Von wegen „Adenauerkino“

Anmerkungen zur Filmgeschichte der jungen Bundesrepublik

Von Peter EllenbruchRSS-Newsfeed neuer Artikel von Peter Ellenbruch

Es tut sich etwas in der deutschen Filmgeschichtsschreibung – und zwar in einem Feld, in dem es viele nicht erwartet hätten: in der Erforschung des bundesdeutschen Kinos der 1950er und 1960er Jahre.

Jahrzehntelang beherrschte die eher ideologisch festgesetzte Zäsur des Oberhausener Manifests von 1962 die Periodisierung und die Beurteilung jener Phase, doch nun wurde durch die großangelegte Retrospektive zum bundesdeutschen Kino beim Filmfestival Locarno (3.-13. August 2016) die Perspektive wieder erweitert. Letztlich war dies nur der Auftakt zu einer wandernden Reihe jenes Filmprogramms, das in Varianten auch in Zürich, Lissabon, New York, Frankfurt und Berlin zu sehen war bzw. im Laufe des nächsten Jahres zu sehen sein wird. Die schriftliche Quelle zum Projekt ist die auf Deutsch und Englisch erschienene Publikation „Geliebt und verdrängt: Das Kino der jungen Bundesrepublik Deutschland 1949-1963“ des DIF in Frankfurt.

Doch da der Schreiber dieser Zeilen an Retrospektive und Buchpublikation selbst beteiligt ist, soll hier davon nicht weiter die Rede sein. Vielmehr soll es darum gehen, einige Filme skizzenhaft zu besprechen, zur Anschauung zu empfehlen, die zum Abbau der immer noch in vielen Zusammenhängen anzutreffenden verkrusteten filmhistorischen Sicht geeignet erscheinen. Denn mit der Parole des Oberhausener Manifests, „Papas Kino ist tot“, wurde nicht nur eine alte Riege von Filmschaffenden kritisiert, sondern letztlich auch, filmhistorisch gesehen, eine Zwischengeneration mundtot gemacht sowie alles Genrekino der BRD jener Zeit pauschal abgeurteilt. Dass aber gerade große Teile des populären Kinos der 1950er und 1960er Jahre alles andere taten als die konservative Linie der Adenauer-Regierung komplett zu spiegeln oder zu unterstützen, geriet dadurch innerhalb der Filmgeschichtsschreibung genauso in Vergessenheit wie die Tatsache, dass ein bundesdeutsches Kinopublikum jene Filme sehr gemocht und die Produkte des „Jungen Deutschen Films“ kaum wahrgenommen hat – letzteres vor allem auch, da die meisten Spielfilmproduktionen der „Oberhausener“ (die so gut wie alle Münchener waren) bis 1966/67 auf sich warten ließen.

Den nicht-konformen, subversiven, eigenständigen Strömungen und Stilelementen gilt es nachzuspüren, die Genrefilme während der sogenannten Adenauer-Ära ins Kino zu bringen wussten – und damit jenseits von Wirtschaftswunder und Westanbindung ihren Teil zu einer tatsächlich demokratischen Diskursivität in der bundesdeutschen Kulturlandschaft beigetragen haben (ganz im Sinne der demokratisierenden Strömungen der Massenkultur seit Beginn der Moderne, die z.B. Kaspar Maase oft herausgestellt hat).

Zuerst sei ein Film erwähnt, dessen Ästhetik und Erzählung die Standard-Definition des allgemein verachteten deutschen Genres, nämlich des Heimatfilms, ins Wanken bringt. Rosen blühen auf dem Heidegrab (1952, Hans H. König) ist ein Film, der so gar nicht in einer scheinbar zeitlos idealisierten deutschen Landschaft spielt und von einer heilen Welt erzählt, als hätte es den Zweiten Weltkrieg und den Faschismus nie gegeben. In seiner Geschichte um norddeutsches Dorfleben zwischen Aberglaube und Moderne geht es im Kern um eine junge Frau, die nach Bedrängung und Vergewaltigung auf Rache sinnt. Dabei zeigen die Bilder eine unheimliche Naturlandschaft, die kaum etwas von verklärter Heimat hat, vielmehr an die düsteren Seiten des Theodor Storm’schen Universums anschlussfähig ist. Rosen blühen auf dem Heidegrab mag vielleicht ein Ausnahmefilm sein, doch es gibt neben den ihr eigenes Klischee bestätigenden Heimatfilmen durchaus weitere Werke, die wenig deutschtümelnd und verdrängend daherkommen, vielmehr in ihren Bildern eine düstere Grundstimmung vermitteln, die diffus von erlebtem Schrecken und tief sitzender Schuld erzählen (wie z.B. Johannes von Moltke in seiner Forschung zu belegen wusste – auch in einer konkreten Analyse zu diesem Film). Man sollte demnach sogar beim Heimatfilm mit vorschnellen Urteilen historiographisch vorsichtig sein.

