Ich baue dir einen Stall für deinen Hund

Nicolette Krebitz’ „Wild“ und der Kampf um die weibliche Sexualität

Von Andreas P SchmidRSS-Newsfeed neuer Artikel von Andreas P Schmid

Zurück zur Natur? Oft genug haben Film und andere Künste diese Frage mit „Ja“ beantwortet und oft genug sitzen sie dabei dem Mythos von den primitiven Wurzeln des Selbst auf, die man nur ausgraben müsse, um sich selbst wieder so richtig spüren, die Welt wieder ganz unverfälscht erleben zu können. Es ist die Weber’sche Entzauberung, der man allzu gern mit einer Flucht in die Wildnis begegnet, oder in das, was man dafür hält. Diese Wildnis wird aber nicht nur in fernen Ländern wiedergefunden, sondern gerade in den Figuren selbst. So musste sich jüngst Jake Gyllenhaal in Jean-Marc Vallées Demolition einen Nagel in den Fuß treten, auf sich schießen lassen und einige Gebäude abreißen, um zu entdecken, dass unter dem Investment-Banker-Sakko noch ein wildes, sehr, sehr gefühliges Herz schlägt. Neues Leben blüht aus den Ruinen. Zur Traumfabrik gehört das freilich dazu: Das Betreten des Kinosaals ist ja selbst ein Aussteigen und nicht zufällig wirken diese Aussteiger etwas benommen und leicht verdutzt, wenn sie den Saal anschließend durch den Eingang wieder verlassen. In Filmen, die nun dieses Ausbrechen auch noch zum Thema machen, entfällt das Verdutzen jedoch: Am Ende rennt Gyllenhaal mit Jugendlichen um die Wette – er hat dann alle drei Figuren des Primitiven (Wilde, Verrückte, Kinder) abgearbeitet – und ist glücklich. Ob der Kinobesucher anschließend im Foyer randaliert? Vielleicht. Dann aber nicht, weil er seine Natur wiedergefunden hat, sondern weil er sich von der Kultur um sein Geld betrogen fühlt.

Zivilisationsmüdigkeit und Verwilderungswünsche ziehen sich auch durch Nicolette Krebitz’ Wild. Wie Dominosteine aneinandergereihte Plattenbauten in vorwinterlichem Graustich, glattpolierte form follows function-Büroästhetik mit Apple-Logo-Beleuchtung und davor eine verschüchterte junge Frau, Ania, eingekleidet in weiße Daunenjacke. Kein Zauber geht mehr aus von dieser Szenerie. Der pulsierende Rhythmus deutscher Großstädte, den man in Sebastian Schippers Victoria regelrecht fühlen konnte, fehlt – verdrängt hat ihn eine Melodie der Störgeräusche: das unsanfte Pfeifen des Weckers, das Handy mit Vibrationsalarm, die Pistolenschüsse am Schießstand, das EKG und der Chef, der gegen Scheiben oder Motorhauben donnert. Denkbar günstig ist die Ausgangssituation für einen Ausbruchsversuch. Doch Krebitz gibt dieser allzu bekannten, schon etwas veralteten Versuchsanordnung noch etwas hinzu, das ihren Film von anderen abhebt: einen weiblichen Blick. Klar – es gibt einige Regisseurinnen, die Geschichten von Frauen erzählen. Kathryn Bigelow etwa, die in Zero Dark Thirty einen vermeintlich neutralen Blick etabliert, dem das weibliche Subjekt, hier CIA-Analytikerin Maya auf der Jagd nach Bin Laden, allerdings entgeht. Besser macht es Sarah Gavron in Suffragette, noch besser Nicolette Krebitz in Wild.

Neben das uneingelöste Glücksversprechen des Kapitalismus tritt eine männliche sexuelle Herrschaft, die teilweise raffiniert, teilweise aufdringlich daherkommt – und damit vielleicht besonders nah an die Wirklichkeit heranreicht. Wenn Anias Schwester Jenny die Möbel aus ihrem vormaligen Kinderzimmer abholt oder die beiden miteinander skypen, begleitet Jenny jedes Mal ihr Partner, der sie regiert, nicht umgekehrt, und der Ania mit halbherzig überspielter Respektlosigkeit begegnet. Bürotyrann Boris verbindet als echtes ‚Ekelpaket‘ gleich mehrere Ausdrucksformen männlicher Überheblichkeit: Er betrinkt sich und scheint das auch von den weiblichen Untergebenen zu erwarten, die dann auf seinem Schoß landen. Sichtlich erbost wirft er Tennisbälle an Anias Scheibe im vollkommen transparenten Büro, auch Handgreiflichkeiten gibt es. Einen Ton der erschreckend unverhohlenen Geringschätzung schlägt Boris in den spärlichen, aber wirkungsvollen Dialogen mit Ania an: „Sie stellen keine doofen Fragen“ oder „Sie haben nie etwas Unnötiges getan, Sie haben mich nie gestört.“ So muss sie erst – viel später – zur Sprache finden, um die wichtigen Fragen auch nonverbal stellen zu können. Und Boris wird dann erfahren: Wer im Glashaus sitzt, sollte nicht mit Bällen werfen.

