Zwei Todesfälle und ein „birthday suit“

Maren Ades „Toni Erdmann“

Von Claudia LiebrandRSS-Newsfeed neuer Artikel von Claudia Liebrand

Es war – dieser Befund ist voranzustellen – eine Fehlentscheidung der Jury in Cannes, Maren Ades Toni Erdmann (2016) im Mai dieses Jahres nicht mit der Goldenen Palme auszuzeichnen …

Eingerahmt wird der Film von zwei Todesfällen. Zu Beginn stirbt Winfrieds alias Toni Erdmanns Hund Willi, am Ende von Toni Erdmann Winfrieds Mutter – und es sei verraten, dass der Tod des Hundes noch viel trauriger macht als der Tod der Mutter. Die Todesfälle ereignen sich in der deutschen Provinz, in der – Peter Simonischek feiert mit dieser Rolle den größten Erfolg seiner Karriere – der pensionierte Musiklehrer Winfried Conradi lebt. Zur kleinen Vorfeier des Geburtstages der Tochter im Haus seiner geschiedenen Frau ist er nicht eingeladen. Nur zufällig platzt er in die Feier hinein – eine Feier, die am Geburtstagskind nahezu vorbeigeht: Die Unternehmensberaterin Ines Conradi (von Sandra Hüller so kontrolliert und unerschrocken gespielt, dass es schier unglaublich anmutet), eingeflogen aus Bukarest – dort berät sie eine Ölfirma –, verbringt den Tag telefonierend vor dem elterlichen Haus. Die Geschäfte lassen keine Zeit für Privates. Der Flug zurück am nächsten Morgen ist bereits gebucht.

Winfried fliegt seiner Tochter nach Bukarest nach, um den Geburtstag dort mit ihr zu verbringen. Er – und mit ihm der Zuschauer, der seinen Blick verdoppelt – taucht ein in die kühle Welt von Neoliberalismus und Globalisierung, sieht seiner Tochter, dem erfolgreichen und gewieften consultant, bei ihrer Arbeit zu. Um outsourcing geht es, um Unternehmensperformance. Nach den anstrengenden und langen Tagen, in denen sich die meetings aneinanderreihen und sich alles um die business cases dreht, geht man auf Empfänge, um wichtige Kunden und Vorstände zu treffen, trinkt Champagner, hängt in Clubs ab und schnupft Koks. Mit dem Land Rumänien und seinen Bewohnern kommt man so gut wie nicht in Kontakt, ‚landestypische Szenerien‘ bieten sich am ehesten als Fensterblicke aus Büros, Wohnungen und Autos dar. Liebe kommt in der Welt, in der Ines lebt, nicht vor. Sie leistet sich eine Affäre mit einem Kollegen. Man trifft sich zum Vögeln im Luxushotel. Es wird dann aber doch nur ein peeping act: Der Liebhaber onaniert und ejakuliert – so gibt Ines es vor – auf ein Petit Four, das sie dann verzehrt.

Der Vater, dem die Tochter fremd geworden ist und der sie für unglücklich hält, greift zu seinem Mittel, um die Dinge in Bewegung zu bringen: Er verkleidet sich (und dabei kommt es ihm nicht so sehr darauf an, mit seiner Verkleidung zu täuschen und als ein anderer ‚durchzugehen‘, sondern darum, produktive Unruhe zu stiften) mit Karnevalsgebiss und billiger Perücke, wird zum consultant und coach Toni Erdmann; manchmal ist er auch the german ambassador. Und bringt so viel Peinlichkeit, aber eben auch Anarchie, Komik und Witz in die gelackte und geschliffene Unternehmensberaterwelt, dass die Tochter sich an ihrem Geburtstag (um das team building in ihrer Unternehmensberatungsfirma zu verbessern, lädt sie an diesem Tag zu sich nach Hause zu einem birthday brunch ein) tatsächlich ein neues Leben schenkt. Sie entscheidet sich spontan, den Empfang als Nacktparty zu veranstalten, zieht also ihren birthday suit an (das Englische supponiert wie das Deutsche – Adamskostüm und Evaskostüm –, dass auch Nacktheit Kleidung/Verkleidung ist). Und ihre Assistentin und ihr Chef, Anca und Gerald, lassen sich auf das Spiel ein, das sie für eine neue Herausforderung des consulting halten: a challenge. Auch Winfried besucht, verkleidet mit einer bulgarischen Maske, die ihn in ein überdimensionales Fellmonster verwandelt, das Fest seiner Tochter. Als er die Wohnung verlässt, folgt Ines ihm in den Park und wirft sich, Winfrieds familiäres team building war also erfolgreich, in seine zotteligen Arme.

