben geht weiter. Die Frau ergreift nun die Initiative: Abtreibung kommt nicht in Frage, wo denn auch, die Flucht dauert an. In einer Unterkunft ist die Gelegenheit günstig zu einer Liebesnacht mit ihrem Mann. Eigentlich unpassend, unerwartet, aber es passiert: Sie wird schwanger, und jetzt ist es unmöglich zu sagen, wer der Vater des Kindes ist. Es spielt keine Rolle.

Und nun hält die Mutter ihren toten Sohn im Arm; ein an Emotionalität wie an kulturgeschichtlichen Anspielungen und Symbolik nicht eben subtiles Bild, heftig und doch plausibel. Zu Lebzeiten, in den emotional verarmten, von Angst und Verdrängung geprägten Nachkriegsjahren war kein Erzählen möglich, irgendwann war es dann zu spät, erst jetzt fällt die letzte Barriere und die Nacht des Todes ermöglicht den Erzählfluss. Als der Buchfink den Tagesanbruch verkündet, ist der Bericht fertig, die Pietà-Geschichte von Mutter und totem Sohn hat die Gegenwart erreicht, die notwendigen Anrufe müssen getätigt werden. Was gesagt werden musste, wurde schließlich gesagt, und das war nichts Geringeres als schrecklichste Lebenserfahrungen, die Tragödie eines ganz normalen und zugleich ganz außergewöhnlichen Lebens. Und wenn nicht der Ruf des Buchfinken (das ist nun wohl doch ein kleiner Literatenscherz) den Tag verkündet und damit die Erzählnacht beendet hätte, wäre vielleicht sogar noch ein echter Treichel-Roman daraus geworden.

Titelbild

Hans-Ulrich Treichel: Tagesanbruch.
Suhrkamp Verlag, Berlin 2016.
87 Seiten, 17,95 EUR.
ISBN-13: 9783518425251

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