Die Verschränkung des Einengenden einer marktrationalen Monotonie mit einer sexuellen Hierarchie ist ein Glücksgriff, mit dem Wild der ständigen Gefahr entgeht, zu fader pseudo-rousseauistischer Großstadtlyrik zu verkommen. Rousseaus Behauptung „Der wilde Mensch lebt in sich, der gesellige hingegen ist immer außer sich“ trifft hier nicht zu. Anias Befreiung besteht gerade in einer sehr körperlichen, verausgabenden Verwilderung. Dafür steht auch der Wolf, über dessen Bedeutung oder Symbolgehalt die Zuschauerin wie schon über den Monolithen in 2001 oder den Koffer in Pulp Fiction lange grübeln kann. Verweigert wird ein simpler metaphorischer Sprung vom Ausdruck zum Inhalt. Ania gibt Auskunft. Als Boris sie fragt, was ihr neuer Jemand denn so mache, antwortet sie rasch: „Schön sein, sonst nichts.“ Damit wird nun nicht die Frage nach Sex oder Liebe zugunsten der Oberfläche entschieden, es ist kein „Beauty isn’t everything, it’s the only thing“. In kluger Berücksichtigung der medialen Voraussetzungen des Films, der zunächst einmal visuell wirkt, folgen aber auch keine tiefsinnigen Monologe mit dem Wolf. Das Thema des sexuellen Aufbruchs bleibt unausgesprochen, was dessen Umsetzung in einigen besonders eindringlichen Szenen zugutekommt. Schönsein wird dem Ekel gegenübergestellt und tauscht langsam mit diesem den Platz: Während die kühle, männlich konnotierte Innenarchitektur des Büros mit seinen Konferenzen über frauenverachtende Marketingstrategien immer mehr als hässlich empfunden wird, gelingt es, die scheinbare Destruktion von Anias Wohnung durch die Begegnung von Mensch und Tier als Weiterentwicklung, nicht als abstoßenden Verfall aufzufassen. Selbst die Menstruation verliert in der besten Szene des Films die ihr zugeschriebene Ekelhaftigkeit. Wild kämpft also auch gegen die Hygiene als zurichtende Normierungsgewalt und übertrifft die dafür bekannten Feuchtgebiete bei Weitem. Mit dem Wolf holt sich Ania die Wildnis ins Haus, in dem aber nicht plötzlich das Es Herr ist, sondern das Ich Frau sein darf.

„Was ist das für eine Welt, die ausgehend vom Unterschied und nicht von der Identität erforscht, praktiziert und gelebt wird?“, fragt Alain Badiou und seine Antwort ist: Liebe. Das heißt für ihn: eine alternative Welterfahrung von der „Bühne der Zwei“. Ania kehrt sich nicht von den Menschen ab. Vielmehr katalysiert das Leben mit dem Tier, diese ganz neue „Zwei“ eine grundverschiedene Begegnung mit ihrem menschlichen Umfeld. Ihre Sprache wird reicher, sie beschränkt sich nicht mehr nur auf „Ja“, „Okay“, „Mache ich“. In der innigen Beziehung zum Wolf, der ihr Kratzer und Wunden zufügt, lernt sie, zu widersprechen. Daher ist er auch kein Sinnbild für eine Hassliebe, die sie ihrem tyrannischen Chef gegenüber empfinden könnte. Boris übt ja insbesondere dann, wenn sein Verlangen nach Ania offenbar wird, eine teils aggressive, teils wohlwollende Domestikationsgewalt aus. Seiner begehrten Wilden möchte er Urlaub zur Beruhigung verschreiben, dem „Hund“ einen Stall bauen, den wachsenden Unterschied zwischen ihnen aufheben. Auch von Boris könnte der Satz sein, mit dem eine Nachbarin Ania anfährt: „Hier bei uns herrscht Ordnung im Haus.“ Dieses Bestehen auf der „Ordnung“ richtet sich nicht nur gegen Geruchs- und Lärmbelästigung, sondern bezeichnet das Paradigma, in das Ania ihre Zweisamkeit mit der Wildnis zunächst noch einfügen will. Als sie sich dafür sogar auf ihren Chef einlässt und feststellen muss, dass er entgegen ihrer Vermutung eben nicht wie sie ist, sondern stets – auch nach ihrer Kündigung – erster Repräsentant dieser „Ordnung“ bleibt, wird es Zeit für den Paradigmenwechsel. Denn, so Alain Badiou, „[d]as Denken der Liebe ist […] auch dieses Denken, das gegen jede Ordnung ist, gegen die Macht der Gesetzesordnung gerichtet ist.“