Der Film endet, wo er beginnt, in der deutschen Provinz. Nach der Beerdigung ihrer Großmutter stöbert Ines im Hauskeller in den Hinterlassenschaften, verkleidet sich mit einem Oma-Hut und setzt sich das Karnevalsgebiss ihres Vaters ein. Zuvor haben wir bereits erfahren, dass sie ihre bisherige Stelle in Bukarest aufgegeben und zu McKinsey nach Singapur gewechselt hat.

Ein großartiger Film ist Toni Erdmann, weil er schier Unmögliches gleichzeitig vollbringt: Er porträtiert und analysiert ohne jeden denunziativen Gestus, aber mit unerbittlicher Präzision (in Bezug auf Redeweise, Vokabular, Kleidungskodex, Verhaltensmatrizen) ein gesellschaftliches Subsystem, in dem die spätkapitalistische Moderne zu sich selbst gekommen ist. Er leuchtet – dagegen wirkt jede boy meets girl-Geschichte altbacken und langweilig – die nicht sonderlich inzestuösen, aber dennoch intrikaten Verstrickungen eines Vater-Tochter-Verhältnisses aus, in dem der Ältere der Jüngeren den Weg zu mehr Glück zeigen will – und sich vielleicht, traumatisiert durch den Tod seines Hundes, einsam und nicht mehr gebraucht, nur selbst therapiert: Neben den business cases, mit denen die Tochter zu tun hat, gibt es also auch case histories zu verhandeln. Toni Erdmann thematisiert – gar nicht versteckt – die letzten Dinge, den immer drohenden Tod und die Geheimnisse der (Selbst-)Geburt: Im Park, nachdem ihm seine Tochter in die Arme gefallen ist, liegt Winfried mit Atem-, vielleicht auch Herzproblemen am Boden. Er hat nicht die Kraft, sich die Kopfmaske selbst abzuziehen. Wenn wir nach einem Schnitt, der uns an einen anderen Ort katapultiert, die Tochter mit einem Beerdigungsgebinde sehen, fürchten wir zunächst, dass Winfried gestorben ist. Ines’ Prozess der ‚Neugeburt‘, die literale Verhandlung des Sujets ‚Geburtstag‘, wird mehrfach in Szene gesetzt: Beim schon erwähnten Nacktempfang, aber auch bei der Präsentation von Whitney Houstons The Greatest Love of All, zu der sie ihr Vater auf einer rumänischen Familienfeier drängt – einer Familienfeier, die im Kontext des orthodoxen Osterfestes steht, das ja ein ‚Auferstehungsfest‘ ist. Wie die vom Vater Whitney Schnuck genannte Unternehmensberaterin die Pop-Hymne der Selbstliebe dort zum Besten gibt, zunächst peinlich berührt und den Song, zum bloßen Zitat reduziert, degagiert präsentierend, schließlich in entschlossener Schrei-Wut: „The greatest love of all/ Is easy to achieve/ Learning to love yourself/ It is the greatest love of all“, hat während der Filmvorführung in Cannes Kritiker und Publikum zu Begeisterungsstürmen veranlasst.

Toni Erdmann verhandelt aber auch deshalb ‚letzte‘ anthropologische Dinge, weil er sich mit Winfrieds Verkleidungsspleen einem Projekt verpflichtet hat, das ganz in der Tradition jenes Horizonts liegt, den etwa Elias Canetti, beispielsweise in seiner 1976 gehaltenen Münchner Rede zum Beruf des Dichters, immer wieder aufgerufen hat. Canetti erklärt den Dichter – und Winfried Conradi, der pensionierte Musiklehrer, wandelt damit auf Dichter-Spuren – zum „Hüter der Verwandlungen“. Für Canetti liegt das Telos der Dichter, die er gewissermaßen als Priester auffasst, die das Erbe der Religion verwalten, darin, immer wieder Verwandlungen in Szene zu setzen: In seiner soteriologischen Funktionsbestimmung formuliert Canetti: Die Dichter „sollten imstande sein, zu jedem zu werden, auch zum Kleinsten, zum Naivsten, zum Ohnmächtigsten“. Damit vergegenwärtigen die Dichter (wenn man so will: in einer Stellvertreterrolle) das immer wieder, was für Canetti den Menschen zum Menschen macht, was in der Stammesgeschichte den Schritt vom Prähumanoiden zum Homo sapiens markiert: die Fähigkeit, sich in etwas oder einen anderen einzufühlen, sich ihm anzuverwandeln. Canetti bringt in Masse und Macht Beispiele aus der Ethnologie, wie etwa Jäger sich in ihrer Imagination in ein bestimmtes Tier verwandeln. Diese Fähigkeit zur Verwandlung, die sich der Dichter bewahrt hat, ist für Canetti antagonistisch dem Tod entgegengesetzt. Der bedeutet das Ende aller Verwandlungen.