Auch bei den Komödien war nicht alles auf pastellfarbene Mode, Nierentische, Schlagermusik und biedere bis schmierige Kalauer angelegt. Man stößt z.B. bei der Betrachtung von Das Spukschloss im Spessart (1960, Kurt Hoffmann) auf ein farbenprächtiges und mit leichter aber filmisch präziser Hand inszeniertes Konglomerat von Pointen, das mit Spitzen gegen die Kontinuitäten aus der Nazivergangenheit und den naiven Glauben an das sogenannte Wirtschaftswunder gespickt ist. Der Film bedient zwar durch die eingeflochtene Liebesgeschichte mit Star-Value eine rührselige Seite des BRD-Kinos der Zeit, doch genauso hat man hier Anknüpfungen an die Kabarett-Tradition mit durchaus gesellschaftlicher Schlagkraft. Auf einer solchen Traditionslinie liegt selbstredend auch der 1962er Genosse Münchhausen von und mit Wolfgang Neuss, der alles andere als Adenauerkino ist. Vielmehr wird hier in einer absurden Montage von Erlebnissen eines Bauern der Zustand deutsch-deutscher Lebenswirklichkeiten diskutiert.

Doch in kaum einem Genre wurde die Bundesrepublik als Raum nach dem Wiederaufbau und als gesellschaftliches/politisches System mehr verhandelt und aus diversen Perspektiven beleuchtet als im Kriminalfilm. Die Kino- wie auch die Fernsehkrimis der jungen BRD sind als Gegenwartsfilme voll von direkten aktuellen Bezügen und lassen es zu, den sich wandelnden Mentalitätsströmungen nachzuspüren. Bezeichnenderweise tauchten Kriminalfilme kurz nach der Gründung der BRD zwischen 1950 und 1952 zuerst wieder auf (wenn man so möchte in der ersten, von Teilen der Bevölkerung sehr begrüßten Anlaufphase zur Demokratie), dann wieder in der tatsächlichen Konsolidierungsphase als demokratisches System ab 1957.

Als ein Höhepunkt der ersten kurzen Krimiphase kann Die Spur führt nach Berlin (1952, Franz Cap) angesehen werden. Eine ganze Reihe von Gegenwartsproblemen der noch ganz jungen Bunderepublik wird hier repräsentiert. Die Seilschaften alter Nazis spielen im Plot um Geldfälschermachenschaften ebenso eine Rolle wie Tücken zwischen Ost- und Westberlin. Das alles wird in der fast dokumentarisch dargestellten Stadtlandschaft angesiedelt, die in ihrer Ambivalenz zwischen Trümmerlandschaft und Wiederaufbau kinogemäß sichtbar wird, sodass dieser Film nicht nur eine spannende Kriminalgeschichte erzählt, sondern auch als konzentrierte Bestandaufnahme der allerersten Phase der BRD angesehen werden kann.

Mit genau der schon in Die Spur führt nach Berlin anzutreffenden Mischung aus dokumentarisch anmutenden filmischen Bildern, unprätentiöser Montage und nüchternem, kameratauglichem Schauspiel startete der bundesdeutsche Kriminalfilm ab 1957 – und nun in Kino und Fernsehen – in seine zweite Phase. Als Startpunkt kann Werner Klinglers Banktresor 713 (1957) ausgemacht werden, der mit einer Figurenkonstellation von vom Wirtschaftswunder enttäuschten aufwartet. Hier geht es um einen aus der Kriegsgefangenschaft heimkehrenden Mann, der selbst in der angeblich vollbeschäftigten BRD keine Arbeit findet und dann gemeinsam mit seinem Bruder zum Bankräuber wird. Dabei beobachtet dieser Film seine Figuren nicht nur in allen sozialen Lebenslagen sondern setzt sie innerhalb der Einstellungen und durch die Montage auch in Beziehung zum wiedererbauten Stadtraum (den die beiden Brüder ohne Geld nur neidisch betrachten können). Somit wird hier mit grundlegend filmischen Mitteln ein Gegenwartsbild entworfen, das ein Publikum gleichzeitig als Kriminalfilm unterhält und zum nachdenken über die Lage der Gesellschaft jenseits der Wirtschaftswunder-Rhetorik anregen kann.