Die Wohnung wird zu eng, bis aufs Dach werden die Zwei verfolgt, endlich fliehen sie in eine vom Raubbau verwüstete, posthumane Landschaft. Doch wohin geht es dann? Wild bleibt die Antwort schuldig. Toni Erdmann kommt an ähnlicher Stelle zu einer ernüchternden Einsicht: Der Regelbruch lässt sich leicht integrieren, vielleicht hält er die Ordnung sogar zusammen. Für diesen Schritt ist Krebitz’ Film dann doch zu hoffnungsvoll und zu optimistisch. Vielleicht braucht es aber eben das für eine Revolution: Alles ist besser als Nichtstun. Allerdings fehlt Ania die Radikalität einer Joe, die den männlichen Wunsch, ihre Sexualität zu beherrschen, am Ende von Nymphomaniac mit einem Schuss beendet. Ania würde dann den Krankenwagen rufen. So kommt die befreiende Kritik leider durch den Schalldämpfer, was an manchen Stellen sicher eine Eskalation in die bloß lärmige Provokation verhindert, insgesamt aber die mögliche Kraft des Films unnötig abfedert. Dazu trägt auch eine gewisse formale Unentschlossenheit bei. Viele wunderbare Szenen sind da zu sehen, die großartig komponiert sind und gut funktionieren. In der Gesamtschau fallen aber doch einige Bilder aus dem Film, die sich zwischen Horror, Fernsehkrimi und Edeka-Werbung nicht verorten lassen. Mögen das Unbestimmte und Unberechenbare des Wolfs sowie Lilith Stangenbergs souveräner Umgang damit große Stärken sein, darf selbiges mit Blick auf die Bildsprache zumindest infrage gestellt werden.

„[I]ch denke nicht daran, Menschen […] bessern zu wollen, sondern hoffe, selbst besser zu werden im Verkehr mit der Wildnis“, schrieb der Lebensreformer Hans Paasche 1916 in sein Tagebuch. Hundert Jahre danach nimmt Ania den „Verkehr mit der Wildnis“ wörtlich, die Menschen spielen am Ende gar keine Rolle mehr. Nicht Reform, sondern Revolution, ein fundamentaler Bruch mit dem Bisherigen schwebt ihr vor. Und obwohl Ania bei der Umsetzung nicht den Mut zur letzten Konsequenz aufbringt, die Bilder nicht wirklich revolutionär sind, gelingt Krebitz ein spannender filmischer Versuch, der vielleicht keine Breitenwirkung entfalten kann, aber diejenigen belohnt, die mutig genug sind, ins Kino zu gehen – schon allein dank seines beeindruckenden Grads an Materialität. Wild ist ein wertvoller Beitrag zum deutschen Gegenwartsfilm, wenn er auch hinter den Meisterwerken der letzten Jahre – genannt seien nur Die Frau des Polizisten, Victoria, Toni Erdmann – zurückbleibt.

Dennoch passt er gut in diese Reihe: In allen Filmen steht eine Frau im Fokus. Ihre familiäre Sicherheit, ihre soziale Einbettung, ihr gesamter Lebensentwurf oder ihre Sexualität werden bedroht und wollen überdacht, neu bestimmt, neu ausgelotet werden – und das nicht mehr abhängig von einer männlichen Ordnung. Kommen die Frauen, mit denen sich Hollywood nach wie vor schwertut, im deutschen Programmkino zu Wort? Das wäre in jedem Fall ein wünschenswerter Trend.

Wild
Deutschland 2016
Regie & Drehbuch: Nicolette Krebitz
Darsteller: Lilith Stangenberg, Georg Friedrich
Länge: 97 Minuten
ab 27.10.2016 auf DVD

Ein Beitrag aus der Redaktion Gegenwartskulturen der Universität Duisburg-Essen

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