Spielen also, sich verkleiden, sich maskieren, sich verwandeln, heißt leben. Die große Stärke von Toni Erdmann nun ist, dass dieses Thema der Maske, des Spiels, der Performance den ganzen Film ‚überwölbt‘. In ein Tier verwandelt sich Winfried: Seine Maske ist dem – im Fasching anzusiedelnden – Kukeri-Kontext entlehnt (einem bulgarischen Ritual, bei dem männliche Akteure in Tiergestalt kostümiert und maskiert die Vertreibung böser Geister, den Untergang des alten und den Beginn des neuen Jahres darstellen; mit Winfrieds Verkleidung bricht damit das Archaische in die Moderne ein). Und auch Ines bekommt von ihrem Chef zu hören (und das ist als Lob gemeint): „Du bist’n Tier.“ Ein Satz, der auch auf Episoden abzielt, wie die, in der sich Ines, die Schmerzen ignorierend, vor einer Präsentation ein Hämatom unter einem Fußnagel öffnet und ihre Bluse mit Blut besudelt: Initiationsritual und Märchenstoff zugleich – „Rucke die guh, Rucke die guh, Blut ist im Schuh.“

Performer sind nicht nur Winfried als Toni Erdmann und Ines als Whitney Schnuck, Performance ist das wichtigste Schlüsselwort in jenem Unternehmensberatungskosmos, in dem es auf nichts mehr ankommt als auf die performance von Firmen und Mitarbeitern. Auch das globalisierte Wirtschaftsleben ist ein Schau-Spiel.

Schließlich ist Toni Erdmann (und man kann nicht dankbar genug für diese Genre-Wahl sein, wissen wir doch: Nichts ist schwerer zu produzieren als Leichtigkeit) eine Komödie – und Komödien interessieren sich zwar durchaus für die ‚großen Themen‘, nicht aber für den idealistischen Überbau, sondern die realen Bedingtheiten (und seien es die Schwierigkeiten, den Reißverschluss eines Etui-Kleides ohne fremde Hilfe zu schließen und zu öffnen; die Slapstickeinlage, die das Duo Ines und ihr Kleid vor dem Nacktempfang auf die Bühne bringen, ist jeder alleinlebenden Kleidträgerin nur zu gut bekannt). Der Philosoph Robert Pfaller hat in Wofür es sich zu leben lohnt die Komödie als das Genre gekennzeichnet, das die Frage „Gibt es ein Leben vor dem Tod?“ bejahend beantwortet: „Die Komödie vertritt diese Position, indem sie von der Annahme ausgeht, dass alles, was großartig ist, auch von dieser Welt ist. Darum herrscht in der Komödie das Paradigma des Gelingens: die unwahrscheinlichsten Vorhaben und gewagtesten Hochstapeleien führen zum Erfolg […], es gibt ein Happy End, wie merkwürdig oder fremd das gegenüber den sogenannten guten Sitten auch erscheinen mag; nichts – oder jedenfalls kein Gebot guter Sitten – kann dieses Happy End verhindern. (Denn schließlich, wie Billy Wilders Held aus Some Like It Hot am Ende sagt: ‚Nobody is perfect.‘)“

Ich bleibe dabei: Es war eine Fehlentscheidung der Jury in Cannes, Maren Ades Toni Erdmann im Mai dieses Jahres nicht mit der Goldenen Palme auszuzeichnen.

Ein Beitrag aus der Redaktion Gegenwartskulturen der Universität Duisburg-Essen

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