Verlorene Zeit

John Wrays Roman „Das Geheimnis der verlorenen Zeit“ kann nicht überzeugen

Von Simone Sauer-KretschmerRSS-Newsfeed neuer Artikel von Simone Sauer-Kretschmer

Besprochene Bücher / Literaturhinweise

Sobald ein neuer Roman in New York spielt, muss es sich dabei um den ganz großen Wurf handeln, ansonsten hat der Text wohl keine Daseinsberechtigung. Und wenn der Autor dann noch relativ jung ist – diesbezüglich gelten für Schriftsteller ja ganz eigene Gesetze – und ein besonders dickes Buch geschrieben hat, das in New York spielt, dann kann das doch nur „einer der megalomanischsten Romane der jüngeren amerikanischen Literaturgeschichte“ sein, oder? So kann man es zumindest dem Umschlagstext zu John Wrays ehrgeizigem Romanunterfangen mit dem größenwahnsinnig anmutenden Titel Das Geheimnis der verlorenen Zeit entnehmen.

Was Marcel Proust noch suchen musste, das hat Wray, geboren 1971 mit amerikanisch-österreichischen Wurzeln, längst gefunden, und der geneigte Leser darf seinem Helden Waldemar Tolliver nun durch die Zeiten und Räume folgen, wobei besonders das europäische 20. Jahrhundert mit Wien als einem Hauptschauplatz und das New York der Gegenwart eine Rolle spielen, denn genau dort sitzt der besagte Tolliver fest. Er ist gefangen in einem Raum, der jenseits der Zeit zu liegen scheint, und er weiß nicht genau, was sich draußen in der Welt abspielt und ob er jemals wieder aus seiner einsamen Blase entkommen wird. Doch Tolliver verzagt nicht und nutzt das, was er im Überfluss hat, nämlich die Zeit, um seiner Angebeteten Mrs. Haven einen Brief zu schreiben, der die vielen Missverständnisse zwischen ihnen ein für alle Mal aus dem Weg räumen soll. Dabei erklärt Tolliver nicht nur sich, sondern erzählt die bewegte Geschichte seiner Familie, die einst vor den Nazis aus Österreich geflohen ist und in Amerika die ersehnte Zuflucht gefunden hat. Doch ganz so reibungslos ging es während dieser Flucht nicht zu und die Familie Tolliver trägt ein schweres Erbe, da Waldemar nicht nur der Nachkomme eines besonders begabten Tüftlers ist, sondern auch eng verwandt mit einem Kriegsverbrecher, der während des Zweiten Weltkrieges in den Konzentrationslagern der Nazis Menschenversuche durchgeführt hat, die sich eigentlich jeder Beschreibung entziehen. Wrays Held versucht es trotzdem und die Mischung aus Slapstick-Humor und der Selbstbeschreibung Waldemar Tollivers als irgendwo zwischen liebevollem Trottel und Beinahe-Genie wirkt wie eine Farce angesichts der Schrecken, die ein paar Seiten vorher und nachher wieder in die Geschichte einfließen.

Überhaupt scheint es die Balance zu sein, die in diesem Roman nicht recht stimmen will – was dazu führt, dass viele kuriose Figuren eingeführt und nicht wenige Erzählfäden aufgenommen werden, für die es mehr erzählerisches Feingefühl, ja vielleicht sogar die hier andauernd zitierte Virtuosität gebraucht hätte, um diese am Ende als stimmiges Ganzes zusammenzuführen. Waldemar Tolliver sprüht nicht vor Charme oder skurrilem Witz, wie so viele Sonderlinge der amerikanischen Literatur vor ihm, sondern erscheint konstruiert und schal, als wäre er selbst gar nicht live dabei und bloß aus einer Vielzahl literarischer Vorlagen zusammengegossen.

Wenn also die vorletzte gigantische Neuerscheinung am Bücherhimmel der Superlative noch Garth Risk Hallbergs City on Fire gewesen sein soll, dann erscheint das im Vergleich zu Wray doch recht plausibel. Denn Wrays Figuren bleiben Schablonen, ihre Sprache wirkt aufgesetzt, ihre ‚Verrücktheiten‘ überspannt und der Humor des Buchs ist flach. Es braucht wohl jede Menge Regalmeter mit recht durchschnittlichen Neuerscheinungen, damit mal wieder eines dieser Bücher darunter ist, das einen auch viele Jahre später noch begeistern kann – oder an das man sich dann überhaupt noch erinnert. John Wrays „Das Geheimnis der verlorenen Zeit“ ist dieses Buch sicher nicht.

Titelbild

John Wray: Das Geheimnis der verlorenen Zeit.
Übersetzt aus dem Englischen von Bernhard Robben.
Rowohlt Verlag, Reinbek bei Hamburg 2016.
736 Seiten, 26,00 EUR.
ISBN-13: 9783498073640

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