Ähnlich ausgerichtete filmische Gestaltungen und Erzählungen finden sich z.B. auch in Grabenplatz 17 (1958, Erich Engels), Menschen im Netz (1959, Franz Peter Wirth), Der letzte Zeuge (1960, Wolfgang Staudte), Mörderspiel (1961, Helmuth Ashley) oder Ein Alibi zerbricht (1963, Alfred Vohrer). Und diese Ansammlung nach 1957 zeigt bereits, dass sich der Kriminalfilm in dieser Phase der BRD zu einem der beliebtesten Genres der (West-)Deutschen entwickelte – eine Popularität, die letztlich bis heute anhält.

Ein solcher Ansatz zwischen Krimispannung und gesellschaftlicher Debatte wurde ab 1958 vor allem durch die Stahlnetz-Reihe ebenso im Fernsehen vorangetrieben, deren Regisseur Jürgen Roland 1964 mit Polizeirevier Davidswache auch einen Kinohöhepunkt der bundesdeutschen Gegenwartskrimiströmung vorlegte. Rund um den (turbulenten) Alltag der titelgebenden Polizeiwache in Hamburg St. Pauli wird ein Figurenensemble präsentiert, das letztlich nur ambivalente Charaktere darbietet. Ein allzu biederer Polizist ist der Antagonist eines rauen Gangsters mit kleinbürgerlicher Verlobten, dazu gesellen sich etliche pragmatisch im Leben stehende Prostituierte, Streifenpolizisten und Kleinkriminelle, die alle belegen, dass es in einer Großstadtgesellschaft eben kein einfaches ‚Gut und Böse‘ gibt. Auf der filmischen Ebene merkt man, dass Roland zuvor beim NWDR und NDR auch als Reporter gearbeitet hat. Die Kamera bleibt ein fast neutrales, dokumentierendes Auge, das mit dieser Haltung geführt, jede Gefahr von Moralisierung oder einer schwülstigen Ästhetik des „alten Kinos“ umschifft. Somit gehört Jürgen Roland zu den Filmemachern jener Zwischengeneration, die letztlich innerhalb des populären Kinos einen Ansatzpunkt zur Erneuerung der bundesdeutschen Kinolandschaft gefunden hatten, jedoch durch die Intervention des Oberhausener Manifests filmhistorisch bisher kaum in einer solchen Position eingeordnet wurden.

Es bleibt noch viel zu tun, um das bundesdeutsche Kino der 1950er und 1960er Jahre filmhistorisch angemessen aufzuarbeiten – was auch einschließt, es in der Rezeption vom vorherrschenden nostalgischem Kult und aktuell anzutreffender Retro-Hipness zu entfernen, da diese beiden Strömungen wenig dazu beitragen, die demokratisierenden Aspekte der Populärkultur jener Zeit stringent medien- und gesellschaftsanalytisch darzustellen. Vielmehr sollte man die gegenwärtige relativ gute Erreichbarkeit vieler Filme auf Sekundärmedien nutzen, um sich ein umfassenderes Bild jenes Genrekinos zu machen, auf dass man sich durch die eigene Anschauung sowohl der der kinematographischen Leistungen als auch gesellschaftsreflexiven Wirkungen der Filme bewusst werden kann.

Weiterführende Literatur

Claudia Dillmann / Olaf Möller (Hg.): Geliebt und verdrängt: Das Kino der jungen Bundesrepublik Deutschland 1949-1963. Frankfurt a.M. 2016.
Kaspar Maase: Grenzenloses Vergnügen. Der Aufstieg der Massenkultur 1850-1970. Frankfurt a.M.1997.
Johannes von Moltke: No Place Like Home. Locations of Heimat in German Cinema. Oakland 2005.

Auf DVD erschienene Filme

BANKTRESOR 713 (1957, Werner Klingler)
EIN ALIBI ZERBRICHT (1963, Alfred Vohrer)
GENOSSE MÜNCHHAUSEN (1962, Wolfgang Neuss)
GRABENPLATZ 17 (1958, Erich Engels)
DER LETZTE ZEUGE (1960, Wolfgang Staudte)
MÖRDERSPIEL (1961, Helmuth Ashley)
POLIZEIREVIER DAVIDSWACHE (1964, Jürgen Roland)
ROSEN BLÜHEN AUF DEM HEIDEGRAB (1952, Hans H. König) vergriffen
DAS SPUKSCHLOSS IM SPESSART (1960, Kurt Hoffmann)
DIE SPUR FÜHRT NACH BERLIN (1952, Franz Cap)
STAHLNETZ (1958-1968, Jürgen Roland)

Ein Beitrag aus der Redaktion Gegenwartskulturen der Universität Duisburg-Essen